Die Frauen der Hamas: Wer sie sind und warum sie partizipieren.


Von Islamwissenschaftlerin Britt Ziolkowski, Universität Hamburg

Seit dem jüngsten Gaza-Konflikt im Sommer 2014 ist die Hamas auch in Deutschland wieder in aller Munde. Doch gibt es in der breiten Bevölkerung nur wenig Wissen über die Bewegung. Bei denen durch die Medien verstärkten Imaginationen entspricht die Hamas einem terroristischen Monster, männerdominiert und militant. Zudem wird die Wahrnehmung auf einzelne Aspekte gelenkt, mit denen der Hamas Maßnahmen und Praktiken zugeschrieben werden, die das Leben der Frauen beschränken.

Hier finden wir Berichte über das Wasserpfeiffenverbot von Frauen in der Öffentlichkeit oder auch über das Bildungsgesetz aus dem Jahr 2013, mit dem die Geschlechtersegregation ab dem zehnten Lebensjahr für einen Teil der Schulen durchgesetzt werden sollte. Doch bei genauerer Betrachtung können wir feststellen, dass es bisher bei Maßnahmen auf diesem Level blieb: Hamas sind nicht die Taliban, unter denen Frauen Schulbildung und das Recht auf Arbeit verweigert wurden. Häufig greift das von den westlichen Medien transportierte Bild der Hamas und ihrer Frauenpolitik zu kurz. Das wird besonders deutlich, wenn man sich mit den Frauen der Hamas beschäftigt. Denn in der Tat gibt es eine Vielzahl von Palästinenserinnen, die nicht nur mit der Hamas sympathisieren, sondern sich aktiv engagieren. Dies ist vor allem für den Gaza-Streifen zu beobachten, wo die Hamas seit 2007 alleine regierte. Die Strukturen der gesamten Region richteten sich nach der islamistischen Organisation, was auch den Frauen umfangreiche Möglichkeiten zur Beteiligung gab. Im Westjordanland hatte die Bewegung seit der politischen Spaltung einen schweren Stand, Hamas-Mitglieder wurden immer wieder verhaftet, Hamas-Wohltätigkeitsorganisationen geschlossen, von der Politik wurden sie im Prinzip isoliert.

Doch wer sind diese Frauen, die sich einer Organisation unterordnen, die das weibliche Leben zuweilen beschränkt? Und warum engagieren sie sich für die Hamas? Um das Paradox aufzulösen, das die Beteiligung der Frauen bei der Hamas für Viele darstellt, möchte ich diesen Fragen nachgehen. Dabei skizziere ich im Folgenden kurz die Möglichkeiten der Frauen, aktiv zu sein: In welchen Bereichen findet man sie, wo sind sie besonders aktiv, welche regionalen Unterschiede gibt es? Anschließend möchte ich die Frauen anhand soziodemographischer Daten vorstellen. Im dritten Abschnitt werde ich auf die Wege, Motive und Anlässe eingehen. Warum ist eine Partizipation bei der Hamas für die Frauen attraktiv? Die Daten hierfür sammelte ich während einer Feldforschung im Jahr 2013, sowohl im Westjordanland als auch im Gaza-Streifen. In einen abschließenden Punkt möchte ich einen Exkurs nach Deutschland vornehmen.

