Methodische Grund­lagen der Tatortarbeit

Von Prof. Dr. Holger Roll, Güstrow1

1 Allgemeines

In der PDV 1002 wird der Erste Angriff, der einen Algorithmus der Vorgehensweise bei der Tatortarbeit vorgibt, beschrieben. „Beim Ersten Angriff sind neben Maßnahmen der Gefahrenabwehr

  • der Tatort zu sichern und erste wesentliche Feststellungen über den Tathergang zu treffen (Sicherungsangriff) und
  • der Tatbefund zu erheben (Auswertungsangriff).“

Aus dieser Definition ist erkennbar, dass ein Schwerpunkt eher einsatztaktisch zu setzen ist. Im Mittelpunkt steht die Gefahrenabwehr, was sich völlig selbstverständlich aus der Aufgabenzuweisung für die Polizei ableitet. Darüber hinaus ist der Erste Angriff aber auch von polizeiorganisatorischen Gesichtspunkten geprägt, in dem unterschieden wird bei den Zuständigkeiten im Sicherungs- (Schutzpolizei) und Auswerteangriff (Kriminalpolizei, Spezialdienststellen).3 Aus kriminalistischer Sicht liegt der Schwerpunkt des Ersten Angriffs auf dem Gebiet der Strafverfolgung, indem Beweismittel

  • erkannt, gesucht und gesammelt,
  • gesichert,
  • ausgewertet,
  • überprüft und
  • beurteilt werden sollen.

 Welcher Schwerpunkt im Rahmen der Tatortarbeit gesetzt wird (Gefahrenabwehr, Strafverfolgung, doppelfunktionales Handeln) gesetzt wird, ist abhängig vom konkreten Sachverhalt.

In der vorherstehenden Abbildung werden die Phasen des Ersten Angriffs den kriminalistischen Aspekten der Tatortarbeit (i.S.d. Strafverfolgung, der Beweisführung und der Wahrheitsermittlung im Strafverfahren) gegenübergestellt. Erkennbar ist, dass inhaltlich keine gravierenden Unterschiede bestehen. Lediglich organisatorische und einsatztaktische Aspekte lassen kleinere Differenzierungen zu. In den weiteren Darstellungen wird der Fokus auf die kriminalistischen Aspekte gelegt.


Abb.: Gegenüberstellung: Erster Angriff – Kriminalistische Tatortarbeit

2 Gedankliche Tätigkeit am Tatort

2.1 Analyse und Synthese

Methoden der gedanklichen Tätigkeit am Tatort sind:

  • Analyse/Synthese4,
  • Vergleich5,
  • Versions-/Hypothesenbildung6,
  • logische Methoden7.

An dieser Stelle sollen die Analyse und Synthese sowie die Versions-/Hypothesenbildung noch einmal hervorgehoben werden. Die beschriebenen Gedächtnisprozesse8 stellen eine Grundlage für das kriminalistische Denken am Tatort dar. Nur das, was wahrgenommen, eingeprägt/gespeichert wurde, kann in die Denkprozesse einbezogen werden. Die geistige Tätigkeit, „das kriminalistische Denken“, schreibt Walder9, „kennt, wenigstens als heuristisches Denken, keine Skrupel; es darf kühn sein. Solange man nur denkt, hat man noch keine Vorschriften verletzt (höchstens solche des Denkens).“ Dieser Satz sollte als Grundsatz für die Tatortanalyse/-untersuchung gelten.

Versucht man den Begriff Tatortanalyse zu definieren, so kann man darunter zwei Aspekte verstehen

  1. die gedankliche Tätigkeit des Ermittlungsbeamten und
  2. die Aufnahme des objektiven und subjektiven Tatortbefundes (als praktische Tätigkeit).

Die Besonderheit der Tatortanalyse besteht demzufolge darin, dass sie eine gedanklich-theoretische und gleichzeitig auch ein praktische Komponente i.S.d. Beweisfeststellung und -sicherung enthält.

Die gedankliche Tatortanalyse ist ein Analyse- und Syntheseverfahren10, mit dem nach kriminalistischen und kriminologischen Kriterien die vorliegenden aus der Tatortsituation ableitbaren Informationen in einem analytischen Denkprozess durchdrungen, bewertet und nach der Methode der kriminalistischen Synthese zu einem Bild über den Sachverhalt (gedankliches Modell) zusammengefügt werden. Dieses Modell ist Ausgangspunkt für durchzuführende praktische Untersuchungshandlungen, deren Ergebnisse wiederum als Grundlage für die Präzisierung, Verifizierung oder Falsifizierung des gedanklichen Modells dienen.

