Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§§ 176, 176a Abs. 1, 184?h Nr. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Erheblichkeit. §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB – Gefährliche Körperverletzung; Beibringung von anderen gesundheitsschädlichen Stoffen; hier: Aufsprühen alkoholhaltiger Flüssigkeit auf Kleidung; Inbrandsetzen. § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Schwere Körperverletzung; dauerhaftes nicht mehr gebrauchen können; hier: nicht wahrgenommene Operationsnachsorge. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I Materielles Strafrecht

§§ 176, 176a Abs. 1, 184?h Nr. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Erheblichkeit. Als erheblich im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen (hier: Berühren des Geschlechtsteils eines neun Jahre alten Kindes über der Kleidung) zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus. Bei Tatbeständen, die – wie § 176 Abs. 1 StGB – dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Allerdings reichen auch hier kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen unbedeutende Berührungen, insbesondere des bekleideten Geschlechtsteils, dafür grundsätzlich nicht aus. (BGH, Beschl. v. 16.5.2017 ? 3 StR 122/17)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB – Gefährliche Körperverletzung;Beibringung von anderen gesundheitsschädlichen Stoffen; hier: Aufsprühen alkoholhaltiger Flüssigkeit auf Kleidung; Inbrandsetzen. Der Angeklagte (A) besprühte das Kleidungsstück des Opfers mit einer alkoholhaltigen Flüssigkeit und setzte es anschließend in Brand. Dies führte zu erheblichen Verletzungen. Bei einer weiteren Gelegenheit entzündete der A zweimal das Hemd eines weiteren Opfers im Brustbereich, das daraufhin längere Zeit brannte. Dieses Opfer erlitt dadurch erhebliche Schmerzen und trug großflächige Narben davon.

Andere gesundheitsschädliche Stoffe im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB sind Substanzen, die nach ihrer Art und dem konkreten Einsatz zu einer erheblichen Gesundheitsbeschädigung geeignet sind. Ob die Wirkung dabei mechanisch, biologisch, chemisch oder thermisch erfolgt, ist ohne Belang. Der gesundheitsschädliche Stoff ist dem Opfer beigebracht, wenn er durch den Täter so mit dem Körper in Verbindung gebracht worden ist, dass er seine gesundheitsschädliche Wirkung entfalten kann. Dafür kann ein äußerlicher Kontakt ausreichend sein, sofern die Schwere der möglichen Auswirkung auf die Gesundheit der Gefährdung durch einen eingeführten Stoff gleichkommt. Das auf den Körpern der Opfer aufliegende brennende Material, aus dem die Kleidungsstücke gefertigt waren, war in beiden Fällen geeignet, durch die von ihm ausgehende thermische Wirkung erhebliche Verletzungen auszulösen und damit ein gesundheitsschädlicher Stoff im Sinne der Vorschrift. (BGH, Beschl. v. 28.3.2018 – 4 StR 81/18)

§ 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Schwere Körperverletzung; dauerhaftes nicht mehr gebrauchen können; hier: nicht wahrgenommene Operationsnachsorge.

Der Angeklagte (A) und das Opfer bewohnten gemeinsam ein Zimmer in einem Asylbewerberheim. Das Verhältnis zwischen ihnen verschlechterte sich und final kam es durch Messerhiebe des A beim Opfer unter anderem zu Schnittverletzungen an seiner linken Hand mit Durchtrennungen aller Beugesehnen von vier Fingern einschließlich der Nerven und zu einer potenziell lebensgefährlichen Schlagaderverletzung. Das Opfer wurde notoperiert. Allerdings sind die Bewegungseinschränkungen der Finger zu einem Teil darauf zurückzuführen, dass es auf die erforderliche Nachsorge seiner Verletzungen verzichtete.

Für die Dauerhaftigkeit des Verlustes der Gebrauchsfähigkeit eines Körperglieds kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob das Opfer eine ihm mögliche medizinische Behandlung nicht wahrgenommen hat. (BGH, Urt. v. 7.2.2017 – 5 StR 483/16)

§ 239 Abs. 1 StGB – Freiheitsberaubung; hier: Versperren der Wohnungstür. Der Angeklagte (A) schloss die Tür zu einer im Erdgeschoss eines Hauses liegenden Wohnung ab und nahm der Geschädigten dadurch die Möglichkeit, die Wohnung auf diesem Wege zu verlassen.