Möglichkeiten zur Beteiligung


Frauen konnten sich seit den Anfängen der Hamas in dem Netzwerk aus Bildungs-, Kultur-, Sozial- und Wohltätigkeitseinrichtungen engagieren. Ein solches Engagement hat in Palästina eine Tradition, die lange vor der Existenz der Hamas zu beobachten war. Seit dem frühen 20. Jahrhundert gab es zahlreiche Frauen-Organisationen, die sich diesen Bereichen widmeten. Die Organisationen hatten eine christliche oder muslimische Ausrichtung, oder sie waren konfessionell ungebunden. Seit den 1970er Jahren, als die islamistischen Kräfte in Palästina an Boden gewannen, gibt es explizit für Frauen, die diesem Lager angehören, Möglichkeiten, sich in den oben genannten Bereichen zu engagieren. Gleichzeitig öffnete der studentische Flügel der islamistischen Kräfte, der Islamische Block, den Frauen einen weiteren Weg zur Partizipation. Da Hamas die größte und wichtigste Organisation aus dem islamistischen Lager darstellt, wird der Islamische Block heute zumeist als ihr studentischer Flügel wahrgenommen.
Gesicherte Daten zur Beteiligung der Frauen bei militanten Aktivitäten sind rar. Doch scheint es so, als wenn die Frauen hier über einen langen Zeitraum ausgeschlossen wurden. Erst für die Zeit der Zweiten Intifada, die von 2000 bis 2005 andauerte, sind entsprechende Fälle bekannt: Frauen, die Selbstmordattentate durchführten oder durchführen wollten, oder Frauen die bei der Durchführung eines solchen halfen, indem sie zum Beispiel den männlichen Attentäter zum geplanten Ort des Attentats begleiteten. Offensichtlich ist, dass dieses Thema innerhalb der Hamas kontrovers diskutiert wurde. Denn mit einer eindeutigen Zustimmung für diese Form der Partizipation hätte es sicher mehr weibliche Selbstmordattentäter gegeben. Nur zwei Frauen führten eine so genannte Märtyreroperation unter dem Banner der Hamas durch, ein paar wenige wurden im Vorfeld der geplanten Tat vom israelischen Militär inhaftiert. Die These der kontroversen Diskussion wird bei Betrachtung der Proklamationen und Einschätzungen hochrangiger Hamas-Leute zur Frage bekräftigt: Hier fehlte es an einer eindeutigen Linie – stattdessen wurde in verschiedenen Phasen eine ganze Bandbreite von möglichen Standpunkten sichtbar. So gab es eine Phase, in der die Hamas-Führer zurückhaltend betonten, dass Frauen in anderen Bereichen besser aufgehoben seien. In einer anderen Phase äußerten sie uneingeschränkte Zustimmung, zu der in einer späteren Phase jedoch einschränkende Bedingungen folgten.
Nach der Zweiten Intifada ermöglichten die zweiten nationalen Parlamentswahlen in den Palästinensergebieten den Hamas-Frauen, sich auch auf politischer Ebene zu engagieren. Nachdem Hamas die ersten nationalen Wahlen als Legitimation der Oslo-Prozesse boykottierte, signalisierte sie mit ihrer Teilnahme bei den Parlamentswahlen 2006 die Bereitschaft, im formalen politischen Bereich Fuß zu fassen. Zu einer tatsächlichen Beteiligung der Hamas-Frauen kam es hier durch eine externen Faktor: Für die Parlamentswahlen wurde eine Frauenquote eingeführt, mit der mindestens 20 Prozent einer Partei oder Bewegung im Parlament von Frauen vertreten werden müssen. Auf diese Weise zogen sechs Frauen für die Hamas in den Legislativrat. Im Zuge der Regierungsbildung übernahm auch eine Frau aus den Reihen der Hamas die Spitze im Ministerium für Frauenangelegenheiten. Auch für die folgende Hamas-Regierung im Gaza-Streifen blieb dies das einzige Ministerium, das von einer Frau geführt wurde. Hier wurde sogar zunächst ein Mann als Minister eingesetzt, erst später übernahm Jamila Schanti den Posten. Auf den unteren Ebenen der Ministerien hingegen traf ich im Gaza-Streifen vermehrt auf Mitarbeiterinnen.

Propagandafoto der Hamas von der Selbstmordattentäterin Fatima Najjar. Die Großmutter sprengte sich 2006 im Gaza-S treifen in die Luft. Quelle: Internetforum von Hamas-Sympathisanten