Die Arbeit am Tatort ist also nicht nur die bloße Aufnahme des Befundes (oder das Abarbeiten eines Ortes nach einem in einer Dienstvorschrift bestimmten Algorithmus), indem die Spuren gesucht, gesichert und fixiert und Zeugen festgestellt werden. Vielmehr wird sie durch ein überlegtes und gezieltes Vorgehen auf der Grundlage der gedanklichen Verarbeitung der Informationen, die in Versionen/Hypothesen einmünden, charakterisiert. Das Ziel dieser Tätigkeit besteht darin, eine Vorstellung vom zu untersuchenden Ereignis zu erhalten, die dem tatsächlichen Tathergang entspricht. Dieses gedankliche Modell hat hypothetischen Charakter und ist demzufolge ständig mit neuen Daten auf seine Stimmigkeit zu prüfen.

Ziele11 der gedanklichen Tätigkeit des Kriminalisten sind:

  • Erfassung aller Informationen, die in be- und entlastender Hinsicht für das Ermittlungsverfahren von Bedeutung sind.
  • Eine große Anzahl von Informationen schnell zu erfassen und zu speichern. Sie müssen in einer solchen Form systematisiert und klassifiziert werden, dass sie jederzeit abrufbar sind.
  • Alle vorhandenen Informationen geschickt miteinander zu verknüpfen, sie zu bewerten und zu selektieren, um die kriminalistisch relevanten Informationen zu erkennen und auf ihnen die weitere kriminalistische Untersuchung zu begründen.
  • Mit Versionen, gedanklichen Modellen, Hypothesen zu arbeiten. In der Kriminalistik liegen (insbesondere am Anfang der Ermittlungen) nur bruchstückhaft Informationen vor. Es ist deshalb notwendig, diese Lücken mit Versionen/Hypothesen zu überbrücken. Diese helfen, Ermittlungsansätze zu finden und geben der kriminalistischen Untersuchung eine erste Richtung.
  • Informationen unterschiedlicher Qualität zu kombinieren. Das vorhandene Informationspotenzial ist dadurch gekennzeichnet, dass die Informationen als abgesicherte Erkenntnisse, als Informationen mit Wahrscheinlichkeitscharakter oder als Hypothesen vorliegen können. Eine richtige Wertung und Beurteilung der Erkenntnisse im Gesamtzusammenhang ist vorzunehmen.

Die Analyse des Tatortes und seiner räumlichen Ausdehnung ermöglicht es, im unmittelbaren Umfeld (Wahrnehmbarkeitsbereich) Zeugen und ggf. Tatverdächtige zu ermitteln. Ebenso ist es möglich, im Zusammenhang mit anderen Beweismitteln (z.B. Zeugenaussagen), den „Tatablauf zu bestimmen und damit ein solches Modell von dem Ereignis zu gewinnen, das in beweisrechtlicher Hinsicht alle wesentlichen Aspekte richtig widerspiegelt“12. Die Tatortanalyse dient dazu, Informationen zu gewinnen, die für die Überprüfung von Versionen oder anderen vorliegenden Beweismitteln (z.B. Aussagen von Zeugen oder Beschuldigten) notwendig sind. Für die Einleitung erster Maßnahmen (z.B. Fahndung, Nacheile, vorläufige Festnahme) kann der Tatort die notwendigen territorialen Anhaltspunkte geben und ist Grundlage für die kriminalistische Beurteilung der Lage.

 2.2 Versions-/Hypothesenbildung

Eine zweite wesentliche Komponente der gedanklichen Tätigkeit am Tatort ist die Versions-/Hypothesenbildung.13 Die kriminalistische Version/Hypothese ist eine auf Tatsachen bzw. auf Informationen beruhende, hypothetische, in der Regel variantenhafte bzw. alternative Erklärungsweise für kriminalistisch relevante Sachverhalte, abgeleitet aus der Erkenntnis ihrer kausalen Bedingtheit unter besonderer Berücksichtigung der materiellen und ideellen Widerspiegelungen des kriminalistisch relevanten Ereignisses. Das Aufstellen von Versionen/Hypothesen/gedanklichen Modellen ergibt sich aus einzelnen Besonderheiten des kriminalistisch relevanten Ereignisses. Hervorzuheben sind

  • das Handeln unter Informationsdefizit,
  • Lücken im Wissen,
  • selektive Kenntnisse,
  • vielfach differenzierte Interpretierbarkeit von Informationen.

