Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§ 183 StGB – Exhibitionistische Handlungen; hier: Auslegung des Begriffs der exhibitionistischen Handlung. § 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB – Körperverletzung; hier: Anspucken – Vorsatz hinsichtlich Brechreiz? §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, (§ 250 Abs. 2 Nr. 1) StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Beschuhter Fuß als anderes gefährliches Werkzeug.(...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§ 183 StGB – Exhibitionistische Handlungen; hier: Auslegung des Begriffs der exhibitionistischen Handlung. Der Angeklagte (A.) war als Angestellter der Bundesagentur für Arbeit als Fallmanager im Bereich Stellenvermittlung für die unter 25-jährigen Arbeitssuchenden zuständig. Eine Zeugin, die die Ausbildungsstelle ihres älteren Sohnes in Gefahr sah, fing bei einem Gespräch mit A. an zu weinen und legte ihren Kopf auf die Tischplatte des Besuchertisches in seinem Büro. Der A. öffnete den Reißverschluss seiner Hose, entblößte seinen erigierten Penis und schob seinen Schreibtischstuhl neben die Zeugin. Um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken, erklärte er ihr, sie brauche nicht mehr zu weinen. Damit – gemeint war sein Penis – könne sie glücklich sein. Dabei erhoffte er sich nicht den Geschlechtsverkehr mit der Zeugin, sondern durch die Reaktion der Frau eine Steigerung seiner sexuellen Befriedigung. Eine weitere Zeugin bestellte er in sein Büro. Er fragte sie, ob sie einen Freund habe und machte ihr Komplimente. Der A. war sexuell erregt und forderte die Nebenklägerin auf, „komm, lass uns küssen“. Unter anderem entblößte er sein erigiertes Geschlechtsteil und forderte die Zeugin auf, ihm zuzuschauen.
Eine exhibitionistische Handlung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Täter einem anderen ohne dessen Einverständnis sein entblößtes Glied vorweist, um sich dadurch oder zusätzlich durch Beobachten der Reaktion der anderen Person oder durch Masturbieren sexuell zu erregen, seine Erregung zu steigern oder zu befriedigen. Die Tathandlung liegt in dem Vorzeigen des entblößten Gliedes mit dem Ziel des hierdurch bewirkten sexuellen Lustgewinns. Dass der Täter sein Geschlechtsteil bereits zu diesem Zweck entblößt hat, setzt die Vorschrift hingegen nicht voraus. Vielmehr kann auch ein Täter, der sein Glied zuvor etwa zum Zwecke des Urinierens frei gemacht hat oder der aus sonstigen Gründen nackt herumläuft, die Tathandlung begehen, wenn er sich in bereits entblößtem Zustand entschließt, einem anderen ohne dessen Einverständnis sein Glied zum Zwecke des sexuellen Lustgewinns zu präsentieren. (BGH, Urt. v. 29.01.2015 – 4 StR 424/14)

