Quo vadis lus poenale?

Vom Sinn und Unsinn der Strafrechtsverschärfung des § 114 StGB

Von PHK`in Jana Reuter, Malente1

1 Veränderte Bedingungen im Arbeitsfeld des operativen Dienstes

Polizeibeamte im Streifendienst müssen u.a. Konflikte zwischen Bürgern lösen, sie müssen Straftaten verfolgen, Gefahren abwehren, Verkehrsunfälle aufnehmen und werden immer dann gerufen, wenn andere nicht weiter wissen.

Der Anspruch dieses Berufes steigt nicht nur angesichts gesamtgesellschaftlicher disruptiver Veränderungen (z.B. durch die Flüchtlingskrise und durch terroristische Bedrohungslagen), globaler Vernetzung (Cybercrime, Darknet usw.) und der Digitalisierung und Individualisierung westlicher Gesellschaften, sondern auch vor dem Hintergrund neuer Vorschriften, immer diffiziler erscheinenden Gesetzen (bspw. im Bereich des Versammlungsrechtes) sowie neuen Reformen, Diensterlassen und Verfahrensregeln (bspw. Konzepte zur Bewältigung von sogenannten „LEBE-Lagen“). Polizeibeamte müssen heutzutage eine hohe Fach- und Methodenkompetenz aber vor allem auch Personale und Soziale Kompetenz mitbringen, um die Aufgaben des täglichen Dienstes unter den anscheinend allgegenwärtigen Augen der Öffentlichkeit professionell erfüllen und sich in prekären Situationen in Sekundenschnelle entscheiden zu können. In den Medien wird über mangelnden Respekt gegenüber Polizeibeamten2, steigende Gewalt und über anwachsende Aggressivität3 geklagt. Der Wertewandel in einer ausdifferenzierten, der Polizei gegenüber mitunter auch sehr konfrontativen, Gesellschaft macht die Arbeit für die Polizeibeamten nicht leichter.

2 Neufassung des § 114 StGB als politische Reaktion

Um Polizeivollzugsbeamte besser vor Gewalt zu schützen, hat die Bundesregierung am 14.2.2017 den Gesetzentwurf zum sog. „Schutzparagrafen“ 114 StGB (alt: Widerstand gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen; neu: Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte) vorgelegt und zugleich festgestellt, dass „der Schutz von Vollstreckungsbeamtinnen und -beamten sowie von Rettungskräften […] ein wichtiges Anliegen“ ist.4 Am 27.4.2017 wurde die Neuregelung vom Bundestag5 verabschiedet und am 12.5.2017 stimmte auch der Bundesrat6 zu, so dass das Gesetz nach der Unterzeichnung und Verkündung zustande gekommen ist.7Sascha Braun, GdP-Rechtsexperte, sieht die Strafverschärfung als Zeichen, dass „die Politik [sich nun] den Kollegen auf der Straße zuwendet“.8 Die Wuppertaler Polizeipräsidentin Birgitta Radermacher schlägt darüber hinaus vor, auch das Filmen als Widerstandshandlung ins Gesetz aufzunehmen.9 Demgegenüber mahnt Strafrichter Ruben Franzen als Vertreter der Neuen Richter Vereinigung e.V., dass von der Sonderstellung der Polizisten unter geänderten Konstellationen eine Gefahr für den Rechtsstaat ausgehen könnte, weil Übergriffe gegen diese zumeist von alkoholisierten oder hoch emotionalisierten Personen ausgingen und eine höhere Strafandrohung die Täter nicht von Übergriffen abhalten, sondern im Gegenteil sogar zur Eskalation beitragen würde.10 Somit werden die sehr differenzierten Ansichten in Bezug auf die Strafverschärfung im Bereich der Widerstandsdelikte gegen Vollstreckungsbeamte offenbar.

Seitens des Gesetzgebers wird mit der neuen Regelung und Strafverschärfung einerseits ein Individualschutz für Vollstreckungsbeamte und Rettungskräfte anerkannt und andererseits eine Wertschätzung für die tägliche belastende Arbeit ausgesprochen. Dem Wunsch der Polizeigewerkschaften, den Widerstandsparagrafen zu reformieren und auch unvermittelte Angriffe auf Polizeibeamte ohne vorausgegangene Vollstreckungshandlung unter Strafe zu stellen, wurde mit dem neuen § 114 StGB entsprochen.