Diese Besonderheiten erfordern Varianten in der gedanklichen Tätigkeit. Das ist im Rahmen der kriminalistischen Ermittlungen nur durch die Bildung von Versionen/Hypothesen zu erreichen. Sie geben den Ermittlungshandlungen eine erste Richtung. Eingeordnet ist die Versionsbildung in den Gesamtkontext des kriminalistischen Denkens. Durch eingeleitete Ermittlungshandlungen werden weitere Erkenntnisse erlangt. Das bisher vorhandene Informationspotenzial wird ergänzt und präzisiert. Die aufgestellten Versionen werden in der Realität überprüft, um Widersprüche aufzudecken und weitere Spuren festzustellen. Es entsteht in dieser Phase ein erstes gedankliches Modell (Tatrekonstruktion).

Für das Aufstellen von Versionen am Tatort lassen sich methodisch folgende Hinweise ableiten:

  • Die Arbeit mit kriminalistischen Versionen hat stetig zu erfolgen. Grundlage dafür ist die sich entwickelnde und verändernde Informationsbasis während der Tatortarbeit.
  • Für die Arbeit mit Versionen sind alle in der konkreten Sache (Täter, Motiv, Begehungsweise etc.) theoretisch denkbaren Versionen aufzustellen. Das bedeutet, dass man nicht schon zu Beginn einer kriminalistischen Untersuchung Versionen ausschließen darf, sondern alle möglichen Versionen sind abzuleiten und in die Überprüfung einzubeziehen.
  • Alle, in der konkreten Sache verfügbaren Informationen sind bei der Bildung der Versionen zugrunde zu legen.
  • Die Auswertung vorhandener Informationen hat objektiv zu erfolgen und ist vorrangig auf Fakten zu stützen.
  • Bei Daten, die stark subjektiv geprägt sein können (z.B. Zeugenaussagen, Aussagen von Geschädigten und Opfern), ist der Grad der subjektiven Prägung zu bestimmen und dieser bei der Auswertung zu berücksichtigen.
  • Vorhandene Widersprüche in den Ausgangsdaten müssen erkannt werden. Bei gravierenden Widersprüchen sollte unter Umständen vorläufig auf die Versionsbildung verzichtet werden. Widersprüche können auch zur Grundlage alternativer Versionen gemacht werden. Aufgestellte Versionen müssen in sich widerspruchsfrei sein und dürfen nicht im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesicherten Alltagserkenntnissen sein.
  • In Betracht gezogene Versionen müssen (in einem gerechtfertigten Zeitraum und mit einem der Sache gerecht werdendem Aufwand) überprüfbar sein.
  • Für die Versionsbildung sind neben den notwendigen Ausgangsinformationen vor allem kriminalistische Erfahrungen und das intuitive Vermögen des Kriminalisten zu nutzen.
  • Im Prozess der Überprüfung sind Versionen ständig zu vervollständigen, zu präzisieren, zu verifizieren bzw. falsifizieren.
  • Die Überprüfung der Versionen stellt einen dynamischen und permanenten Prozess dar. Ständig ergeben sich bei Bestätigung oder Widerlegung von Versionen neue Tatsachen, neue Fakten, die überprüft werden müssen. Diese Tatsachen können selbst auch wieder Ausgangspunkt von neuen Versionen sein.
  • Sofern nicht alle aufgestellten Versionen zugleich und parallel überprüfbar sind, gilt es Vorrangigkeitskriterien festzulegen, nach denen die Überprüfung erfolgt.
  • Versionen beziehen sich auf drei Zeitebenen:
    • Vergangenheit (z.B. Rekonstruktion der Begehungsweise),
    • Gegenwart (z.B. mögliche spurentragende Bereiche),
    • Zukunft (z.B. Versionen zum Fluchtverhalten, um Verfolgungsmaßnahmen einzuleiten).
  • Versionen sind nie als Wahrheit anzusehen. Sie stellen immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage dar. Sie sind keine Beweise, sondern sind im Prozess der Beweisführung immer nur eine Zwischenstufe zur Erlangung von Beweisen. Sie geben damit den Weg der Beweisführung vor (z.B. im Rahmen der Tatortarbeit zum Auffinden weiterer Beweismittel).