Der Tatbestand des § 239 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass dem Opfer die Möglichkeit genommen wird, sich von einem bestimmten Ort fortzubewegen. Daran fehlt es, wenn die Fortbewegung lediglich erschwert wird, beispielsweise beim Versperren einer Wohnungstür, wenn ein Sprung aus dem Fenster möglich und nicht mit unzumutbarer Gefährlichkeit verbunden ist. Ob das der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Lage des Objekts. (BGH, Beschl. v. 20.3.2018 – 3 StR 10/18)

§§ 242, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 3 StGB – Besonders schwerer Fall des Diebstahls; hier: Störsender. Der Angeklagte (A) entwendete Gegenstände aus Fahrzeugen, nachdem er in Parkhäusern abgewartet hatte, bis die Geschädigten ihr Fahrzeug geparkt und nach dem Aussteigen eine Funkfernbedienung betätigt hatten, um es zu verriegeln. Dem A gelang es jeweils mittels eines Störsenders, den Schließmechanismus des Fahrzeugs so zu stören bzw. zu manipulieren, dass es entweder nicht verschlossen oder – von dem Geschädigten unbemerkt – wieder geöffnet wurde.

Andere nicht zur ordnungsgemäßen Öffnung eines Raumes (hier: Fahrzeug) bestimmte Werkzeuge sind solche, mit denen der Schließmechanismus ähnlich wie mit einem Schlüssel ordnungswidrig in Bewegung gesetzt wird. Grundsätzlich kommt ein Störsender als ein solches Werkzeug in Betracht. Es handelte sich jedoch nicht um ein Eindringen, da der Schließmechanismus mittels des Störsenders nicht in Bewegung gesetzt wurde. Das ist nur dann der Fall, wenn die Verriegelung des Fahrzeugs mit Hilfe des Störsenders geöffnet wird, nicht hingegen, wenn dadurch die Verriegelung des Fahrzeugs verhindert wird, was den Feststellungen zufolge gleichermaßen möglich war. (BGH, Beschl. v. 17.10.2017 – 3 StR 349/17)

§§ 308 Abs. 1, 310 Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 2 StGB – Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion; hier: Gasgemisch als Sprengstoff. Der Angeklagte (A) und die vier Mittäter hatten verabredet, Geldautomaten aufzusprengen, um sich in den Besitz des darin vorgehaltenen Bargelds zu bringen. Hierzu wollten sie ein Gemisch aus brennbarem Gas und Sauerstoff in die Automaten einleiten und dieses mittels eines eingeführten elektrischen Zünders zur Explosion bringen.

Der BGH hat sich zu der Frage, welche Eigenschaften einem Sprengstoff i.S.v. §§ 308 Abs. 1, 310 Abs. 1 Nr. 2 StGB zukommen müssen, bislang nicht abschließend geäußert. Nunmehr: Sprengstoffe im Sinne dieser Vorschriften sind alle Stoffe, die bei Entzündung eine gewaltsame und plötzliche Ausdehnung dehnbarer (elastischer) Flüssigkeiten und Gase hervorrufen und geeignet sind, dadurch den Erfolg einer Zerstörung herbeizuführen. Es kommt nicht darauf an, ob der Stoff fest, flüssig oder gasförmig ist, ob er Beständigkeit hat oder nur im Augenblick der Herstellung anwendbar und wirksam ist oder ob die Explosion auf Zündung von außen oder auf Selbstzündung beruht. Bei dem als Tatmittel vorgesehenen Gasgemisch handelte es sich um Sprengstoff. (BGH, Beschl. v. 8.12.2015 – 3 StR 438/15)
 

II Prozessuales Strafrecht

§§ 94, 102, 105, 110 StPO – Durchsuchung; hier: Sicherstellung elektronischer Speichermedien (hier: Handy) zwecks Auslesen; keine Beschlagnahme. Es bestanden zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass sich der Beschuldigte wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß §§ 176, 176a Abs. 2 Nr.1 StGB schuldig gemacht hat. Es wurde auch ein Handy gesucht, mit dem mehrfach Nachrichten an die Zeugin gesandt und diese aufgefordert worden sein soll, erneut in seine Wohnung zu kommen.