Die Tatbegehungsform des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte wurde aus § 113 StGB herausgelöst und in § 114 StGB als selbständiger Straftatbestand mit verschärftem Strafrahmen (Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren) ausgestaltet. Der neue Straftatbestand verzichtet für tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte auf den Bezug zur Vollstreckungshandlung. Bei einer Vollstreckungshandlung handelt es sich um eine Tätigkeit von Amtsträgern gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB oder Soldaten, die auf die Vollziehung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen gerichtet ist. Es muss dabei um die Verwirklichung des auf die Regelung eines Einzelfalls konkretisierten, notfalls mit Zwang durchsetzbaren Staatswillens gehen.11 Vollstreckungshandlungen sind also Handlungen, die aufgrund einer Eingriffsermächtigung u.U. mit Zwang durchgesetzt werden dürfen, bspw. Identitätsfeststellungen, Festnahmen, Durchsuchungen oder Beschlagnahmen.12 Damit werden künftig tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte auch schon bei der Vornahme allgemeiner Diensthandlungen, also bspw. bei der täglichen Streifenfahrt oder einer Vernehmung im Dienstgebäude, gesondert unter Strafe gestellt.

Erst vor noch nicht einmal sechs Jahren, am 5.11.2011, wurde der § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) verschärft. Die Höchststrafe wurde von zwei auf drei Jahre erhöht und in den Fällen des § 113 Abs. 2 StGB, bei denen sich u.a. das Mitführen einer Waffe in Verwendungsabsicht strafverschärfend auswirkt, wurden auch andere gefährliche Werkzeuge, die weder von ihrer Zweckbestimmung her, noch nach ihrem typischen Gebrauch zur Bekämpfung anderer oder zur Zerstörung von Sachen eingesetzt werden, mit aufgenommen.13 Nun werden auch die Regelbeispiele für den besonders schweren Fall gemäß § 113 Abs. 2 Satz 2 StGB erweitert. So liegt dann ein schwerer Fall vor, wenn die Tat gemeinschaftlich begangen wird. Weiterhin wird auf eine Verwendungsabsicht verzichtet. Führt der Beschuldigte eine Waffe oder einen anderen gefährlichen Gegenstand während dieser Tathandlung mit, so wirkt sich dies auch dann strafverschärfend aus, wenn er die Waffe oder den gefährlichen Gegenstand gar nicht einsetzt bzw. auch gar nicht einsetzen wollte.

Hinter jeder statistischen Zahl, hinter jedem im Dienst durch eine Straftat geschädigten Polizeibeamten steht ein Mensch. Jede Anwendung von Gewalt, jede Beleidigung, jede Bedrohung und jede Art von Übergriff haben physische und psychische Folgen und sind strafrechtlich konsequent zu verfolgen und in keiner Weise zu tolerieren.

Erst durch die Anerkennung und Würdigung der Konsequenzen bei den Betroffenen wird die Grundlage geschaffen, auf der überhaupt eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Thematik möglich ist.

3 Diskurs über den Sinn dieser Strafverschärfung zum Schutz von Polizeivollzugsbeamten

Losgelöst von individueller Betroffenheit ist die kritische Diskussion der nachfolgenden Fragen notwendig, um sich nicht philiströs weiteren Interventionen zu verschließen.

  • Können Paragrafen Vollstreckungsbeamte schützen?
  • Dient eine Erhöhung des Strafrahmens in Bezug auf tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte, die Herausnahme der Vollstreckungshandlung aus dem Tatbestand oder die Ausdehnung des besonders schweren Falles im Hinblick auf das bloße Mitführen einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeuges ohne Verwendungsabsicht wirklich dem Schutz der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten?
  • Kann mittels der Verschärfung des Strafrechts dem Begehen zukünftiger Taten vorgebeugt werden und können damit die Fallzahlen in diesem Deliktsbereich reduziert werden?