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3 Methodisches Vorgehen am Tatort


3.1 Tatortsicherung

Die Tatortsicherung umfasst die Maßnahmen, die zur Sicherung des objektiven und subjektiven Tatbefundes eingeleitet werden. Im Fokus der polizeilichen Handlungen am Tatort unter kriminalistischen Aspekten stehen

das Bewahren der Situation am Tatort bei Eintreffen der Polizei,

der Schutz und die Sicherung des objektiven und subjektiven Tatortbefundes.

Inhaltlich ist die Tatortsicherung geprägt von:

  • einer ersten Situationsanalyse,
  • dem Feststellen und Bestimmen der Tatortgrenzen,
  • dem Absperren des Tatortes,
  • dem Schutz des objektiven Tatortbefundes,
  • dem Schutz des subjektiven Tatortbefundes.

In Abhängigkeit von der konkreten Situation14 sind diese Bestandteile der Tatortsicherung nicht zwingend in dieser Reihenfolge notwendig. Sie können parallel oder auch in einer anderen Reihenfolge durchgeführt werden.

3.1.1 Erste Situationsanalyse

Um die Tatortsicherung einzuleiten, bedarf es eines Mindestmaßes an Informationen. Grundlage für die Situationsanalyse ist das kriminalistische Denken und die damit im Zusammenhang stehenden Gedächtnisprozesse15. In der ersten Phase der Situationsanalyse16 geht es darum, den Tatort zu besichtigen und festzustellen welche Personen (z.B. Tatortberechtigte, An­zeigenerstatter) anwesend sind und wie deren rechtlicher Status sich darstellt. Diese sind zu befragen/vernehmen. Ergebnis ist, festzustellen, welchen allgemeinen Charakter das Ereignis aufweist und ob und in welchem Umfang gefahrenabwehrende Maßnahmen einzuleiten sind. Danach erfolgt die weitere Analyse, um Hinweise abzuleiten

  • zur Art des Tatortes (z.B. Tatort im Freien, Gebäude, Wohnung, Büroräume),
  • zur territorialen Lage und der vermutlichen Grenzen des Tatortes,
  • zu am Tatort angetroffenen Personen und den Gründen ihrer Anwesenheit,
  • zur Gefährdung der Tatortsituation einschließlich der Spurensituation,
  • zur Möglichkeit den Tatort zu betreten ohne die Spurensituation zu verändern.
  • Die Feststellungen sind zu registrieren und zu dokumentieren.

 

3.1.2 Feststellen und Bestimmen der Tatortgrenzen

Die Festlegung der Tatortgrenzen wird auf der Grundlage der Erkenntnisse zur räumlichen Ausdehnung des Tatortes bestimmt.

Methodische Hinweise:17

  • Tatorte im Freien sind weiträumig abzusperren. Dies gilt umso mehr, je unsicherer Informationen zum Ereignis sind, „weil es einfacher ist, einen zunächst zu groß festgelegten Sperrbereich zu verkleinern, als einen zu kleinen Sperrbereich ohne Gefahr der Spurenvernichtung und irritierender Veränderungen zu vergrößern“18.
  • Die Rekonstruktion der Begehungsweise beeinflusst die Festlegung der Ausdehnung von Tatorten in Gebäuden und wird durch bauliche Gegebenheiten bestimmt.
  • Zu- und Abgangswege sind in die Sicherung des Tatortes einzubeziehen. Bei größeren Tatorten empfiehlt sich u.U. eine äußere und innere Grenze festzulegen.
  • Eine „Spurengasse“, die verhindern soll, dass Spuren vernichtet oder beschädigt werden, ist für das Betreten des Tatortes zu bestimmen. Ebenso ist ein räumlicher (nichtspurentragender) Bereich festzulegen, in dem die Ermittlungsbeamten Ausrüstungsgegenstände ablegen bzw. Zeugen vernehmen können.
  • Bei Sachverhalten, deren Wirkung nicht nur auf den unmittelbaren Tatort beschränkt ist (Havarien, Störfälle in Unternehmen, große Schadensereignisse), müssen auch solche funktionalen Aufgabenbereiche in die Sicherung einbezogen werden, die möglicherweise Einfluss auf die Auslösung und den Verlauf des Ereignisses haben konnten.