Werden im Rahmen einer Durchsuchung Geräte aufgefunden, die als elektronisches Speichermedium dienen, so sind sie zunächst nach § 110 StPO durchzusehen und auszulesen, um eine Entscheidung darüber herbeizuführen, welche beweiserheblichen Daten sich auf dem elektronischen Speichermedium befinden. Ist eine derartige Auswertung nicht sogleich an Ort und Stelle möglich, so können diese Geräte zum Zwecke der Durchsicht und Auswertung vorübergehend sichergestellt werden. Die Sicherstellung der elektronischen Speichermedien stellt jedoch noch keine Beschlagnahme dar, sondern ist gemäß § 110 StPO noch Teil der Durchsuchung. Erst dann, wenn die Beweisgeeignetheit bzw. die mögliche Einziehung der sichergestellten Gegenstände nach der Auswertung bejaht werden kann, ist eine Beschlagnahmeanordnung zu treffen. Im Übrigen stehen Datenträger „Papieren“ prozessual gleich. (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 3.1.2017 – 2 Qs 236/16)

§§ 99, 94 StPO - Auskunft über Postsendungen; hier: Gewahrsam des Postunternehmens; sog. retrospektives Postsendungsprofil. Es ging um ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gem. §§ 89?a, 27 StGB. Der Generalbundesanwalt hat u.a. beim BGH beantragt, dem Paketzustelldienst X aufzugeben, für die Zeit ab einem bestimmten Datum Auskunft zu erteilen über sämtliche Lieferungen, die an eine bestimmte Person gerichtet waren. Die Auskunft solle sich insbesondere auf die Namen und Anschriften der Absender, Hinweise auf den Inhalt der Lieferung(en), den Sendungsverlauf sowie alle Unterlagen, die Aufschluss über die Person(en) geben, die die Lieferung(en) in Empfang genommen hat/haben beziehen. Der Antrag wurde abgelehnt.

Im Hinblick auf das Postgeheimnis aus Art. 10 Abs.1 GG, § 39 PostG kommt als einzig denkbare Rechtsgrundlage § 99 StPO in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist die Beschlagnahme der an den Beschuldigten gerichteten Postsendungen, die sich im Gewahrsam des Postunternehmens befinden, zulässig. Als weniger einschneidende Maßnahme zur Beschlagnahme enthält die Vorschrift einen Auskunftsanspruch gegen das Postunternehmen. Das Auskunftsverlangen ist jedoch nur dann zulässig, wenn sich zum Zeitpunkt des Auskunftsersuchens die Postsendung noch im Gewahrsam des Postunternehmens befindet. Postunternehmen können betreffend sich nicht mehr in deren Gewahrsam befindlicher Postsendungen weder gem. § 99 StPO noch gem. § 94 StPO zur Auskunft verpflichtet werden. (BGH, Beschl. v. 27.10.2016 – 1 BGs 107/16)

§§ 100a, 101 Abs. 7 StPO – Telekommunikationsüberwachung; hier: Anforderungen an den Tatverdacht; Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. § 100a StPO (in der damals gültigen Fassung) erforderte nur einen einfachen Tatverdacht, der allerdings auf bestimmten Tatsachen beruhen musste. Dabei sind mit Blick auf das Gewicht des in Rede stehenden Grundrechtseingriffs Verdachtsgründe notwendig, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen; der Verdacht muss sich auf eine hinreichende Tatsachenbasis gründen und mehr als nur unerheblich sein. Es müssen solche Umstände vorliegen, die nach der Lebenserfahrung, auch der kriminalistischen Erfahrung, in erheblichem Maße darauf hindeuten, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine Katalogtat begangen hat; erforderlich ist, dass der Verdacht durch schlüssiges Tatsachenmaterial bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung und Verdichtung erreicht hat. Den die Maßnahme anordnenden Stellen steht bei der Prüfung des Tatverdachts ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Maßstab für die auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit beschränkte Prüfung nach § 101 Abs. 7 S. 2 StPO ist insoweit, ob die genannten Stellen diesen Beurteilungsspielraum gewahrt oder überschritten haben. Die Tatsachengrundlage hierfür bietet der jeweilige damalige Ermittlungs- und Erkenntnisstand. Erkenntnisse, die den Ermittlungsbehörden erst nach Beschlusserlass bekannt werden, können eine rechtswidrige Anordnung nachträglich nicht rechtfertigen. (BGH, Beschl. v. 11.8.2016 – StB 12/16)

§§ 147, 100a StPO – Akteneinsicht in TKÜ-Aufzeichnungen; hier: Übersendung aufgezeichneter Daten; ausländische Sprache. Eine Übersendung der TKÜ-Aufzeichnungen an den Verteidiger ist angezeigt, wenn die Überwachung der Telekommunikation umfangreich und zudem überwiegende in ausländischer Sprache ist. (LG Stade, Verf. v. 8.5.2017 – 105 KLs 1/17)

III Sonstiges

Zwei informative Beiträge zum Thema „Verbotene Kraftfahrzeugrennen, § 315d StGB“ bieten die Aufsätze von StA Tobias Kulhanek in der Juristischen Ausbildung 6/2018, S. 561-567 und von Dr. Fabian Stam in dem StV 7/2018, S. 464-469.