Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§§ 211, 22, 23 StGB – Versuchter Mord; hier: Zufahren mit Vollgas auf Polizeibeamte impliziert nicht zwingend bedingten Tötungsvorsatz bei objektiv gefährlicher Tathandlung. §§ 212, 15, 22, 23 StGB – Bedingter Tötungsvorsatz; hier: Messerschnitt durch das Gesicht. §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB – Schwerer Raub; hier: „Beisichführen“ eines gefährlichen Werkzeuges auch bei Messer aus Tatbeute. § 263a Abs. 1 Alt. 2 StGB – Computerbetrug; hier: Beantragung Mahn- und Vollstreckungsbescheid. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§§ 211, 22, 23 StGB – Versuchter Mord; hier: Zufahren mit Vollgas auf Polizeibeamte impliziert nicht zwingend bedingten Tötungsvorsatz bei objektiv gefährlicher Tathandlung. Der Angeklagte (A.) befuhr mit seinem Pkw Mercedes Kombi alkoholisiert und ohne Fahrerlaubnis öffentliche Straßen. Schließlich konnte er von der Polizei gestoppt werden. Sodann rangierte er mehrmals hin und her. Die Polizeibeamtin (Z.) musste mehrere Schritte zurückgehen, um nicht zwischen dem Pkw des A. und einem am Fahrbahnrand geparkten Pkw eingeklemmt zu werden. Sodann fuhr er der Z. über den rechten Fuß und stieß gegen das Dienstfahrzeug der Polizei. Die Z. begab sich schließlich vor den Pkw des A. und forderte ihn aus einem Abstand von zwei bis vier Metern zum Anhalten auf. Der A. fuhr nun, auch diese Aufforderung missachtend, mit Vollgas an und flüchtete. Die Z. konnte sich durch einen Sprung zur Seite und ein seitliches Wegdrehen in Sicherheit bringen, wurde jedoch von der vorderen rechten Stoßstange des Pkw des A. im Bereich des linken Knies erfasst. Dadurch erlitt sie Abschürfungen sowie Schmerzen. Dem A. kam es bei diesem Vorgehen allein darauf an, sich der Polizeikontrolle zu entziehen, um seine Identifizierung und die Feststellung seiner Alkoholisierung zu verhindern. Er nahm dabei in Kauf, dass er die Z. mit dem Pkw anfuhr, dass sie unter den Pkw geriet oder unglücklich zu Boden stürzte, wodurch sie schwere, möglicherweise sogar tödliche Verletzungen erleiden könnte. Hierzu kam es nur deshalb nicht, weil die Z. sehr schnell reagierte und es ihr gelang auszuweichen.
Das LG erkannte u.a. auf versuchten Mord. Das sah der BGH jedoch anders: Nach den vom LG für schlüssig und nachvollziehbar erachteten Ausführungen eines Kfz-Sachverständigen vermochte der A. seinen Pkw bis zum Standort der Z. maximal auf 16 km/h zu beschleunigen. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Gefahrerkennungs- und Reaktionszeit verblieb der Z. eine Zeitspanne von wenigstens einer Sekunde, um sich in Sicherheit zu bringen. In dieser Zeit konnte sie mindestens einen Meter zurücklegen. Da tödliche Aufprallverletzungen erst ab einer Geschwindigkeit von 40 km/h zu erwarten seien, wurden tödliche Folgen von dem Sachverständigen nur für den Fall in Betracht gezogen, dass es zu einem Sturz der Z. nach hinten (etwa in Folge eines Stolperns oder Abstoßens von der Motorhaube) und danach zu einem Überrollen durch den Pkw des A. gekommen wäre. Ein medizinischer Sachverständiger hat tödliche Verletzungen daneben auch für den Fall für „denkbar“ gehalten, dass die Z. auf die Motorhaube aufgeladen worden wäre und sich daran ein Sturz von der Motorhaube mit unglücklichem Aufprall angeschlossen hätte. Auch diesen Ausführungen ist das LG gefolgt. Weder die Angaben des Sachverständigen, noch diejenigen des medizinischen Sachverständigen belegen, dass das Leben der Z. so konkret und erheblich in Gefahr gebracht worden ist, dass daraus ohne ergänzende Erwägungen der Schluss gezogen werden könnte, der A. habe – entgegen seiner anderslautenden Erklärung in der Hauptverhandlung – ein ernst zu nehmendes Todesrisiko für gegeben erachtet und in Kauf genommen. Daraus folge, dass die Erwägung, A habe aufgrund der Gesamtsituation nicht darauf vertrauen können, dass sich die Z. rechtzeitig in Sicherheit bringen würde, und deshalb damit rechnen müssen, dass es bei ihr zu schweren oder gar tödlichen Verletzungen kommen konnte, in dem mitgeteilten Beweisergebnis keine ausreichende Stütze findet. (BGH, Beschl. v. 09.10.2013 – 4 StR 364/13)

