Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§§ 176, 184h Nr. 1 StGB – Sexuelle Handlung; hier: Umarmung. § 184b Abs. 3 StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften; hier: Sichverschaffen durch Anfertigung kinderpornographischer Fotoaufnahmen. §§ 306 Abs. 1 Nr. 1, 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB – Schwere Brandstiftung an gemischt genutztem Wohn- und Geschäftsgebäude; hier: Verrußung. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I Materielles Strafrecht

§§ 176, 184h Nr. 1 StGB – Sexuelle Handlung; hier: Umarmung. Bei einem Schwimmbadbesuch umarmte der nur mit einer Badehose bekleidete Angeklagte (A) die mit einem Bikini bekleidete Geschädigte, um sich durch den dadurch entstehenden Kontakt sexuell zu erregen. Er umfasste ihre Taille und zog sie so nah an sich, „dass entsprechend seiner Absicht direkter Kontakt zwischen ihren unbekleideten und bekleideten Körperpartien zu seinen nackten Oberschenkeln und seinem nackten Oberkörper und insbesondere an ihrem Unterleib der unmittelbare und deutlich spürbare Kontakt zu seinem Penis entstand.“

Zur Bestimmung des sexuellen Bezugs von ambivalenten Tathandlungen ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, dem sämtliche Umstände des Einzelfalles, namentlich sexuelle Absichten des Täters, bekannt sind. Ist die leitende Motivation die Befriedigung sexueller Bedürfnisse, kann sich auch eine Umarmung als eine sexuelle Handlung erweisen. (BGH, Urt. v. 21.9.2016 – 2 StR 558/15)

§ 184b Abs. 3 StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften; hier: Sichverschaffen durch Anfertigung kinderpornographischer Fotoaufnahmen. Der Tatbestand des Sichverschaffens kinderpornographischer Schriften kann auch durch eigenhändiges Anfertigen entsprechender Fotoaufnahmen erfüllt werden. (BGH, Urt. v. 6.4.2017 – 3 StR 548/16)

§§ 306 Abs. 1 Nr. 1, 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB – Schwere Brandstiftung an gemischt genutztem Wohn- und Geschäftsgebäude; hier: Verrußung. Bei einem gemischt, d.h. teils wohnlich, teils gewerblich genutzten Gebäude liegt eine vollendete Brandstiftung in der Taterfolgsvariante der teilweisen Zerstörung durch Brandlegung vor, wenn ein zum selbstständigen Gebrauch bestimmter, dem Wohnen dienender Teil eines einheitlichen Gebäudes durch die Brandlegung zum Wohnen unbrauchbar geworden ist. Unbrauchbarkeit zu Wohnzwecken ist erst anzunehmen, wenn eine Wohnung infolge des Brandes für eine nicht unbeträchtliche Zeit nicht mehr zu diesem Zweck genutzt werden kann. Hierbei ist auf die Zeit abzustellen, die für die tatbedingt erforderlichen Renovierungsarbeiten tatsächlich benötigt wird; Sichtweise ist die eines „verständigen Wohnungsinhabers“.

Erhebliche Verrußungen können grundsätzlich genügen, um einen Taterfolg in Gestalt der teilweisen Zerstörung durch Brandlegung anzunehmen. Dafür bedarf es aber durch die Verrußung selbst oder deren Beseitigung hervorgerufene Beeinträchtigungen der Nutzbarkeit der Wohnung. Dazu und insbesondere über den (konkreten) Zustand der einzelnen Wohnungen in dem Gebäude nach dem Brandereignis müssen aussagekräftige Feststellungen getroffen werden. (BGH, Urt. v. 5.9.2017 – 5 StR 222/17)

§§ 315b Abs. 1 Nr. 2, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB – Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr; hier: plötzliches Öffnen der Beifahrertür. Es gab Unstimmigkeiten zwischen Rad- und Autofahrer. Daraufhin beschleunigte der Autofahrer den Pkw stark, hupte, überholte den Radfahrer und lenkte den Pkw sodann schräg nach rechts, um diesem den Weg abzuschneiden. Gleichzeitig – noch während des Abdrängens – öffnete der Beifahrer, den Plan des Fahrers unterstützend, ein Stück weit die Beifahrertür. Durch das Querstellen des Fahrzeuges sowie das gleichzeitige Öffnen der Beifahrertür sah der Radfahrer seinen Fahrweg versperrt und sich zu einer Notbremsung und einem Ausweichmanöver gezwungen. Dabei prallte er gegen die Rückseite eines am rechten Straßenrand geparkten PKW und stürzte vom Fahrrad. Der Autofahrer hielt kurz an. Nachdem er und Beifahrer den Sturz des Radfahrers registriert hatten, fuhren sie sodann unter starker Beschleunigung davon, ohne sich bei diesem über sein Wohlergehen zu erkundigen.

