Der grausame Schrei der Eule

Von Martin Glauert, Kassel

Der beschauliche Ort Rye an der Südküste Englands ist ein beliebtes Touristenziel. Wenn man heute durch das idyllische, etwas verschlafene Nest schlendert, ahnt man nicht, dass dies einmal ein Zentrum der organisierten Kriminalität war


Mit seinen roten Ziegeldächern und dem warmen Backstein wirkt Rye aus der Ferne wie ein rostiges Juwel inmitten einer grünen Weidefläche. Das Meer ist zwei Meilen entfernt, doch wo heute Schafe grasen, brachen sich früher die Wellen. Rye war eine Hafenstadt, auf drei Seiten vom Meer umspült. Davon zeugen die alten hölzernen Lagerschuppen am Ortsrand, die Bootswerkstätten und die verlassene Werft. Bezaubernde enge Straßen winden sich durch den Ort, der sich seit dem Mittelalter kaum verändert hat. Die Holzhäuser sind kalkweiß getüncht, die Fensterrahmen schwarz abgesetzt. Alle haben einen eigenen Namen, liebevoll sind sie verziert. Auf einem runden Emailleschild rollt ein tätowierter Mann im gestreiften Hemd, mit Piratentuch und Augenbinde, ein hölzernes Fass vor sich her. „Smuggler’s Cottage„ heißt das traute Heim, und das ist kein Zufall. Das harmlose Rye war einst das berüchtigste Schmugglernest in ganz Kent. Wie konnte es dazu kommen?

Die Straßen haben sich seit dem Mittelalter kaum verändert


Bis zu Beginn des 14. Jahrhunderts herrschte freier Handel zwischen England und dem Kontinent. Dann aber kam König Edward I. auf die Idee, eine Steuer auf die Ausfuhr von Wolle, Tuch und Leder einzuführen, um seine Kriege gegen Frankreich zu finanzieren. Auch auf den Import von Wein, Rum, Schmuck und Tee wurden plötzlich Zölle erhoben, die in den großen Häfen entlang der Küste von Beamten eingetrieben wurden. Das war die Geburtsstunde des Schmuggels, der schon bald in zwei Richtungen – mit doppeltem Profit – erfolgte. Das Zollsystem schuf den Schmuggler, und mit ihm ungewollt ein Problem, das die gesellschaftliche Ordnung des Landes in den Grundfesten erschüttern sollte: die organisierte Kriminalität.

Wer kontrolliert die Kontrolleure?


Zunächst verfielen die Händler auf eine zwar illegale, aber einvernehmliche Handhabung der neuen Situation: sie bestachen einfach die Zöllner im Hafen. Die gingen gerne darauf ein, da sie sehr schlecht bezahlt wurden und auf diese Weise ihr ärmliches Gehalt aufbessern konnten. Die Korruption nahm bald solche Ausmaße an, dass ein Kontrolleur ernannt wurde, der die Zolleintreiber in jedem Hafen überwachen sollte. Doch auch der Kontrolleur war käuflich. Also wurde ein weiterer Beamter ernannt, der Supervisor, der ein strenges Auge auf die beiden anderen haben sollte. So wuchs die Anzahl der Beamten ständig an, die Zolleinnahmen leider nicht, nur die Kaufleute mussten immer höhere Bestechungsgelder zahlen.
Dann kam der Schmuggler ins Spiel. Anfangs waren es nur einzelne Küstenbewohner, die unbemerkt ihre Schafwolle außer Landes brachten oder aber ein Fass Rum am Zoll vorbei nach Hause rollten. Aber genau wie heute galt schon damals: wo viel Geld zu verdienen ist, ist bald die Kriminalität im Spiel. Rasch übernahmen organisierte Banden das Geschäft. Die Aktionen liefen generalstabsmäßig ab, bis ins Detail geplant. War der Handel erst einmal vereinbart, wurde eine konkrete Stelle für das Anlegen des Schiffes ausgemacht. Zu einem genau festgelegten Zeitpunkt tauchten plötzlich bis zu 300 Männer mit Pferden und Karren gleichsam aus dem Nichts auf, um die Ladung aufzunehmen und fort zu schaffen. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Mit nahezu unheimlicher Präzision verschwand kurz darauf die Karawane im Dunkel, eskortiert von bewaffneten Reitern.
Anfangs wurde die Schmuggelware in den Kellern der Fischer und Bauern versteckt, manchmal sogar in Kirchtürmen. Bald schon nahm das Gewerbe aber solche Ausmaße an, dass die Verstecke nicht mehr ausreichten. Tee wurde tonnenweise angeliefert, ein Bericht über die Gegend von Rye schätzt, dass allein an diesem Küstenabschnitt jährlich anderthalb Millionen Liter Branntwein, Gin und Rum illegal eingeführt wurden. All das musste im Land verteilt werden, ohne aufzufallen.