Absperren des Tatortes:

Das Absperren des Tatortes umfasst solche Maßnahmen, die geeignet sind, nichtberechtigten Personen den Zutritt zum Tatort zu verweigern. Ziel ist es zu verhindern, dass die bei Eintreffen der Sicherungskräfte vorgefundene Situation verändert wird.

Methodische Hinweise:

  • Innerhalb des abgesperrten Bereiches sind unberechtigte Personen vorübergehend des Ortes zu verweisen bzw. ist Unberechtigten der Zutritt zu verweigern.
  • Kann der Zutritt aus berechtigten Interessen nicht verweigert werden, hat dies unter Beachtung der Spurensituation am Tatort so zu erfolgen, dass keine Spuren verändert bzw. vernichtet werden (Nutzung der Spurengasse).
  • Der Zustand des Tatortes ist vor Betreten weiterer Personen zu dokumentieren.
  • Personen, die den Tatort betreten, sind protokollarisch zu erfassen.
  • Durch gefahrenabwehrende Maßnahmen oder Sicherungsmaßnahmen verursachte Veränderungen sind zu kennzeichnen und akribisch zu dokumentieren.
  • Bei Aufenthalt von Personen am Tatort vor der Spurensuche ist zu dokumentieren wer, wann und auf welchem Wege den Tatort betreten hat. Dabei entstandene Veränderungen und Spuren sind zu markieren und zu registrieren, damit sie von den tat- oder täterrelevanten Veränderungen unterschieden werden können. Unter Umständen ist das Tragen von Schutzkleidung, Schuhüberzügen und Handschuhen im Rahmen der Absperrung schon notwendig.

3.1.3 Schutz des objektiven Tatortbefundes

Gefährdete Spuren oder andere materielle Beweismittel19 sind gegen Vernichtung oder Veränderungen zu schützen. Einzuleitende Maßnahmen20 können sein:

  • Abdecken von Spuren und Beweismitteln,
  • luftdichte Verpackung zum Schutz vor Austrocknen,
  • fotografische Dokumentation,
  • Notsicherung von Spuren,
  • Notasservierung von gefährdeten Gegenständen,
  • Sicherung von Substanzen, die sich durch biologische oder chemische Prozesse selbst auflösen.

3.1.4 Schutz des subjektiven Tatbefundes

Am Tatort anwesende Personen sind festzustellen. Der Grund ihrer Anwesenheit ist zu erfragen und zu registrieren. Es muss festgestellt werden, welchen Bezug die Personen zur Tat haben. Weitere Folgemaßnahmen21 sind zu veranlassen:

  • Die Identität der am Tatort anwesenden Personen ist festzustellen. Eine Personenüberprüfung in den polizeilichen und ggf. außerpolizeilichen Informationssystemen ist vorzunehmen.
  • Der rechtliche Status der anwesenden Personen ist zu ermitteln. Es gilt festzustellen, ob die Personen Tatbeteiligte sind und welcher Art ihre Tatbeteiligung ist.
  • Die Zeugen sollten, wenn möglich, den Tatort nicht verlassen, damit ihre Aussagen für die Durchführung der Tatortarbeit genutzt werden können (z.B. für die weitere territoriale Eingrenzung des Tatortes oder die Beschreibung des Fluchtweges),
  • Zeugen sind zu trennen, damit sie sich gegenseitig nicht beeinflussen.
  • Werden am Tatort bereits Vernehmungen durchgeführt, so ist der Vernehmungsort so zu wählen, dass andere Personen nicht über deren Inhalt informiert sind. Zeugen sollten an einen solchen Ort gebracht werden, der es ihnen unmöglich macht, Gespräche der Ermittler untereinander oder auch die Vernehmung anderer wahrzunehmen. Mit dieser Maßnahme gilt es Tatwissen zu schützen.
  • Sollten Personen den Tatort bereits verlassen haben, so ist zu erfassen wer, wann, wo und aus welchen Gründen sich vom Tatort entfernt hat.
  • Alle Handlungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit der Sicherung des subjektiven Tatortbefundes und die Inhalte der Aussagen sind zu dokumentieren. Die Inhalte der Aussagen können schriftlich oder mittels Tonaufzeichnung fixiert werden.

Nach der Tatortsicherung können die weiteren Phasen eingeleitet werden. Die Tatortsicherung ist bis zur Beendigung der Tatortarbeit aufrechtzuerhalten.