§§ 212, 15, 22, 23 StGB – Bedingter Tötungsvorsatz; hier: Messerschnitt durch das Gesicht. Am 08.07.11 tötete der Angeklagte (A.) die Mutter seiner Ehefrau (E.). Er wurde noch am Tattag vorläufig festgenommen, in der Folge aber mangels dringenden Tatverdachts wieder freigelassen. Die E., die den A. trotzdem der Täterschaft verdächtigte, trennte sich von ihm und zog in eine andere Wohnung. Am 07.01.12 begegneten sich A. und E. in einem Lebensmittel-Markt. Als A. sie ansprach, antwortete diese nicht, sondern zahlte, und verließ mit den von ihr gekauften Gegenständen den Markt. Er folgte ihr und rief ihr etwas hinterher, was die Geschädigte auf Grund ihrer Schwerhörigkeit nicht verstand. Schließlich holte er sie ein. Er „umgriff sie von hinten und schnitt ihr mit einem mitgebrachten klappbaren Rasiermesser mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm von hinten in Höhe des rechten Auges durch das Gesicht“. Die Geschädigte erlitt eine ca. 15 cm lange, über der Mitte des rechten Oberlides beginnende und in einem leichten Abwärtsbogen bis zum rechten Ohr verlaufende Schnittwunde. Weder das Auge noch die in der Kopf- bzw. Halsregion verlaufenden lebenswichtigen Blutgefäße wurden verletzt. Die Geschädigte konnte sich aus der Umklammerung befreien, wobei sie sich eine Abwehrverletzung am linken Daumen zuzog, und in ihre nahegelegene Wohnung flüchten. A. erkannte, dass er auf Grund seiner bestehenden Gehbehinderung nicht in der Lage war, die E. einzuholen, und warf das bei der Tat zerbrochene Rasiermesser in ein Gebüsch.
Das LG erkannte u.a. auf bedingten Tötungsvorsatz. Das sah der BGH jedoch anders: Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und ihn billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen mit ihm abfindet. Da die Schuldformen des bedingten Vorsatzes und der bewussten Fahrlässigkeit im Grenzbereich eng beieinander liegen, müssen vor der Annahme bedingten Vorsatzes beide Elemente der inneren Tatseite, also sowohl das Willens- als auch das Wissenselement, umfassend geprüft und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände des Einzelfalls, in die die objektive Gefährlichkeit der Gewalthandlung, aber auch die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motive mit einzubeziehen sind.
Das LG stellt zwar im Ausgangspunkt zutreffend darauf ab, dass bei einem hochgradig dynamischen Geschehen der Täter zu einer schonenden Dosierung seines Messerstichs in aller Regel nicht in der Lage ist. Ungeachtet des Umstands, dass es sich vorliegend nicht um einen Messerstich, sondern um einen Schnitt handelte, ist ein „hochdynamisches“ Geschehen aber durch die insoweit unklaren Feststellungen nicht belegt. Insoweit ist nur festgestellt, dass der A. die vor ihm gehende E. von hinten umgriff, bevor er sie mit dem Rasiermesser verletzte. Nähere Einzelheiten zur Position der Geschädigten, zur Art des Umgreifens – insbesondere ob und inwieweit der Kopf der Nebenklägerin dadurch fixiert war – sowie zur Schnelligkeit der Schnittbewegung werden nicht mitgeteilt. Der Senat kann die Bewertung des Tatgeschehens als „hochgradig dynamisch“ und für den A. unkontrollierbar daher nicht nachprüfen. (BGH, Beschl. v. 13.08.2013 – 2 StR 180/13)

§§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB – Schwerer Raub; hier: „Beisichführen“ eines gefährlichen Werkzeuges auch bei Messer aus Tatbeute. Der Angeklagte (A.) und der Mitangeklagte (M.) begaben sich am Tattag gemeinsam zur Wohnung des Nebenklägers (N.), um diesem – über einen Geldbetrag hinaus, den er dem A. schuldete – unter Anwendung von Gewalt weitere Wertgegenstände abzunehmen. Wie zuvor zwischen den Angeklagten ebenfalls verabredet, drängte der A. den N. in die Wohnung, schlug ihn mehrfach ins Gesicht und würgte ihn, sodass dessen Zungenbein brach. Entsprechend dem gemeinsamen Tatplan bewachte sodann der M. den N., während der A. die Wohnung nach Wertgegenständen durchsuchte. Danach nahm der A. Bargeld und Gegenstände des N. – unter anderem einen Messerblock mit fünf Messern – an sich, um diese zu behalten oder zu verwerten. Nachdem A. und N. die Wohnung mit der Beute verlassen hatten, rief der erheblich verletzte N. die Polizei.
Für die Erfüllung des Tatbestands des § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB ist es nicht erforderlich, dass sich der Täter mit einem der dort bezeichneten Gegenstände zum Tatort begibt. Vielmehr genügt es, dass er einen solchen zu irgendeinem Zeitpunkt während der Tatausführung bei sich führt. Ausreichend ist daher auch, dass sich der Täter erst während der Tat und aus der Tatbeute mit einem solchen Werkzeug versieht. (BGH, Beschl. v. 17.10.2013 – 3 StR 263/13)