§ 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB – Körperverletzung; hier: Anspucken – Vorsatz hinsichtlich Brechreiz? Der Angeklagte (A.) titulierte den Kriminalhauptkommissar S. zunächst unter anderem mit den Worten „Arschloch“ und „Wichser“ und spuckte sodann zweimal in dessen Richtung, wobei der zweite Auswurf diesen im Gesicht traf. Dies erzeugte beim Beamten starke Ekelgefühle und Brechreiz, die bis in die Abendstunden anhielten. Bei seinem Handeln wollte der A. den Zeugen in dessen Ehre herabsetzen, ihn erniedrigen und nahm die bei diesem eingetretenen Ekelgefühle billigend in Kauf.
Eine körperliche Misshandlung ist jede üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt. Seelische Beeinträchtigungen als solche genügen nicht; nötig sind vielmehr körperliche Auswirkungen. Danach erfüllt vorliegend zwar nicht die bloße Erregung von Ekelgefühlen, jedoch das Hervorrufen von Brechreiz das Tatbestandsmerkmal. Einen auf die Verursachung von Brechreiz bezogenen Vorsatz des A. hat die Strafkammer indes nicht festgestellt, weshalb die Verurteilung wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung keinen Bestand haben kann. (BGH, Beschl. v. 18.08.2015 – Az.: 3 StR 289/15)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, (§ 250 Abs. 2 Nr. 1) StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Beschuhter Fuß als anderes gefährliches Werkzeug. Die vier Angeklagten (A.) fragten Passanten aufdringlich nach Zigaretten. Ein späteres Opfer, Zeuge K., empfand diese Situation als besonders bedrohlich, zumal ihm die A. angetrunken zu sein schienen und wollte sich entfernen. Zwei A. folgten ihm, holten ihn rasch ein und hinderten ihn am Weitergehen. Ein A. forderte ihn unter Androhung von Schlägen auf, Geld herauszugeben. Ohne dessen Reaktion abzuwarten, griff er K. an und brachte ihn zu Boden. Um den Geschädigten am Boden zu halten und ihn weiter einzuschüchtern sowie sich mit Gewalt dessen Geld zu verschaffen, setzte ein A. seinen mit Halbschuhen beschuhten Fuß auf den Hals des auf dem Rücken liegenden K. Dann drückte er seinen Fuß so fest gegen den Hals, dass dem Geschädigten schwarz vor Augen wurde und die Profile des Schuhs sich an seinem Hals abbildeten. Um fester zudrücken zu können, hielt sich der A. an zwei Stämmen fest, zwischen denen der Geschädigte auf dem Boden lag. Der K. versuchte mit beiden Händen den Fuß des Angreifers nach oben zu drücken, was ihm nicht gelang, wodurch er jedoch den Druck abschwächen konnte. Währenddessen durchsuchte ein anderer A. die Taschen des Geschädigten, fand dessen Portemonnaie und nahm daraus zehn Euro an sich.
Der Einsatz eines beschuhten Fußes kann im Einzelfall die Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs darstellen, wenn es sich um festes Schuhwerk handelt und die Art der Verwendung, insbesondere bei Tritten gegen bestimmte Körperteile, erwarten lässt, dass dadurch erhebliche Verletzungen entstehen. Wird dagegen – wie hier – der Fuß des Täters gegen den Hals des Opfers gedrückt, kommt dem Schuh keine besondere Bedeutung dafür zu, ob dem Opfer erhebliche Verletzungen beigebracht werden. Die Wirkung dieser Handlung hängt vielmehr vor allem von dem Druck ab, den der Fuß auf den Hals ausübt. Der Druck wurde im vorliegenden Fall dadurch erhöht, dass der A. sich an den Stämmen festhielt. Auf die Tatsache, dass er Halbschuhe trug, kam es insoweit nicht an. Ebenso war es nicht von besonderer Bedeutung, dass sich das Profil des Schuhs am Hals abbildete und deshalb auch dieser Schuh später bei der Durchsuchung der Wohnung des A. als Tatwerkzeug identifiziert werden konnte. Nähere Feststellungen zu einer besonderen Bedeutung des Einsatzes des Schuhs gegen den Hals des Opfers im Hinblick auf die Gefahr erheblicher Verletzungen hat das Landgericht nicht getroffen. (BGH, Beschl. v. 16.06.2015 – 2 StR 467/14)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4, (§§ 253, 255) StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Gemeinschaftlich. Der Angeklagte (A.) – wie zuvor mit dem gesondert Verfolgten E. abgesprochen – agierte als „Lockvogel“. Er führte das Opfer (O.) und dessen Frau an einem Gebüsch vorbei, in dem sich E. und ein weiterer Mittäter versteckt hielten. Beim Passieren der Stelle sprangen E. und der Mittäter, der sich im Folgenden allerdings absprachewidrig passiv verhielt, unvermittelt aus dem Gebüsch, um – wie von Anfang an geplant – O. zu berauben und dabei gegebenenfalls auch Gewalt anzuwenden. Der gesondert Verfolgte E. versetzte dem O. sofort einen Faustschlag und forderte die Herausgabe des mitgeführten Geldes. Der A. beteiligte sich an dem Angriff auf O. nicht eigenhändig; vielmehr brachte er die Ehefrau des O., die fliehen wollte, zu Fall und drohte ihr, er werde „die Knarre“ zücken, wenn sie nicht liegenbleibe.
Der BGH stellte fest, dass es an der gemeinschaftlichen Begehungsweise im Sinne der Vorschrift fehle: Diese Voraussetzung sei nur erfüllt, wenn Täter und Beteiligter bei Begehung der Körperverletzung einverständlich zusammenwirken. Daran fehlt es jedoch, wenn sich – wie hier der O. und seine Frau – mehrere Opfer jeweils nur einem Angreifer ausgesetzt sehen, ohne dass die Positionen ausgetauscht werden. Denn in diesem Fall stehen dem jeweiligen Opfer die Beteiligten gerade nicht gemeinschaftlich gegenüber. Damit fehlt es an dem Grund für die Strafschärfung des § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB, der in der erhöhten abstrakten Gefährlichkeit der Tat liegt, weil einem Geschädigten mehrere Angreifer körperlich gegenüber stehen und er deshalb in seiner Verteidigungsmöglichkeit tatsächlich oder vermeintlich eingeschränkt ist. (BGH, Beschl. v. 30.06.2015 – 3 StR 171/15)