Schmuggel als Wirtschaftsfaktor

Um die enorme logistische Herausforderung zu bewältigen, brauchten die Banden neben ihren eingefleischten Mitgliedern zusätzlich einen großen Stab kurzfristig einsatzbereiter Arbeiter, die sich in der Gegend bestens auskannten, einschließlich aller Pfade, Abkürzungen und Verstecke. Das aber war kein Problem. Die Bewohner der Küstenorte waren nur zu bereit, an dem profitablen Gewerbe teilzuhaben. Schon bald war nahezu jeder Mann in der Umgebung im Schmuggel involviert. Zeitweise waren die Bauern so sehr mit dem Schmuggel beschäftigt, dass es schwierig war, überhaupt noch genügend Arbeitskräfte zu finden, die das Land bewirtschafteten. Der Schmuggel entwickelte sich zu dem wichtigsten Wirtschaftszweig der Region. Sogar die Werften richteten sich darauf ein. Die Schiffsbauer von Rye wurden regelrechte Experten darin, Boote mit versteckten Abteilungen zu konstruieren. Der Schmuggler war in den Augen der Bevölkerung ein öffentlicher Wohltäter, schlimmstenfalls ein ehrlicher Dieb, aber sicher kein Verbrecher!
Und was konnte ihm schon passieren? Selbst wenn ein Schmuggler ergriffen wurde, war es kaum möglich, eine Verurteilung gegen ihn zu erwirken. Einige Rechtsanwälte hatten sich regelrecht auf die Verteidigung von Schmugglern spezialisiert. Sie verfügten über eine Kartei von 40-50 Männern, die gegen Bezahlung bereit waren, jeden gewünschten Eid auf ein Alibi zu leisten. Deshalb war der Zollankläger ständig auf der Suche nach Zeugen und Beweismaterial. Die meisten Zeugen aber verweigerten die Aussage, weil sie fürchteten, dass ihre Häuser dann aus Rache niedergebrannt würden. Wenn Drohungen nicht ausreichten, kauften die angeklagten Banden den Kronzeugen mit Schmiergeld oder räumten ihn ganz einfach aus dem Weg. Wenn ein Schmuggler trotz alledem doch einmal vor Gericht gebracht wurde, standen seine Chancen gut, ungeschoren davon zukommen. Schließlich waren oft genug die Geschworenen selbst im Gewerbe tätig.


Diese Eichendiele war Teil einer Gefängnistür aus dem 14. Jahrhundert


Die Banden bedienten sich verschlüsselter Kommunikationstechniken. Spezielle Laternen mit Rohren dienten als Lichtlampen, mit denen man über weite Strecken vereinbarte Signale austauschen konnte. Imitierte Eulenschreie vermittelten vereinbarte Kommandos, daher waren die Schmuggler im Volksmund bald nur noch als „Owlers„ bekannt, am ehesten mit „Euler„ zu übersetzen. Noch immer galten sie als schlitzohrige, clevere „Gentlemen„.