3.2 Tatortbesichtigung

Unter Tatortbesichtigung wird das Verschaffen eines allgemeinen Überblicks zum Ereignis verstanden. Betrachtet man die Gedächtnisprozesse des Ermittlungsbeamten in dieser Phase der Tatortarbeit, so sind sie charakterisiert vom Wahrnehmen, Verarbeiten des Wahrgenommen und dem Schlussfolgern. Inhaltlich ist die Tatortbesichtigung von folgenden Prämissen geprägt:

  • Aus gefahrenabwehrender und kriminalistischer Sicht ist die Relevanz des Sachverhaltes einzuschätzen. Daraus kann sich die Einleitung dringend notwendiger Sofortmaßnahmen (z.B. Einleitung von gefahrenabwehrenden Maßnahmen, Schutz oder Notsicherung von Spuren) ergeben.
  • Die Wirksamkeit der bisherigen Sicherungsmaßnahmen ist zu prüfen und ggf. sind diese zu präzisieren.
  • Über den Einsatz weiterer Kräfte oder Spezialisten (z.B. Gerichtsmediziner) ist zu entscheiden.
  • Notwendige Täterverfolgungsmaßnahmen sind einzuleiten.
  • Die methodische Vorgehensweise der Tatortuntersuchung (Spurensuche/Spurensicherung) ist festzulegen und es wird geprüft, wie der subjektive Tatortbefund erhoben werden kann.

Bestandteile der Tatortbesichtigung sind:

Die eigenen Wahrnehmungen des Ermittlungsbeamten, um eine allgemeine Beurteilung und Analyse der Situation am Tatort vorzunehmen. Dieses Bild sollte folgende Komponenten22 aufweisen:

  • den eigentlichen Handlungsort des Täters bzw. den Bereich besonders intensiven Täterhandelns,
  • Anhaltspunkte über konkrete Zu- und Abgangswege sowie spurentragenden Bereiche,
  • erfolgversprechende Ansatzpunkte für den Einsatz eines Fährtenhundes (z.B. vom Täter zurückgelassene Gegenstände, Gegenstände, die der Täter vermutlich intensiv berührte, Bereiche, in denen er längere Zeit verweilte etc.),
  • wahrscheinliche Wahrnehmungsmöglichkeiten durch potenzielle Zeugen,
  • den vermutlichen Wahrnehmbarkeitsbereich,
  • Folgen des Tatgeschehens, die Erkenntnisse über die vermutliche Begehungsweise vermitteln.

Erkenntnisse des Leiters der Tatortsicherung, um Hinweise auf die Relevanz des vorliegenden Sachverhalts abzuleiten und Kenntnisse zu erlangen über eingeleitete Ermittlungshandlungen, insbesondere Maßnahmen der Gefahrenabwehr, der ersten Beweissicherung und Täterverfolgung. Darüber hinaus werden Informationen erhoben zu:

  • vorgenommenen Veränderungen,
  • eingesetzten und angeforderten Kräften,
  • eventuellen Zeugen und deren Aufenthalt (einschließlich erster Hinweise zum Wahrnehmbarkeitsbereich),
  • der Ausgangssituation bei Eintreffen der Kräfte des Sicherungsangriffs
  • einer ersten Wertung des Sachverhalts.
  • Diese Informationen werden gedanklich mit den eigenen Wahrnehmungen verglichen. Gegebenenfalls sind Widersprüche zu klären und weitere Maßnahmen zu koordinieren.

Erkenntnisse aus Befragungen/Vernehmungen von Tatortberechtigten um festzustellen, welche Beziehung diese Person zum Ereignis hat (z.B. Geschädigter, Opfer, Zeuge, unbeteiligte Person, Verdächtiger). Nach Einschätzung des rechtlichen Status der Person ist diese entsprechend zu belehren und zu vernehmen. Inhaltliche Schwerpunkte von Zeugenvernehmungen in dieser Phase sind insbesondere:

  • die Art der Wahrnehmung,
  • die Beschreibung der Auffindesituation und von Tatortveränderungen sowie ihren Ursachen (Tatort vor der Tat, bei Tatfeststellung und Veränderungen danach, insbesondere dann, wenn der Zeuge Tatortberechtigter ist und der Letzte am Tatort vor der Straftat war),
  • weitere mögliche Zeugen und die Begründung ihrer zwischenzeitlichen An- und Abwesenheit,
  • Hinweise zu Tatverdächtigen,
  • das Benennen von vorgenommenen Veränderungen und eingeleiteten Maßnahmen,
  • Ursachen für das Betreten des Ortes,
  • die Einschätzung des Schadens und wer u.U. dadurch einen Vorteil erlangt,
  • die Benennung geschädigter natürlicher bzw. juristischer Personen,
  • logistische Besonderheiten (z.B. Schlüsselregime, Zutrittsmöglichkeiten: zeitlich, örtlich, personell),
  • die funktionalen Seite des Tatortes, seine Lage im sozialen und gesellschaftlichen Umfeld.