Die Öffnung für demokratische Prozesse wurde somit von einer kontrollierten Öffnung für Frauen begleitet. Im Gaza-Streifen mündete diese Entwicklung darin, dass Huda Naim ab 2011 als Generalsekretärin der Hamas-Fraktion und Generalsekretärin des Parlaments eingesetzt wurde. Im Sommer 2013 ernannte die Hamas zudem Isra Mudallal zur Regierungssprecherin. Ähnlich wie für den militanten Bereich beobachtet, waren auch diese Entscheidungen, die den formalen politischen Sektor betreffen, nicht unumstritten. So berichtete Huda Naim von der Ablehnung, die sie erhalten hatte, als sie im Jahr 2006 für die Leitung des Sozialkomitees im Parlament vorgeschlagen wurde. Und auch nach ihrer Ernennung zur Generalsekretärin des Parlaments soll sie von bestimmten Kreisen abgelehnt und angefeindet worden sein, weil sie als Frau nach einem Posten griff, auf den diese Männer ein Monopol reklamierten.
Innerhalb der Hamas-Strukturen wurde die kontrollierte Öffnung für Frauen auf der politischen Ebene im Zuge des Wahlsieges fortgeführt. Seit dem Jahr 2006 finden sich auch Frauen im Schura-Rat. Während meiner Feldforschung im Jahr 2013 berichtete Huda Naim von einem Frauenanteil von ungefähr 15 Prozent in diesem Organ. Eine Repräsentation, die ohne Quote erreicht wurde. Doch werden Frauen nach wie vor vom Politbüro ausgeschlossen. Mehrere Hamas-Politikerinnen aus dem Gaza-Streifen berichteten mir, dass eine Frauenbeteiligung auch in diesem höchsten Entscheidungsorgan der Hamas diskutiert wird. „Und wir bestehen drauf!“, konstatierte Atimad Tershawi, Generalsekretärin für Regionales im Planungsministerium. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Öffnung nicht nur einseitig von der Hamas vollzogen wird, sondern die Frauen auch dafür kämpfen.
In Hinblick auf die Möglichkeiten sind enorme regionale Unterschiede sichtbar. Aufgrund der politischen Spaltung und der israelischen Besatzung des Westjordanlandes finden wir für dieses eine völlig andere Situation als für den Gaza-Streifen vor. Während die Hamas-Frauen im Westjordanland im Wesentlichen in drei Tätigkeitsfeldern aktiv sein können (Islamischer Block, Medienarbeit; das Parlament tagt zwar nicht, doch nehmen die Frauen als Parlamentarierinnen repräsentative Aufgaben wahr), sind die Frauen im Gaza-Streifen in weiten Teilen der formalen Politik anzutreffen. Anders als im Westjordanland, wo Hamas-Wohltätigkeitsorganisationen und andere Zentren geschlossen wurden, gibt es im Gaza-Streifen zudem eine unzählige Anzahl von Möglichkeiten sich im Netz aus Bildungs-, Kultur-, Sozial- und Wohltätigkeitseinrichtungen zu engagieren.

Soziodemographische Daten


Im Folgenden möchte ich skizzieren, was die Hamas-Frauen kennzeichnet. Gibt es die typische Hamas-Frau? Berücksichtigt werden an dieser Stelle die Daten, die ich zu 21 Hamas-Frauen im Westjordanland und im Gaza-Streifen gesammelt habe. Sie sind im Islamischen Block aktiv, für Wohltätigkeitsorganisationen, sie arbeiten als Autorinnen für Hamas-Publikationen, sie wurden in einen Stadtrat oder ins Parlament gewählt, zwei der Frauen waren überdies als Ministerinnen für Frauenangelegenheiten im Amt, und ich sprach mit der Führerin der Frauenbewegung der Hamas. Bereits ein Blick auf die soziodemographischen Daten und den Lebensstil zeigt, dass es sich bei den Hamas-Frauen nicht um eine homogene Gruppe handelt. Was sie eint ist ein hoher Bildungsgrad und in Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild der Hidschab. Doch jede hat ihre eigene Lebensgeschichte, ihren eigenen Stil und Weg, die eine Bandbreite von Lebensentwürfen hervorbringen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollen im Folgenden für Alter, Bildung, Familienstand, wirtschaftliche Lage und äußeres Erscheinungsbild dargestellt werden.Zwischen der ältesten (Jahrgang 1953) und der jüngsten (1993) der 21 Frauen liegen 40 Jahre Altersunterschied. Nur eine der 21 Frauen studierte nicht, sie ist zugleich die zweitälteste der Gruppe. Die anderen 20 beendeten mindestens ein Studium oder waren dabei, es zu beenden, einige schlossen zusätzlich ein Masterstudium ab, eine Parlamentsangehörige promovierte erfolgreich, eine ehemalige Ministerin schrieb zum Zeitpunkt meiner Feldforschung noch an ihrer Doktorarbeit. Es gab mehrere Frauen, die einen religiösen Studiengang wählten, andere schlossen ein Lehrerstudium ab, ein paar Frauen studierten Arabische Sprache, eine Studentin war aktuell in Rechtswissenschaften eingeschrieben, eine Parlamentsabgeordnete studierte Sozialarbeit und es gab eine Reihe von Frauen, die in Ingenieursstudiengängen eingeschrieben war. Hamas ermutigt und fördert diese Frauen offenbar, einen hohen Bildungsgrad zu erreichen, das geht aus den Interviews mit den Frauen hervor.