Diese Fragen können ohne einen Blick auf die Kontextbedingungen des Phänomens „Polizei und Gewalt“, der Entwicklung des Strafrechts und auf die Ergebnisse der Wirkungsforschung von Strafe i.S.d. evidence-based crime policy nicht beantwortet werden. Ebenso kann in diesem Diskurs nicht auf die Auseinandersetzung mit der Frage verzichtet werden, ob die Gewalt gegenüber Polizeibeamten tatsächlich gestiegen ist oder ob es noch andere Interpretationsmöglichkeiten der gestiegenen Fallzahlen gemäß PKS gibt. Die KFN Studie von 2010 förderte zutage, dass sich Gewaltübergriffe auf Polizeibeamte vornehmlich bei polizeilichen Personalienfeststellungen, Festnahmen, Schlichtungsversuchen zwischen Bürgern und Fluchtverhinderungen ereignen. Insofern bleibt die Frage im Raum, wozu konkret die Herausnahme der Vollstreckungshandlung beim tätlichen Angriff zweckmäßig sein soll. Wird ein Polizeibeamter im Dienst tätlich angegriffen, obwohl er gerade keine Vollstreckungshandlung vornimmt, wären für dieses strafbare Verhalten aller Voraussicht nach die Körperverletzungstatbestände oder der Nötigungstatbestand zu prüfen. Allerdings kommt der § 223 StGB mit einer gegenüber des § 114 StGB geringeren Strafandrohung (Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe) daher und kennt keine erhöhte Mindeststrafe. Der Gesetzgeber will folglich gerade das Vorgehen gegen Polizeibeamte besonders maßregeln, um damit der anspruchsvollen und schwierigen Tätigkeit des Streifendienstes Rechnung zu tragen.

3.1 Historie des Strafzwecks vor dem Hintergrund der Wirkungsforschung

Historisch gesehen hat sich der Fokus des Strafrechts im Laufe der Jahrhunderte von einer tatorientierten Sichtweise zu einer täterorientierten Betrachtung weiterentwickelt. Die Zeit in der bestraft wird, weil Unrecht begangen worden ist („Punitur, quia peccatum est“) gemäß der Straftheorien nach Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel schien mit Cesare Beccaria und seinem von utilitaristischem Denken geprägten Werk „Dei delitti e delle pene“, in der er 1764 die Abschaffung des Strafzwecks der Vergeltung forderte, vorbei.14Franz von Liszt führte 1882 mit seinem „Marburger Programm“ diese Entwicklung fort, in dem er dem tatorientierten Vergeltungsstrafrecht, zu dessen Vertretern Paul Johann Anselmvon Feuerbach und Karl Lorenz Binding zählten, das täterorientierte Präventionsstrafrecht, mit seinen Strafzwecken der Besserung, Sicherung und Abschreckung entgegensetzte.15 Das ging einher mit der Inklusion des Verbrechers in den Begriff des Menschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Von Liszt machte in seinem Vortrag aufgrund einer Sonderauswertung der seinerzeitigen Reichskriminalstatistik deutlich, dass „der Hang zum Verbrechen mit jeder neuen Verurteilung wächst und je härter die Vorstrafe nach Art und Maß gewesen ist, desto rascher der Rückfall erfolgte“.16 Auch Gustav Radbruch, der Schüler Franz von Liszts, formuliert 1932 in seinem Fest-Vortrag anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Gefangenenfürsorge in Baden ähnliche Gedanken: „Je mehr Vorstrafen der Verbrecher erlitten hat, umso sicherer ist sein Rückfall“.17 Der Gesetzgeber dürfe nicht selbst der sozialen Wiedereinordnung der Entlassenen Hindernisse bereiten.18 Durch die Durchsetzung des Zweckgedankens im Strafrecht wurde die Freiheitsstrafe zurückgedrängt und die Geldstrafe eingeführt und verbreitet. Diese sollte nicht bessern sondern „die resozilisierungswidrigen Effekte der Freiheitsstrafe, selbst der kurzen Freiheitsstrafe, und die damit verbundene Rückfallgefahr vermeiden“.19 In der Studie von Lipton, Martinson und Wilks wurden neben Formen und Varianten der Behandlung im Strafvollzug auch Formen der Behandlung in Freiheit untersucht. Hierbei wählte man auch solche Versuchsanordnungen, in denen die Effekte unterschiedlicher Sanktionsformen bei vergleichbaren Tat- und Tätergruppen untersucht wurden. Diese Studie und eine Reihe nachfolgender, experimenteller und quasi-experimenteller Studien belegten, dass eine Kriminalpolitik nach dem Vorbild der USA, die auf Abschreckung durch härtere und längere Sanktionen abstellt, nicht den Schutz vor Kriminalität verbessert, sondern die menschlichen und fiskalischen Kosten nur erhöht.20