Diese gewonnenen Informationen sind zu vergleichen mit den eigenen Erkenntnissen und dem Bericht des Leiters des Sicherungsangriffs. Widersprüche sind herauszuarbeiten, zu registrieren und die Ursachen dafür zu bestimmen. Die Aussagen selbst sind schriftlich oder auf einem Tonträger zu fixieren.

Die Einsichtnahme in Unterlagen um spezielle bauliche Besonderheiten festzustellen, den Tatort in seiner räumlichen Ausdehnung und Anordnung einzuschätzen und bestimmte technologische Abläufe am Tatort festzustellen. Sie ergänzen die bisherigen Informationen und erlauben eine Überprüfung der bisherigen Aussagen und Erkenntnisse.

Gedankliche Rekonstruktion des Sachverhalts, um ein Modell23 zum Ereignis zu entwickeln, das Grundlage für die weiteren am Tatort durchzuführenden Ermittlungshandlungen ist. Die gedankliche Analyse des Sachverhaltes fasst die bisher gewonnen Erkenntnisse zusammen. Inhaltlich geht es darum, eine kriminalistische Lagebeurteilung vorzunehmen, um eine den Erfordernissen entsprechende Tatortuntersuchung einzuleiten. Im Rahmen der gedanklichen Rekonstruktion sind folgende Aspekte zu klären:

  • Art des Sachverhalts (z.B. Gefahrenlage, Verdacht der Straftat, Ordnungswidrigkeit, zivilrechtliche Angelegenheit),
  • Notwendigkeit der Einleitung von Sofortmaßnahmen,
  • Tatrekonstruktion anhand der möglichen Begehungsweise,
  • spurentragenden Bereiche und zu erwartende Spurenlage,
  • Wahrnehmbarkeitsbereich auf der Grundlage der Versionen/Hypothesen zur Begehungsweise und zu anderen Handlungsabläufen (z.B. Annäherung an den Tatort, Flucht).

Bei der Tatortbesichtigung werden zwei Besonderheiten deutlich.

Erstens, die gedanklich abgeleiteten Analyseergebnisse finden sofort praktische Umsetzung in der Durchführung der Tatortuntersuchung und der Ermittlung und Vernehmung von Zeugen. Es zeigt sich hier die unmittelbare Verbindung von theoretisch erlangten Erkenntnissen und ihrer Umsetzung in der Praxis.

Zweitens, die gedankliche Rekonstruktion des Ereignisses basiert auf Fakten und Versionen. Dies bedeutet für die Ermittlungstätigkeit, dass aufgrund des hypothetischen Charakters der gewonnenen Erkenntnisse nicht nur eine Ermittlungsrichtung verfolgt werden darf. Die Anforderungen an das Aufstellen und Arbeiten mit Versionen müssen in dieser Phase der Untersuchung unbedingt berücksichtigt werden.

Im Ergebnis der Tatortbesichtigung sind folgende Entscheidungen zu treffen:

  • Notwendigkeit von gefahrenabwehrenden Maßnahmen,
  • Beibehalten oder Präzisieren der Maßnahmen der Tatortsicherung (Erweiterung oder Verengung der äußeren Absperrung, Aufhebung einzelner Sicherungsmaßnahmen, Verfahrensweise gegenüber anwesenden potenziellen Zeugen usw.),
  • Benachrichtigung weiterer Kräfte, die die Tatortarbeit unterstützen sollen (Spezialkräfte, Staatsanwalt, Sachverständige),
  • Einleitung von Maßnahmen der Täterverfolgung (z.B. Fahndung, Einsatz eines Fährtenhundes),
  • Festlegung der methodischen Vorgehensweise und der Reihenfolge der Handlungen der Spurensuche am Tatort,
  • Festlegung des Wahrnehmbarkeitsbereiches und Einleitung von Ermittlungen und Befragungen (unter subjektivem Aspekt).