Die Ministerin für Frauenangelegenheiten der Hamas-Regierung im Gaza-Streifen, Jamila Schanti (4. v. links),
umgeben von einer parlamentarischen Delegation, zu der auch die beiden Hamas-Politikerinnen Huda Naim (3. v.
links) und Miriam Farhat (2. v. links) gehörten. Quelle: Internetpräsenz des Palästinensischen Legislativrats

Auch das Heiratsalter variierte. Fünf der 21 Frauen waren zum Zeitpunkt meiner Feldforschung noch nicht verheiratet. Eine dieser unverheirateten Frauen war bereits Mitte 40, eine zukünftige Hochzeit scheint in diesem fortgeschrittenen Alter in der palästinensischen Gesellschaft unwahrscheinlich. Drei der restlichen vier unverheirateten Frauen studierten noch, sie waren zwischen 20 und 22 Jahre alt. Von den 16 verheirateten Frauen heirateten vier im Alter von 18 Jahren, zwei mit 20, eine mit 21, drei mit 22, zwei mit 23, zwei mit 25 Jahren und eine mit 28 Jahren. Eine Frau machte hierzu keine Angaben. Für 2008 betrug das Durchschnittsalter der palästinensischen Frauen bei der ersten Eheschließung 19.5 Jahre. Dieses wurde von den Hamas-Frauen demnach überschritten. Nicht alle Frauen machten Angaben zu den Umständen der Verlobung. Doch für diejenigen, die Auskunft gaben, finden wir sowohl traditionell arrangierte Ehen („Ich habe natürlich jemanden aus meiner Familie geheiratet.“ Oder „Ich kannte meinen Mann vorher nicht. Er kam, um sich mit mir zu verloben.“), als auch weniger traditionell arrangierte Ehen. Bei letzteren lernten die Frauen ihre Ehemänner an der Universität oder auf der Arbeit kennen. Eine Frau berichtete, dass ihr Mann sie bei einem TV-Interview sah, das sie anlässlich des Selbstmordattentates ihrer Schwester gab.
Die von mir interviewten Frauen hatten durchschnittlich 3.3 Kinder. Die Geburtenrate in Palästina beträgt 5.7 Kinder pro Frau. Die Differenz ergibt sich zum einen daraus, dass unter den Interviewpartnerinnen sehr junge oder unverheiratete Frauen waren, bei denen die endgültige Anzahl von Kindern noch ungewiss ist. Darüber hinaus stellte ich fest, dass es in der älteren Generation mehrere Frauen gab, die deutlich überdurchschnittlich viele Kinder geboren haben. Von der jüngeren Generation, Frauen, die im gebärfähigen Alter sind, wurde mir hingegen häufig signalisiert, dass sie nicht noch mehr Kinder planen, obwohl die Zahlen hier deutlich unter dem Durchschnitt lagen. Eine der Frauen aus Gaza, gab an, dass es für sie bereits eine Herausforderung sei, das Berufsleben und den Aktivismus mit ihrer Tochter zu vereinbaren.
Die wirtschaftliche Situation der Frauen ist als verhältnismäßig gut zu beschreiben. Auch wenn ich viele der Frauen nicht zu Hause, sondern am Ort der Arbeit getroffen habe, wurde deutlich, dass sie nicht zu den ärmsten der Armen gehören. Die Frauen sind stattdessen der Mittelschicht und unteren Mittelschicht zuzuordnen, wie die Anhängerschaft der Hamas insgesamt. Die biografischen Angaben zeigten zudem, dass einige Frauen in Flüchtlingslagern geboren wurden, dort aufgewachsen sind, den Verhältnissen später jedoch entfliehen konnten. Ein Sprung, der von den wenigsten Flüchtlingen gemacht wird.
Die religiöse Lebensweise der Frauen äußert sich für alle sichtbar in ihrem Kleidungsstil, sie selbst bezeichnen dies als multazima bi-l-hidschab, was so viel wie engagiert mit dem Hidschab bedeutet. Die Frauen waren insgesamt sehr konservativ gekleidet, in einfachen Farben und den Körper fast komplett bedeckend. Doch auch hier gibt es eine Bandbreite von Interpretationen und praktischen Umsetzungen. Zudem werden in diesem Punkt regionale Unterschiede besonders deutlich: Der Gaza-Streifen und das südliche Westjordanland sind seit jeher Regionen, in denen die Gesellschaft konservativer lebt als in den übrigen Teilen Palästinas. Dies schlägt sich auch im äußeren Erscheinungsbild wider. So waren es lediglich Frauen aus dem Gaza-Streifen, die ich mit Gesichtsschleier antraf. Dort trugen alle Frauen eine lange Abaya, lediglich in der Farbwahl waren dezente Unterschiede auszumachen. Bei den Frauen im Westjordanland konnte ich hingegen mehr Individualität feststellen: zum Beispiel durch eine Lederjacke, oder ein gemustertes Kopftuch.