Eine Verschärfung des Strafrahmens, der Wegfall der Geldstrafe in § 114 StGB und die Erweiterung des Kataloges für Regelbeispiele eines besonders schweren Falles des tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte, lassen nun eine Umkehr – weg vom täterorientierten und hin zum tatorientierten Strafrecht – vermuten. Dabei hatte der Gesetzgeber ursprünglich bei der Formulierung des Widerstandsparagrafen § 113 StGB die Affekte, die bei dem Betroffenen durch die Konfrontation mit einem Grundrechtseingriff entstehen können, berücksichtigt, indem er den Strafrahmen (vor dem Jahre 2011: Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren) geringer als z.B. bei der Nötigung (Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren) ansetzte.21 Wenn nun die Wirkungsforschung in Bezug auf den Sinn von Strafe offenbart, dass eine schärfere Sanktionspraxis die Rückfallwahrscheinlichkeit eher erhöht, wird der Gedanke des Gesetzgebers, die Polizeibeamten mittels der Strafverschärfung „besser zu schützen“ ad absurdum geführt.

In der Begründung zum neuen Gesetzesentwurf heißt es: „Es soll gewährleistet werden, dass der spezifische Unrechtsgehalt des Angriffs auf einen Repräsentanten der staatlichen Gewalt im Strafausspruch deutlich wird.“22 An dieser Stelle werden die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Untermauerung der These – die Gewalt gegenüber Polizeibeamten habe zugenommen – angeführt.

3.2 Von der Validität der PKS zur Sakralisierung der Person

Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasst seit der Einführung des Kataloges „Geschädigtenspezifik“ im Jahr 2011 Polizisten sowie andere Vollstreckungsbeamte nicht mehr nur als Opfer von „Widerstandsdelikten“, sondern umfassender als Opfer von „Gewaltdelikten“ (zum Beispiel Körperverletzungen, Mord, Totschlag). Voraussetzung ist dabei, dass sie in Ausübung ihres Dienstes geschädigt werden. So wurden im Jahr 2016 bundesweit 71.795 Polizeibeamte Opfer von Straftaten (davon 45.075 Widerstandsdelikte gegen Polizeivollzugsbeamte). Das ist gemäß Polizeilicher Kriminalstatistik eine Steigerung von 11,2 %, da im Jahr 2015 insgesamt 64.371 Polizeibeamte Opfer von Straftaten wurden (2014: 62.770; 2013: 59.044).

Schwerste Gewaltdelikte wie „Mord“, „Totschlag“ oder „Raub“ machen dabei erfreulicherweise weiterhin nur einen sehr geringen Anteil bei der Opfergruppe der Polizeivollzugsbeamten aus. Bei den übrigen Straftatengruppen waren folgende Veränderungen zu verzeichnen:

  • (Vorsätzliche einfache) Körperverletzung            
    +13,2 % (2015: 14.756)
  • Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte            
    +11,3 % (2015: 40.501)
  • Bedrohung        
    +9,9 % (2015: 3.619)
  • Gefährliche und schwere Körperverletzung         
    +8,8 % (2015: 4.071)23

Doch ist die Gewalt gegenüber Polizeivollzugsbeamten tatsächlich gestiegen oder hat es eine Verschiebung vom Dunkelfeld zum Hellfeld gegeben, resp. ist die Anzeigebereitschaft seitens der Polizeibeamten gestiegen und zeigt sich so für die in der PKS ausgewiesenen Zahlen verantwortlich? Indizien für diese Annahme lassen sich nach der Mehrebensystemtheorie des Sozialpsychologen Mario von Cranach auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen finden (Individuum, Gruppe, Organisation).24 Ende des 20. Jahrhunderts gingen mit der einsetzenden Technisierung der westlichen Gesellschaft gleichzeitig ein Wertewandel, eine stärkere Fokussierung auf das einzelne Individuum und eine Veränderung von Familienstrukturen einher. In seinem Aufsatz „Strafe und Respekt“ aus dem Jahr 2006 skizziert Hans Joas die Entwicklung der Strafe und des Strafrechts weg von den körperlichen Züchtigungen hin zu Freiheitsstrafen. Weil nun auch im Verbrecher der Mensch gesehen wurde, würden grausame Straftaten abgelehnt und aus dem gleichen Grund würden wir sensibler gegenüber Verbrechen, die sich gegen die Person und ihren Körper richten. Früher seien Verbrechen gegen den sakralen Kern eines Gemeinwesens als die Verwerflichsten angesehen worden, heute seien es die Verbrechen gegen die Ehre und die körperliche Unversehrtheit der Person. Durch diese kulturelle Verschiebung in den letzten zwei Jahrhunderten wird der Mensch heute als heilig betrachtet. Joas spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sakralisierung der Person“.25