Um ein authentisches Bild der Tatortsituation vor der mit Veränderungen verbundenen Tatortuntersuchung zu gewinnen, ist es aus ermittlungstaktischer Sicht zweckmäßig, eine fotografische oder videographische Dokumentation des Tatortes vorzunehmen. Dies erfolgt in Form von Übersichtsaufnahmen, u.U. auch durch Teilübersichtsaufnahmen besonders gravierender Spurenkomplexe. Der Geschädigte oder der Tatortberechtigte ist über das Ausmaß, die eventuelle Zeitdauer und die Folgen der Tatortuntersuchung zu informieren.24

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Anmerkungen

  1. Prof. Dr. Holger Roll lehrt im Fachbereich Polizei der FHöVPR des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Der vorliegende Beitrag baut auf dem Fachaufsatz „Grundlagen der kriminalistischen Tatortarbeit“ in der „Kriminalpolizei“ 4/2017, S. 8 ff. auf.
  2. (PDV 100, 2011), Ziff. 2.2.3.
  3. Vgl. (Ackermann, Clages, & Roll, 2011), S. 116.
  4. Vgl. hierzu (Roll, 2013), 41 ff.
  5. Vgl. hierzu (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 77.
  6. Vgl. hierzu (Roll, 2013), S. 56.
  7. Vgl. hierzu (Walder, 1964), S. 63; (Getto, 1998); (Roll, 2013), S. 46 ff; (Zimbardo & Gerrig, 2008).
  8. Roll, Die Kriminalpolizei 4/2017, S. 8 (12).
  9. (Walder, 1964), S. 178.
  10. Vgl. hierzu (Clages, Kriminalistik, Lehrbuch für Ausbildung und Praxis, 1997), S. 33.
  11. Vgl. (Roll, 2013), S. 39.
  12. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 8.
  13. An dieser Stelle soll Bezug genommen werden zum Verhältnis von Version und Hypothese (die mit einer entsprechenden qualitativen Aussage wissenschaftlich belegt ist). Die Unterschiede bestehen u.a. darin, dass die kriminalistische Version
    1. - ad hoc - Charakter trägt (Erklärung kriminalistischer Einzelfragen und Erscheinungen); dem gegenüber ist die wissenschaftliche Hypothese auf die Aufdeckung von Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet,
    2. - eine spezifisch kriminalistische Art einer Hypothese ist,
    3. - als begründete Vermutung, Annahme, Erklärungsweise, vorläufige Antwort in Bezug auf eine noch nicht sicher geklärte Frage der Untersuchung ausgerichtet ist,
    4. - an Ausgangsinformation im Einzelfall und kriminalistische Erfahrungen und kriminalistisches Wissen gebunden ist,
    5. - Wahrscheinlichkeitscharakter in differenzierter Ausprägung trägt,
    6. - darauf ausgerichtet ist, eine Einzelproblemlösung und keine Verallgemeinerung abzuleiten,
    7. - regelmäßig variantenhaft (verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für eine zu klärende Frage) ist und vielfach Alternativcharakter trägt (eine Erklärungsmöglichkeit schließt die andere aus).
      Zur weiteren Begriffsdiskussion von Version und Hypothese vgl. auch (Roll, 2013), S. 56 ff.
  14. Vgl. (Roll, 2013), S. 41.
  15. Vgl. Roll, Die Kriminalpolizei 4/2017, S. 8 (12).
  16. Vgl. auch (Ackermann, Zusammenhang von kriminalistischer Hypothesen-/Versionsbildung und Fallanalyse, 2005).
  17. Vgl. (Ackermann, Clages, & Roll, Handbuch der Kriminalistik, 4. Auflage, 2011), S. 53.
  18. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 90.
  19. Vgl. Roll, Die Kriminalpolizei 4/2017, S. 8 (10).
  20. Vgl. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 91.
  21. Vgl. (Ackermann, Clages, & Roll, Handbuch der Kriminalistik, 4. Auflage, 2011), S. 142.
  22. Vgl. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 93,
  23. Vgl. (Leonhardt, Roll, & Schurich, 1995), S. 53 ff.
  24. In den Folgeausgaben der Zeitschrift wird die Erläuterung methodischer Grundlagen der Tatortarbeit fortgesetzt.