Partizipation bei der Hamas: Wege, Motive und Anlässe


Wenn man der Frage nachgehen möchte, warum diese Frauen bei der Hamas partizipieren, ist es sinnvoll nach Wegen, Motiven und Anlässen zu differenzieren. So stellt man bereits für die Wege fest: Bei nahezu allen Frauen ist ein entsprechender familiärer Hintergrund zu finden, der Ausdruck findet in der familienübergreifenden Sympathie mit oder eines Engagements für die Hamas. Lediglich eine Aktivistin aus dem Gaza-Streifen berichtete, dass ihr Vater bis zu seinem Tod vor einigen Jahren sehr engagiert für die Fatah war. Väterliche Einwände gegen das Engagement der Tochter bei der Hamas habe es anfänglich gegeben: „‘Wie kannst du gehen und kommen und mit denen arbeiten wollen?‘ – Aber nachdem sie sahen, dass ich diese Arbeit und diesen Aktivismus mag, gaben sie mir die Freiheit.“ Bei den meisten Frauen, die noch in ihren Herkunftsfamilien lebten, gab es ähnliche Entwicklungen, obwohl diese Familien mindestens als Hamas-nah einzustufen sind. Eine Aktivistin des Islamischen Blocks aus dem Westjordanland berichtete, dass ihre Eltern zunächst Angst um sie hatten und vom palästinensischen Geheimdienst bedroht wurden. Die Frauen, die bereits verheiratet waren, wurden von ihren Ehemännern hingegen von Anfang an unterstützt. Eine Parlamentarierin gab an, dies bereits im Vorfeld der Ehe mit dem zukünftigen Ehemann vereinbart zu haben. Eine andere nennt dies eine „Kooperation“, die bei vielen palästinensischen Männern fehlen würde: „Wenn mein Mann nicht kooperativ wäre, hätte er mir erst gar nicht gestattet, zu studieren. So wie viele der Männer es ihren Frauen nicht erlauben, zu studieren und zu arbeiten.“
Etliche Frauen gaben an, sich aufgrund des entsprechenden familiären Hintergrundes, im Alleingang für Dienste bei der Hamas angeboten zu haben: „Als ich an die Universität kam, war es das naheliegendste für uns und unser Milieu, die Umgebung des Islamischen Blocks zu suchen.“ Eine Parlamentarierin berichtete, dass sie bereits in der Schule von Frauen aus der Muslimbruderschaft angesprochen und angeworben wurde. Vor allem für Frauen aus dem formalen politischen Sektor und hier speziell bei der Übernahme von Posten oder Ämtern kommen auch Rekrutierungsszenarien in Frage, wobei die Frauen im Voraus diesbezüglich keine Ambitionen geäußert haben. Bekannt ist dies unter anderem von Isra Mudallal, die für den Posten der Regierungssprecherin angefragt wurde, zunächst ablehnte und dann doch annahm. Andere Frauen berichten von Ermutigungen aus dem nahen Umfeld.
Bei den Motiven stellt die Identifikation der Frauen mit der Hamas einen zentralen Punkt dar. Für meine Interviews konnte ich feststellen, dass es hier erhebliche qualitative Unterschiede gibt, was die Reflexion der Identifikation betrifft. So finden sich Aussagen, die sehr allgemein und wenig tiefsinnig klingen: „Ich glaube an die Prinzipien der Islamischen Bewegung und die hohen Ziele, die sich die Hamas-Bewegung gesteckt hat. Ich mag diesen Weg, den die Hamas-Bewegung eingeschlagen hat.“ Oder: „Jeder, der die Idee der Hamas studiert, wird ihr folgen.