Als weiterer Faktor im Hinblick auf eine Veränderung in der Gesellschaft ist eine zunehmende salutogenetische Orientierung zu nennen, die in einer stetig wachsenden Wellness-, Fitness- und Gesundheitsbranche ihren Ausdruck findet. Auch die Polizei bietet ihren Mitarbeitern ein wachsendes Repertoire an Sport- und Gesundheitsangeboten, um einen Ausgleich zum Dienst zu schaffen und eine „work-life-balance“ zu ermöglichen. Dies wird auch u.a. in dem Rahmenkonzept zur Betrieblichen Gesundheitsförderung von 2014 in der Landespolizei Schleswig-Holstein deutlich. Das wachsende Gesundheitsbewusstsein und die salutogenetische Orientierung sind Indikatoren für eine Erhöhung des Stellenwertes der körperlichen Unversehrtheit in der Gesellschaft und damit auch in der Polizei. Derartige kulturelle Veränderungen des Wertesystems lassen den Schluss zu, dass sich das Anzeigeverhalten innerhalb der Polizei verändert haben könnte.

Unterstützt wird diese These von veränderten Rahmenbedingungen. Strukturgebende Maßnahmen seitens der Polizeiführung hat es bspw. im August 2016 mit dem Rahmenerlass für die schleswig-Holsteinische Polizei gegeben. Durch diesen Erlass ist jeder Polizeibeamte angewiesen, jede versuchte und vollendete Gewalttat zum Nachteil von Polizeivollzugsbeamten anzuzeigen. Zusätzlich wird jeder Fall von Gewalt gegen die Polizei im Vorgangsbearbeitungssystem zur Erstellung eines Landeslagebildes erfasst. Die Erhöhung der Zahlen in der PKS ist somit auch durch den Einfluss dieser Indikatoren auf das Anzeigeverhalten der Polizeibeamten zu erklären.

Die Frage, ob die tatsächliche körperliche Gewalt zwischen Polizeibeamten und ihren Adressaten der polizeilichen Maßnahmen nun tatsächlich zu- oder abgenommen hat, ist nicht ausschließlich aufgrund von Befragungen von Polizeibeamten und der Auswertung der PKS zu entscheiden. Die Aussagen der KFN-Studie und die Heranziehung der PKS-Zahlen oder der Dienstunfähigkeitstage liefern aufgrund des Subjektivitätsfaktors bzw. der geringen Aussagekraft keine valide Antwort auf diese Frage. Vielmehr müssen Dunkelfeldstudien zu diesem Themenfeld herangezogen werden.

3.3 Eignen sich Dunkelfeldstudien zur Gewalt unter Jugendlichen als Analogie zur Gewalt gegen die Polizei?

Das „Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung (KIK)“ stellt Daten zu Umfang, Struktur und Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität sowie der ermittelten Tatverdächtigen nach Alter und Geschlecht dar26. Der Übersichtsartikel „Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland“ von Wolfgang Heinz befasst sich mit der Aufbereitung der Ergebnisse der neueren Dunkelfeldforschung in Deutschland sowie der Daten der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken zu polizeilich registrierter Kriminalität, zur staatsanwaltschaftlichen Erledigung und gerichtlichen Verurteilung bis hin zum Straf- und Maßregelvollzug in Form von Schaubildern und von Tabellen. Eine systematische Beschreibung von „Kriminalitätskontrolle“ wäre unvollständig ohne den Ausblick auf deren „Erfolg“, wie er an den Befunden der Rückfallstatistik ablesbar ist.27

Dunkelfeldstudien zu Gewalt unter Jugendlichen und Heranwachsenden könnten möglicherweise als Analogie zur „Gewalt gegen Polizeibeamte“ erste Hinweise auf die Entwicklung der Fallzahlen in diesem Bereich liefern. Die seit Ende der 1990er Jahre durchgeführten Befragungen von Schülern der 9. Jahrgangsstufe zeigen, bei teilweise kurvilinearen Verläufen, also bei Steigen oder Fallen zwischen verschiedenen Messzeitpunkten, ausnahmslos, dass der Anteil der Jugendlichen, die angaben, Gewaltdelikte verübt oder erlitten zu haben, nach allen Untersuchungen insgesamt rückläufig ist. Es wurde auch ein Rückgang der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen sowie der Schwere der Folgeschäden bei erlittener Körperverletzung festgestellt. Diese Daten stehen in deutlichem Gegensatz zu den Hellfelddaten der PKS. Offenbar wird der Rückgang im Dunkelfeld durch eine steigende Anzeigebereitschaft überkompensiert.28