Täter im Sinne von § 315b Abs. 1 StGB kann jeder – auch der Beifahrer – sein, der das tatbestandsmäßige Geschehen im Sinne der Nummern 1 bis 3 beherrscht. Dies gilt auch im Fall des sog. verkehrsfremden Inneneingriffs. Das plötzliche Öffnen der Beifahrertür eines fahrenden Pkws, um einen neben dem Fahrzeug befindlichen Radfahrer „auffahren“ zu lassen bzw. zu einem riskanten Ausweichmanöver zu zwingen, kann eine das Leben gefährdenden Behandlung i.S.d. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB auch dann darstellen, wenn der Körperverletzungserfolg erst durch das Ausweichmanöver mit Notbremsung eintritt und es nicht zu einer unmittelbaren Berührung zwischen Fahrzeugtür und Radfahrer kommt. (OLG Hamm, Beschl. v. 31.1.2017 – 4 RVs 159/16)

§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG – Bewaffnetes Sichverschaffen von Btm in nicht geringer Menge; hier: Zeitpunkt des Sichverschaffens. Der Täter (T) hatte auf einem Autobahnparkplatz am Pkw eines Lieferanten Kokain entgegengenommen und es anschließend in seinen Pkw verbracht, in dem er zur Verteidigung bei eventuellen Zwischenfällen ein Messer und einen Baseballschläger aufbewahrte.

Der Qualifikationstatbestand des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG ist zwar auch dann erfüllt, wenn der T die Waffe oder den sonstigen Gegenstand erst in der Schlussphase der Übernahme der Betäubungsmittel vor deren Beendigung mit sich führt, auch wenn das Grunddelikt bereits vollendet ist. Ist der Erwerb des Rauschgifts hingegen bereits beendet, kann ein sich daran anschließendes Mitsichführen einer Waffe oder eines sonstigen Gegenstands die Anwendung der Strafvorschrift nicht rechtfertigen. War also die Verfügungsgewalt des T bereits auf dem Weg zu seinem Fahrzeug und nicht erst zu dem Zeitpunkt gesichert, als er es dort deponierte, dann führte der T die in seinem PKW lagernden gefährlichen Gegenstände nicht mehr bei der Tat mit sich. In diesem Fall war er, als er es in den Wagen legte, bereits im Besitz des Kokains. Das Mitführen einer Waffe oder eines entsprechenden Gegenstandes beim Besitz der Betäubungsmittel allein erfüllt den Tatbestand des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG aber gerade nicht. (BGH, Beschl. v. 15.11.2016 – 3 StR 344/16; so auch BGH, Beschl. v. 10.11.2015 – 3 StR 357/15)
 

II Prozessuales Strafrecht

§§ 102, 105 StPO – Durchsuchungsbeschluss; hier: Anonyme Anzeige. Beim Polizeipräsidium ging ein datumsloses und nicht unterschriebenes handschriftlich gefertigtes Schreiben ein. Dieses lautete „Die Pädophilen sind überall. So ist mir bekannt, dass auch in D die Pädophilen ihr Unwesen treiben. Besonders Herr X und sein Sohn vertreiben Kinderpornographie der übelsten Art. Der Computer ist im Keller versteckt“. Die zuständige Polizei stellte fest, dass die namentlich benannten Personen tatsächlich existierten, dass aber deren Wohnadresse falsch angegeben worden sei. Die StA hat Auszüge aus dem BZR eingeholt, aus denen sich jeweils ergeben hat, dass dort keine Eintragungen enthalten gewesen sind. Sodann hat sie den Erlass dreier Durchsuchungsbeschlüsse für Wohn- und Geschäftsanwesen der „Beschuldigten“ beantragt. Auf entsprechenden Hinweises des Ermittlungsrichters des AG, dass ein anonymer Hinweis nach der Rechtsprechung des BVerfG in der Regel nicht genüge, einen Anfangsverdacht zu begründen, hat die StA auf ihrem Antrag beharrt; dieser wurde vom AG abgelehnt. Im Wesentlichen begründet die StA ihr Ansinnen damit, dass der Standort eines Computers – „im Keller“ – angegeben worden sei und deshalb die Anzeige über eine pauschale anonyme Anzeige hinausgehe.

Diese rechtfertigen grundsätzlich keinen Anfangsverdacht. Bei der Abwägung, ob in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden darf, ist auch die Unschuldsvermutung zu beachten. (LG Augsburg, Beschl. v. 12.9.2017 – 1 Qs 339/17)

§§ 102, 105, 163 Abs. 2 S. 1 StPO – Durchsuchungsbeschluss; hier: Anonyme Anzeige; Aktenvollständigkeit und -wahrheit. Nach einem Wohnungseinbruchsdiebstahl ermittelte die Polizei zunächst erfolglos gegen Unbekannt. Dann veranlasste sie einen „Fahndungsaufruf“ in einer Tageszeitung, der auch Informationen zu Tatzeit und Tatort sowie zu Beutestücken enthielt. Sodann meldete sich bei der Polizei ein anonymer Anrufer, der den Beschwerdeführer mit der Tat in Verbindung brachte. Die Identität des Hinweisgebers wurde nicht ermittelt. Stattdessen erwirkte die StA beim zuständigen AG einen Durchsuchungsbeschluss. Dabei war in den dem Gericht vorliegenden Akten kein Hinweis auf den vorhergegangenen öffentlichen Fahndungsaufruf enthalten. Im Beschluss wurde der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer allein auf den anonymen Hinweis gestützt.