II. Prozessuales Strafrecht


Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) – Recht auf ein faires Verfahren; hier: Rechtsstaatswidrige Provokation. Es bestand ein vager Tatverdacht gegen zwei Männer, diese könnten in Geldwäsche- und Betäubungsmittelstraftaten verstrickt sein. Nachdem eine langfristige Observation sowie umfangreiche Überwachungsmaßnahmen diesen Verdacht nicht bestätigt hatten, setzte die Polizei mehrere verdeckte Ermittler aus Deutschland und den Niederlanden ein, die über einen Zeitraum von mehreren Monaten versuchten, die Beschuldigten dazu zu bringen, ihnen große Mengen „Ecstasy“-Tabletten aus den Niederlanden zu besorgen. Die Beschuldigten weigerten sich, dies zu tun. Erst als einer der Verdeckten Ermittler drohend auftrat und ein anderer wahrheitswidrig behauptete, wenn er seinen Hinterleuten das Rauschgift nicht besorge, werde seine Familie mit dem Tod bedroht, halfen die Beschuldigten in zwei Fällen ohne jedes Entgelt bei der Beschaffung und Einfuhr von Ecstasy aus den Niederlanden.
Die rechtsstaatswidrige Provokation einer Straftat durch Angehörige von Strafverfolgungsbehörden oder von ihnen gelenkte Dritte hat regelmäßig ein Verfahrenshindernis zur Folge. (BGH, Urt. v. 10.06.2015 – 2 StR 97/14)

§§ 94, 102, 105 StPO – Beschlagnahme und Durchsuchung; hier: Offene Durchführung bei auf einem Mailserver gespeicherten Daten, Benachrichtigungspflicht. Bei der Beschlagnahme von auf einem Mailserver eines Providers gespeicherten Daten handelt es sich um eine offene Ermittlungsmaßnahme, deren Anordnung den davon Betroffenen und den Verfahrensbeteiligten bekannt zu machen ist (§§ 33 Abs. 1, 35 Abs. 2 StPO). Eine Zurückstellung der Benachrichtigung wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks sieht die Strafprozessordnung für diese Untersuchungshandlung – anders als § 101 Abs. 5 StPO für die in § 101 Abs. 1 StPO abschließend aufgeführten heimlichen Ermittlungsmaßnahmen – nicht vor.
Der Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht führt nicht zu einem Verwertungsverbot. Anders könnte es allerdings für den Fall liegen, dass die Strafverfolgungsbehörden die Benachrichtigung deshalb unterlassen, weil sie beabsichtigen, den Eingriff – unter den erleichterten Voraussetzungen der §§ 94, 98 StPO – in zeitlichem Abstand zu wiederholen. (BGH, Beschl. v. 04.08.2015 – 3 StR 162/15)

III. Sonstiges

 Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften, § 184b StGB; hier: Änderung der Rechtslage. In der Kriminalpolizei 03/2016, S. 34, ist der BGH-Beschluss v. 03.12.2014 – 4 StR 342/14, „§ 184b StGB – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften; hier: Anforderungen an die Besitzverschaffung an einer kinderpornografischen Schrift“, dargestellt. Seit dem Inkrafttreten des 49. Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches am 27.01.2015 (BT-Drucksache 18/2601) gilt die Neufassung des § 184b StGB. Dieser enthält unter Abs. 1, Ziffer 1, erstmals eine Legaldefinition des Begriffs „kinderpornografische Schrift“, durch die die Strafbarkeit auch auf solche Aufnahmen ausgedehnt wird, die bspw. ein auch nur teilweise unbekleidetes Kind in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung bzw. bereits die sexuell aufreizende Wiedergabe des unbekleideten Gesäßes eines Kindes beinhalten. Aus der Begründung der BT-Drucksache (S. 29/30) ergibt sich unter anderem: „Um auch unwillkürlich eingenommene geschlechtsbetonte Körperhaltungen, etwa durch ein schlafendes Kind, strafrechtlich in § 184b StGB zu erfassen, soll es nicht mehr auf das Einnehmen dieser Körperhaltung als sexuelle Handlung ankommen, sondern lediglich auf die Körperhaltung selbst.“

Zur Thematik: Computerbetrug (§ 263a StGB). Ein lehrreicher Beitrag mit vielen Fallbeispielen von Privatdozentin Dr. Erika Kraatz in der Zeitschrift Juristische Ausbildung, JURA 2016 (Heft 8) S. 875-883. Zum Thema: Bitcoins und Botnetze – Strafbarkeit und Vermögensabschöpfung wurde durch OStAin b. BGH Dr. Sonja Heine in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht NStZ 08/2016, S. 441-446 veröffentlicht; insb. die Strafbarkeit gem. § 303a StGB (Datenveränderung) wird dargestellt und i. E. bejaht.

Mordprozess nach illegalem Autorennen. Das LG Berlin hat gegen zwei Autofahrer eine Anklage wegen Mordes zugelassen. Ein Wagen hatte während des Rennens auf dem „Ku´damm“ Tempo 160 drauf, als er mit einem Jeep kollidierte. Dessen Fahrer starb noch an der Unfallstelle.