Daten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zu sog. „Raufunfällen“ an Schulen, bei denen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden musste, ergaben, dass diese seit 1997 deutlich abgenommen haben (Raufunfälle zwischen 1997 und 2007 um 31,3 % und zwischen 2009 und 2014 nochmals um 5,11 %)29. Die Dunkelfeldstudie „Umfang, Struktur und Entwicklung von Jugendgewalt und -delinquenz in Hamburg 1997-2004, Ergebnisse wiederholter repräsentativer Befragungen von Schulklassen allgemeinbildender Schulen der 9. Jahrgangsstufe“ von Block, Brettfeld und Wetzels kommt zu dem Schluss, dass Delinquenz durch personengerichtete Gewaltdelikte 2005 signifikant niedriger ausfällt, als noch im Jahr 1998. Fuchs, Lamnek, Luedtke und Baur30 legen in ihrer 1994, 1999 und 2004 durchgeführten Langzeitstudie „Gewalt an Schulen“ dar, dass sowohl physische, als auch psychische und verbale Gewalt an Schulen rückläufig sind. Gleichzeitig kommt es aber zu einem bedeutenden Anstieg der Anzeigequote, insbesondere bei Raubtaten, Erpressungen und Körperverletzungen mit Waffen, wodurch ein Anstieg dieser Delikte im Hellfeld und damit auch in der PKS zu verzeichnen ist.31

Eine unveröffentlichte Lagebilddarstellung der Polizei Hamburg ergibt weder einen qualitativen, noch einen quantitativen Anstieg der Gewalt gegen Polizeibeamte. Festgestellt wird, dass sich die Kontextbedingungen geändert haben, womit bspw. ein Anstieg von Handykameras und das sofortige Verbreiten in sozialen Netzwerken usw. gemeint sind.32 Die Befragung zum DGB-Index „Gute Arbeit“ brachte hervor, dass 22 % aller Polizisten davon berichteten, sehr häufig oder oft respektlos behandelt zu werden. Von allen Beschäftigten trifft dies im Vergleich nur auf jeden Zehnten zu.33

Vor dem Hintergrund, dass die KFN-Studie von 2010 außerdem eine Steigerung der Feindschaft gegenüber der Polizei und dem Staat zutage brachte, ist eine Erhöhung der Wahrnehmung respektloser Handlungen und Unbotmäßigkeiten gegenüber Polizeivollzugsbeamten des Streifendienstes denkbar.

Eine wachsende salutogenetische Haltung innerhalb der Polizei, die Sakralisierung der Person sowie die Abnahme der Gewalt in der Gesellschaft, die durch die oben angeführten Dunkelfeldstudien zu Gewalt unter Jugendlichen und Heranwachsenden, Gewalt an Schulen und durch die Lagebilddarstellung der Hamburger Polizei offenbar wird, geben Hinweise für die Annahme einer erhöhten Sensibilisierung der Polizeivollzugsbeamten und einer geringeren Toleranz gegenüber achtlosen, despektierlichen Handlungen. Es ist anzunehmen, dass die Gewaltperzeption und das Anzeigeverhalten der Polizeivollzugsbeamten gestiegen sind. Gleichzeitig lassen diese Indikatoren an der angeblich gestiegenen körperlichen Gewalt gegenüber Polizeibeamten zumindest Zweifel zu.34 Wird der Anstieg der Widerstandsdelikte in der PKS von den Medien und den Gewerkschaften plakativ inszeniert, kann es zum sog. politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf35 kommen. Wird die Polizei im Gewaltdiskurs auf ihre Opferrolle reduziert, besteht die Gefahr, dass sie in ihrer Rolle als Inhaberin des Gewaltmonopols des Staates nicht ernst genommen wird und die Entwicklung einer differenzierten Einsatzkompetenz und einer reifen Fehlerkultur in der Polizei verhindern wird.36