Blutiger offener Krieg


So harmlos blieb es allerdings nicht lange. Im Konkurrenzkampf untereinander und in der Abwehr polizeilicher Verfolgung radikalisierten sich die Schmuggelbanden rasch. Stöcke, Äxte und Messer hatten als Bewaffnung ausgedient und wurden durch Pistolen und Flinten ersetzt. Schon in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts war die Benutzung von Feuerwaffen üblich, „für die nächsten 150 Jahre tobte in Kent regelrecht ein offener Krieg!“, beschreibt es der Historiker Kenneth Clark. Bis zu den Zähnen bewaffnet, führten die Banden ganze Karawanen schwer beladener Pferde durch die Wiesen der Romney Marsh und waren bereit, jeden zu töten, der ihnen in die Quere kam. Es war durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, wenn sich am helllichten Tag Konvois von mehr als 100 Packtieren über Land Richtung London bewegten, eskortiert von bewaffneten Wachen.

Motorrad Clubs sind noch heute stolz auf die gesetzlose Vergangenheit


Was tat denn die Polizei, wo doch vor ihren Augen große Privatarmeen der Schmuggler den Frieden und die gesamte öffentliche Ordnung in den südlichen Grafschaften zerstörten? Die Antwort ist so kurz wie bitter: die Staatsgewalt kam einfach nicht dagegen an. In einem Bericht von 1736 wird die Anzahl der Zollbeamten, die in den vorausgegangenen zwölf Jahren geschlagen, verletzt oder misshandelt wurden, mit „nicht weniger als 250„ angegeben, „sechs weitere wurden in der Ausübung ihrer Pflicht ermordet.„
Besonders berüchtigt für ihre Brutalität und Dreistigkeit war die Hawkhurst Gang, die zu ihrer besten Zeit die gesamte Südküste kontrollierte. Wenn eine Schmuggelaktion geplant war, konnte sie innerhalb einer Stunde 500 berittene und bewaffnete Männer zusammentrommeln. Mehr als einmal überfielen sie Zoll- und Polizeistationen, erschossen kaltblütig die Beamten und holten sich die konfiszierte Schmuggelware skrupellos zurück. Ihr beliebtester Treffpunkt war das Mermaid Inn im Zentrum von Rye, das heute noch genauso aussieht wie damals. Ein steiler Fußweg aus groben Kieselsteinen führt zu dem niedrigen Haus mit weiß gekalkten Mauern und schwarzem Fachwerk. Alter Wein rankt an den Wänden hoch, vor dem Eingang stehen bunte Blumenkübel. Durch kleine Bleiglasfenster kann man in die Wirtsstube hineinschauen. Hier saßen die Spießgesellen in aller Öffentlichkeit vergnügt beieinander, rauchten ihre Pfeifen und zechten hemmungslos, während die geladenen Pistolen vor ihnen auf dem Tisch lagen. Man muss das einmal in die heutige Zeit übertragen, um die Dreistigkeit ermessen zu können: da sitzt im Ratskeller, mitten zwischen der bürgerlichen Sonntagsgesellschaft, eine landesweit bekannte, mit Steckbriefen gesuchte Bande aus Dieben und Mördern. Rücksichtslos lärmend betrinken sie sich und rauchen einen Joint, während die Kalaschnikows vor ihnen offen auf dem Tisch liegen!

Das trübe Auge des Gesetzes


Das alles geschah direkt unter den Augen der Polizei, deren Wache genau gegenüber lag. Die „East Sussex Police Station„ ist ein verschlafenes Backsteinhaus mit einem verwilderten Rosengarten, wie aus einem niedlichen Bilderbuch. Heute gibt es offensichtlich außer ein paar Taschendiebstählen nichts zu tun. Früher dagegen schon, aber niemand wagte, sich mit der Bande anzulegen. Das wäre ein Selbstmordkommando gewesen, denn es war einfach nicht genügend Personal vorhanden. So berichtete der Supervisor 1770, dass nur zwei Dragoner und ein Fußsoldat dort einquartiert seien, um die Zollbeamten zu unterstützen. Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges wurde die Personaldecke noch dünner, nahezu alle Soldaten wurden abgezogen, um in der Neuen Welt zu kämpfen. Der Schmuggel blühte regelrecht auf. Lord Pembroke fragte 1781 im Parlament: „Wird Washington Amerika erobern oder noch vorher die Schmuggler England? Das ist eine Wette mit unsicherem Ausgang!„
Viele Bewohner der Küste profitierten vom Schmuggel, den meisten braven Bürgern aber war sicherlich unwohl bei all den kriminellen Aktivitäten um sie herum. Selbst wenn sie in ihren vier Wänden saßen, verspürten sie eine lähmende Angst vor dem Verbrechen, das sich draußen auf der Straße direkt unter ihren Fenstern abspielte. Sehr eindrucksvoll schildert Rudyard Kipling, der selbst nur wenige Meilen entfernt wohnte, die lähmende Furcht in seinem Gedicht „Lied der Schmuggler„. Eine Strophe ist in großen Buchstaben ausgerechnet an die Wand des Mermaid Inn gemalt, im Innenhof, wo früher die Pferde der Gangster angebunden waren. In Englisch klingt es poetischer und gereimt, aber auch in der Übersetzung kommt die beklemmende Stimmung herüber:


„Wachst Du um Mitternacht auf
und Pferdehufe hörst,
zieh nicht den Vorhang auf,
schau nicht zur Straße raus.
Wer keine Fragen stellt,
der hört auch keine Lügen.
Dreh dich zur Wand, mein Liebling,
wenn die Gentlemen draußen vorbeizieh‘n.

Fünfundzwanzig Ponys
trotten durch die Nacht,
Brandy für den Pfarrer,
Tabak mitgebracht,
Halsband für die Lady,
Brief für den Spion,
Dreh dich zur Wand, mein Liebling,
die Gentlemen gehen schon."



Dann aber treibt es die Hawkhurst Gang auf die Spitze. Gerade haben sie eine Zollstation überfallen und konfiszierte Ware geraubt. Im Pub genehmigen sie sich ein kräftiges Frühstück und feiern den Erfolg. Ein alter Bekannter sitzt am Tisch, Daniel Chater, man kommt ins Gespräch und Chater bekommt ein Päckchen Tee geschenkt. Das wird dem guten Mann zum Verhängnis. Er wird kurz darauf als Mittäter verhaftet und soll von dem Zollbeamten William Galley ins Gefängnis nach Poole gebracht werden. Beide kommen niemals dort an. Die Bande fängt sie ab, fesselt sie und schlägt so lange mit Peitschen auf sie ein, bis Galley stirbt. Daniel Chater gilt als lästiger Zeuge. Er ist noch bei Bewusstsein, als man ihn lebendig in einem Fuchsbau begräbt.

Die Bürger wehren sich


Das ist zu viel! Ein Aufschrei geht durch das ganze Land. Die London Gazette veröffentlicht die Namen notorischer Schmuggler und gibt ihnen 40 Tage Zeit, sich zu stellen, anderenfalls werden 500 Pfund Sterling Kopfgeld auf jeden ausgesetzt. Auch die Stimmung in der Bevölkerung wendet sich gegen die Tyrannei der organisierten Banden. In dem kleinen Dorf Goudhurst, in direkter Nachbarschaft zur Heimat der Hawkhurst Gang, formiert sich eine Bürgerwehr unter dem ehemaligen Armeekorporal George Sturt. Das treibt die Bande zur Weißglut. Ihr Anführer, Thomas Kingsmill, droht an, Goudhurst niederzubrennen und alle Einwohner zu töten. Am 21. April 1747 kommt es zum Gefecht. Die berüchtigte Hawkhurst Gang wird geschlagen, ihre Anführer fünf Tage später verurteilt und gehängt.
100 Jahre sollte es noch dauern, bis der Schmuggel und die organisierte Kriminalität in Südengland besiegt werden konnten. 1831 wurde eine gut bewaffnete und disziplinierte Küstenwache ins Leben gerufen. Die Polizeikräfte im Land wurden verstärkt, über neue Straßenwege konnten sie nun schneller zum Einsatzort gelangen. Die effektivste Maßnahme aber war die Abschaffung der meisten Zölle im Rahmen einer neuen Freihandelspolitik. Die Zollreform von 1853 führte nahezu über Nacht zu einem Ende des Schmuggels.

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Abbildungen 1 - 3 Glauert