§ 263a Abs. 1 Alt. 2 StGB – Computerbetrug; hier: Beantragung Mahn- und Vollstreckungsbescheid.
Die Angeklagte (A.) beantragte beim AG im automatisierten Mahnverfahren einen Mahnbescheid über eine Hauptforderung in Höhe von 180.960 Euro gegen eine B. GbR mbH. Als Anspruchsgrund gab sie einen „Dienstleistungsvertrag gem. Rechnung vom 02.11.06“ an. Dabei war ihr bewusst, dass ein solcher Vertrag tatsächlich nicht geschlossen worden war und ihr deshalb keine Ansprüche gegen die Antragsgegnerin zustanden. Der antragsgemäß erlassene Mahnbescheid wurde entsprechend den Angaben der A. der früheren Mitangeklagten U. B. (ihrer Mutter) unter deren Wohnanschrift zugestellt, die – obgleich sie als Mitgesellschafterin der B. GbR mbH dazu verpflichtet gewesen wäre – abredegemäß keinen Widerspruch einlegte und auch die weitere Mitgesellschafterin nicht von dem Mahnbescheid informierte. Nachdem die A. auf die gleiche Weise auch einen Vollstreckungsbescheid erwirkt hatte, beantragte sie auf dessen Grundlage einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss in Bezug auf Forderungen der B. GbR mbH gegen eine Bank. Nach dessen antragsgemäßen Erlass wurden 184.324,60 Euro gepfändet und auf ein Konto der A. überwiesen.
Die Beantragung eines Mahn- und eines Vollstreckungsbescheides im automatisierten Mahnverfahren auf der Grundlage einer fingierten, tatsächlich nicht bestehenden Forderung stellt keinen Betrug sondern eine Verwendung unrichtiger Daten im Sinne des § 263a Abs. 1, Alt. 2 StGB dar. (BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13)

II. Prozessuales Strafrecht


§ 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO – Zeugnisverweigerungsrecht des Rechtsanwalts; hier: Reichweite des berufsbezogenen Vertrauensverhältnisses. Bekannt geworden i.S.d. § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO ist dem Berufsausübenden all das, was ihm in anderer Weise als durch Anvertrauen im Sinne des Mitteilens in der erkennbaren Erwartung des Stillschweigens in funktionalem Zusammenhang mit seiner Berufsausübung zur Kenntnis gelangt, unabhängig davon, von wem, aus welchem Grund oder zu welchem Zweck er sein Wissen erworben hat; auch das „Anbahnungsverhältnis“ mit dem Beschuldigten, egal von wem die Gesprächsinitiative ausgeht und ob es anschließend zu einem zivilrechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrag kommt. (BGH, Beschl. v. 18.02.2014 – StB 8/13)

III. Sonstiges


Zur Thematik: Inkludiert der Haftbefehl die stillschweigende Durchsuchungsanordnung im Strafverfahren? Ein lesenswerter Beitrag von Dr. Ladiges in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht, NStZ 11/2014, S. 609-615, behandelt dieses Thema und kommt nachvollziehbar begründet, auch wenn dies nicht die Meinung gängiger Kommentare ist, zu dem Ergebnis, dass dies gerade nicht der Fall ist.Zur Thematik: Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers bei „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“. Zu dieser Thematik äußerst lesenswert das Urteil des Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg v. 15.05.2014 – Az.: 1 S 815/13 (auch im DVBl 2014, 1002-1006). Das Gericht beschäftigt sich eingehend mit der Thematik „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“. Im Ergebnis mit der (Landes-)Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der „Verhütung von Straftaten“ (sog. Verhinderungsvorsorge) und der (Bundes-)Gesetzgebungskompetenz im Hinblick auf die „Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten“ (sog. Strafverfolgungsvorsorge). Beide Begrifflichkeiten finden sich häufig in den Polizeigesetzen wieder; hier speziell in § 22 Abs. 2 und 3 PolGBaWü (Einsatz technischer Mittel zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten). Diese Norm hält der VGH – im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens – für nichtig.