4 Conclusio

Eine rationale, an empirisch gesicherten Befunden und nicht an Vorurteilen oder an Wunschdenken orientierte Kriminalitätskontrolle sollte sich an den Ergebnissen der Wirkungsforschung orientieren und nicht ausschließlich auf eine Verschärfung des Strafrechts setzen. Soll mit der Verschärfung des Strafrechts erreicht werden, dass sich Polizeivollzugsbeamte gesehen und wertgeschätzt fühlen und möchte man ihnen einen besonderen strafrechtlichen Schutz offerieren, mag dies dem Gesetzgeber mit der Neuformulierung des § 114 StGB gelungen sein. Doch will man lösungsorientiert und nachhaltig gewalttätige Übergriffe auf Polizeivollzugsbeamte verhindern, muss man das Problem an den Wurzeln erfassen. Hierzu ist es hilfreich, die situativen und strukturellen Kontextbedingungen von Gewalt als aufeinander bezogene Wechselbeziehungen zu verstehen, denn zuallermeist entwickelt sich Gewalt in polizeilichen Einzeldienst-Kontexten innerhalb eines interaktiven Geschehens.37 Die Etablierung einer reifen Fehlerkultur ist für eine kontinuierliche Professionalisierung der Polizei unerlässlich. Dafür ist es notwendig, die Verantwortung für eskalierende Konflikte im „Kräftefeld Polizei-Bürger“ zu übernehmen, denn der Umgang mit emotionalen Herausforderungen und Konflikten kann zu gesundheitlichen Risiken, einer verringerten Arbeitszufriedenheit, häufigeren Erschöpfungszuständen und anderen psychischen Beeinträchtigungen führen. Die Entwicklung von Konfliktbearbeitungskompetenz, Dialogfähigkeit, Empathievermögen, interkultureller Kompetenz sowie persönlicher und sozialer Kompetenz ist für professionelles und deeskalierendes, überlegtes polizeiliches Handeln unverzichtbar und sollte in Aus- und Fortbildung vermittelt und ausgebaut werden. Weiterhin können eine ausreichende Personalausstattung, adäquate Erholungszeiten, der Ausbau des Betrieblichen Gesundheitsmanagements, Gewährleistung einer gesunden „work-life-balance“, Supervision, teambildende Maßnahmen und die Schaffung einer von Kollegialität, Hilfsbereitschaft und Selbstverantwortung geprägten Arbeitsatmosphäre zum Schutz der Polizeibeamten beitragen und es bestünde die Möglichkeit, dass diese Maßnahmen von ihnen wohl viel mehr als Zeichen der Wertschätzung gesehen werden, als Strafverschärfungen.38