Die Durchsuchung hat gegen Art. 13 GG verstoßen, weil sie ohne einen zureichenden Anfangsverdacht erfolgte. Zwar kann dieser grundsätzlich auch durch anonyme Hinweise begründet werden. Diese müssen aber von beträchtlicher sachlicher Qualität sein. Daran fehlte es hier. Der Hinweisgeber bezog sich ausschließlich auf Tatsachen, die durch den öffentlichen Fahndungsaufruf bereits allgemein bekannt waren. Damit verlor die anonyme Anzeige aber nahezu ihr gesamtes Gewicht, denn es war möglich, wenn nicht sogar naheliegend, dass hier ein Unbekannter den Beschwerdeführer zu Unrecht denunzieren wollte. Die Polizei und StA hätten auch dafür Sorge tragen müssen, dass der öffentliche Fahndungsaufruf umgehend zu den Akten genommen wird, damit er dem Ermittlungsrichter bei seiner Entscheidung vorliegt. Dass dies nicht geschehen ist, begründet einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Prinzip der Aktenvollständigkeit, der eine ordnungsgemäße Prüfung durch den Ermittlungsrichter vereitelt hat. (BVerfG, Beschl. v. 14.7.2016 – 2 BvR 2474/14)

§§ 103, 105 StPO – Durchsuchung bei Dritten; hier: Bekanntgabe und Begründung von Ermittlungsmaßnahmen. Dem von einer Durchsuchungsmaßnahme nach § 103 StPO betroffenen Dritten ist grundsätzlich bei Vollzug der Maßnahme eine Ausfertigung des Anordnungsbeschlusses mit vollständiger Begründung auszuhändigen. Die Bekanntgabe der (vollständigen) Gründe kann in Ausnahmefällen bei einer Gefährdung des Untersuchungserfolgs oder entgegenstehender schutzwürdiger Belange des Beschuldigten vorläufig zurückgestellt werden. Die Zurückstellung der Bekanntgabe umfasst jedoch im Regelfall nicht die Mitteilung der Tatsachen, aus denen sich die Wahrscheinlichkeit ergibt, dass sich die gesuchten Gegenstände in den Räumlichkeiten des Drittbetroffenen befinden. (BGH, Beschl. v. 28.6.2017 – 1 BGs 148/17)

§ 147 Abs. 4 S. 2 StPO – Akteneinsicht; hier: Akteneinsicht in Datenträger mit TKÜ-Aufzeichnungen. Datenträger mit TKÜ-Aufzeichnungen stellen verkörperte Kopien dar, die nicht – aus Gründen des Substanz- und Integritätsschutzes von Beweisstücken – dem Mitgabeverbot unterliegen. Durch die Übergabe eines Datenträgers mit TKÜ-Aufzeichnungen seitens der StA an das Gericht werden diese Aktenbestandteile. Kopien eines solchen Datenträgers sind herausgabefähige Beweisstücke und können als Unterfall der Akteneinsicht dem Verteidiger ausgehändigt werden.

Das bloße Zugänglichmachung von TKÜ-Aufzeichnungen in den Räumen des Polizeipräsidiums verstößt grundsätzlich gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, da dies eine Benachteiligung des Gerichtes und der StA bedeute; notwendige Möglichkeit zur Kenntnisnahme. (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 10.1.2017 – 1 Ws 348/16)

§§ 249, 250 StPO – Grundsatz der persönlichen Vernehmung; hier: Verlesung von Daten aus einem Mobiltelefon oder einer SIM-Karte. Liest ein Sachverständiger mit Hilfe eines Anwendungsprogramms (gelöschte) Daten aus einem Handy oder einer SIM-Karte aus, die ansonsten nicht zu ermitteln gewesen wären, verstößt die Verlesung allein des die Datengewinnung dokumentierenden Extraktionsberichts und der einzelnen aufgefundenen Daten nicht gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO), auch wenn der Sachverständige selbst nicht angehört worden ist. (BGH, Beschl. v. 29.6.2016 – 2 StR 492/15)

III Sonstiges


Eine informative Darstellung zum Thema: „Die strafprozessuale Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung: Elektronische Überwachungsmaßnahmen mit Risiken für Beschuldigte und die Allgemeinheit“ von Prof. Dr. Frederik Roggan finden Sie in dem StV 12/2017, S. 821-829.

BGH moniert Beweiswürdigung des LG Berlin und kippt Mordurteil für Raser; Urteil v. 1.3.2018 – 4 StR 399/17; 4 StR 311/17; 4 StR 158/17; erneute Verurteilung wegen Mordes ist möglich, wohl aber unwahrscheinlich.