Anmerkungen

  1. Jana Reuter ist Polizeihauptkommissarin und Kriminologin (M.A.). Sie befindet sich zurzeit im Masterstudiengang „Öffentliche Verwaltung – Polizeimanagement“ 2017/2019.
  2. FAZ, 2017, S. 1 (Polizeigewerkschaft beklagt mangelnden Respekt)          
    www.faz.net/aktuell/politik/inland/polizeigewerkschaft-beklagt-mangelnden-respekt-vor-polizisten-14867199.html, abgerufen am 21.5.2017.
  3. Gehler, 2016, Polizisten beklagen immer mehr Aggressivität, Panorama, www.welt.de/vermischtes/article157877592/Polizisten-beklagen-immer-mehr-Aggressivitaet.html, S. 1, abgerufen am 21.5.2017.
  4. BT-Drucksache 18/11161.
  5. Plenarprotokoll (BT) 18/231
  6. Plenarprotokoll (BR) 957.
  7. BGBl I 2017, S. 1226.
  8. Braun, 2017, Jahrelanges Engagement der GdP für besseren Schutz der Polizei erfolgreich, Deutsche Polizei, Heft 5, S. 15.
  9. Radermacher, 2017, Deutsche Polizei, Heft 5, S. 15.
  10. So Zielasko, 2017, Deutsche Polizei, Heft 5, S. 15.
  11. Vgl. Paul, 2006, S. 1, Strafrecht – Definitionen & Probleme, Besonderer Teil 1, (§§ 113-231 StGB), www.abosabos.de/Dateien/BT1.PDF, abgerufen am 23.5.2017.
  12. Vgl. Rodorf, 2017, S. 2, Polizeiliches Grundlagenwissen für Studium und Praxis, § 113 StGB Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, www.rodorf.de/03_stgb/bt_02.htm, abgerufen am 21.5.2017.
  13. BGBl I 2011, S. 2130.
  14. Naucke, 2005, S. 23, Einführung: Beccaria, Strafrechtskritiker und Strafrechtsverstärker, in: Beccaria „Von den Verbrechen und von den Strafen“, 1764.
  15. Vgl. v. Liszt, 1905, S. 127, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: Ders. (1905): Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 126-179.
  16. Vgl. v. Liszt, 1905, Die Kriminalität der Jugendlichen, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Band 2, S. 331-335, hier: S. 338.
  17. Radbruch, 1994, Der Erziehungsgedanke im Strafwesen. Fest-Vortrag anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Gefangenenfürsorge in Baden. Wiederabgedruckt in: Radbruch: Strafvollzug. Bearbeitet von Müller-Dietz, S. 71-79.
  18. Radbruch, ebd., S. 77.
  19. Spiess, 2004, What works?: Zum Stand der internationalen kriminologischen Wirkungsforschung zu Strafe und Behandlung im Strafvollzug, In: What works?: neue Ansätze der Straffälligenhilfe auf dem Prüfstand / Cornel et al. (Hrsg.), S. 12-34.
  20. Spiess, ebd., S. 9.
  21. Rodorf, 2017, S. 2, Polizeiliches Grundlagenwissen für Studium und Praxis, § 113 StGB Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, www.rodorf.de/03_stgb/bt_02.htm, abgerufen am 21.5.2017.
  22. BT-Drucksache 18/11161, S. 1.
  23. BKA, 2017, Polizeiliche Kriminalstatistik 2016, S. 37.
  24. Greif, 2006, S. 2, Mehrebenen-Coaching von Individuen, Gruppen und Organisationen – Eine umfassende und genaue Definition von Coaching als Förderung der Selbstreflexion, www.home.uni-osnabrueck.de/sgreif/downloads/Mehrebenencoaching.pdf, abgerufen am 24.5.2017.
  25. Joas, 2006, Strafe und Respekt, in: Alber/Bröckling/Bruchstein (Hg), Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 34 (1), S. 15-29.
  26. Spiess, 2006, S. 1, Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung KIK, www.ki.uni-konstanz.de/kik/, abgerufen am 21.5.2017.
  27. Vgl. Spiess, ebd., S. 1.
  28. Vgl. Heinz, 2015, S. 19, Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in Deutschland – Berichtsstand 2015 im Überblick, Version: 1/2017 www.uni-konstanz.de/rtf/kis/Kriminalitaet_und_Kriminalitaetskontrolle_in_Deutschland_Stand_2015.pdf, abgerufen am 21.5.2017.
  29. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, 2016, S. 6, S.11, www.dguv.de/medien/inhalt/zahlen/documents/schueler/gewalt_2014.pdf, abgerufen am 24.6.2017.
  30. Fuchs/Lamnek/Luedtke/Baur, 2005, S 72 ff., Gewalt an Schulen, 1994, 1999, 2004, 1. Auflage.
  31. Vgl. Baier/Pfeiffer/Simonson/Rabold, 2009, S. 92, Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN, Forschungsbericht Nr. 107, Hg. V. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover, www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb107.pdf, abgerufen am 21.5.2017.
  32. Vgl. Behr, 2012, S 183, 194, Die Gewalt der Anderen oder: Warum es bei der aktuellen Gewaltdebatte nicht (nur) um Gewalt geht, in: Ohlemacher/Werner (Hg.): Polizei und Gewalt. Interdisziplinäre Analysen zu Gewalt gegen und durch Polizeibeamte, Bd. 15, S. 177-196.
  33. Schmucker, 2017, Deutsche Polizei, Heft 5, S. 23.
  34. Vgl. Behr, 2012, ebd., S. 180.
  35. Vgl. Scheerer, 1978, S. 225, Der politisch-publizistische Verstärkerkreislauf. Zur Beeinflussung der Massenmedien im Prozess strafrechtlicher Normgenese, in: Becker/Ostermeier/Althoff et al. (Hg.): Kriminologisches Journal, 10. Jahrgang, Heft 3, S. 223-227.
  36. Vgl. Reuter, 2014, S. 80, „Polizei und Gewalt“, Eine handlungstheoretische Rekonstruktion polizeilicher Konfliktarbeit.
  37. Vgl. Reuter, 2014, ebd., S. 78.
  38. Vergleichbar auch Schiemann, 2017, NJW, S. 1846 und Zöller, 2017, KriPoZ, S. 143.