“ Andere Frauen konkretisierten, sprachen über die politischen Ziele, die die Hamas erreichen will und mit denen sie d’accord sind: „Der Grund ist meine Überzeugung, dass wir ein unterdrücktes Volk sind, geflohen von unserem Land im Jahr 1948. Wir haben unser Land verlassen und wir denken, dass wir es für uns zurückholen müssen. Die Hamas-Bewegung gleicht für mich dieser Hoffnung, sie organisieren das Richtige. Weil alle anderen Optionen gescheitert sind. Ich, als ein Mensch, denke, dass die Verhandlungsoption eine Option ist, die uns niemals ermöglicht, unser Land zurückzubekommen. Die Hamas-Bewegung hat sich die Dschihadi-Arbeit zu Eigen gemacht und meiner Meinung nach, ist sie der Weg zur Rückkehr nach Palästina.“ Oder: „Und in ihrer ganzen Einfachheit ist diese Bewegung ein Ideal für mich, weil sie mehr Rechtschaffenheit besitzt als alle anderen Bewegungen und sie dem Aktivismus für die Bürger und der Befreiung der Heimat am nächsten kommt.“
Neben diesen politischen Motiven gibt es auch religiöse Ziele, bei denen die Interviewpartnerinnen eine große Übereinstimmung mit der Hamas angaben: „Weil die Islamische Bewegung versucht, die islamische Religion in alle Bereiche auszuweiten.“ Nicht selten wurde die religiöse Orientierung der Bewegung als Garant für politische Erfolge gesehen: „Ich fühlte, dass im Islam die Lösung für alle Probleme der Welt liegen.“
Zudem scheint Identifikation in vielen Fällen über konkrete Personen zu laufen: Mitglieder und Aktivisten der Hamas, zu denen die Frauen hoch schauen, die sie inspirieren, denen sie nacheifern wollen. Genannt wurden häufig eigene Familienmitglieder, wie ältere Geschwister, die mit ihrem Engagement Eindruck auf die Frauen gemacht haben. Überdies führten sie Namen aus den Führungsreihen der Hamas an, darunter sehr häufig Ahmad Yassin. Argumentiert wurde mehrmals mit seiner Lähmung. „Weil er ein körperlich schwacher Mensch war und trotzdem etwas großes hervorbrachte.“ Und sein Beitrag auf spiritueller Ebene: „Er gab uns intellektuelles und spirituelles Bewusstsein. Er gab uns viel, um unseren Geist und unsere Gedanken zu entwickeln.“
Neben der Identifikation mit der Bewegung, mit ihren politischen und religiösen Zielen, nannten die Frauen weitere Motive, aufgrund derer die Hamas offenbar attraktiv für sie ist. Einer der wichtigsten hier genannten Anziehungspunkte ist das Verhältnis der Geschlechter innerhalb der Hamas. „Sie gehört zu den fortschrittlicheren Bewegungen, die mit der Frau kooperiert.“ Die Frauen sprachen häufig von einem gleichberechtigten Status von Mann und Frau innerhalb der Hamas, mit gleichen Rechten und Pflichten. Die Frauen aus dem Islamischen Block betonten zudem den gleichwertigen Einfluss bei Entscheidungen, Mann und Frau würden hier eine Einheit bilden. Einige Frauen sahen in der Hamas „die Bewegung, die sich am meisten um die Frauen kümmert“ und bemüht ist, etwaige Status-Unterschiede zwischen Mann und Frau zu beseitigen. So schwer nachvollziehbar dies für westliche Beobachter sein mag, entspricht dies der Wahrnehmung der Frauen.


Die Abgeordnete Huda Naim war im Gaza-Parlament Fraktionsvorsitzende der Hamas.
Quelle: Hamas-Internetpräsenz



Überdies erörterten einige Frauen eine Art Sicherheit, die sie in der Hamas-Bewegung spüren: Ein respektvoller Umgang unter den Geschlechter, wobei die weibliche Privatsphäre geachtet wird. Viele Frauen stehen der Geschlechtersegregation positiv gegenüber. In den Bereichen, in denen Mann und Frau jedoch zusammen agieren, sollten bestimmte Normen herrschen, die den Umgang der Geschlechter regeln, um moralische Verstöße vorzubeugen. Diese Normen sehen sie in der Hamas realisiert.
Ein weiterer Anziehungspunkt ist die organisatorische Stütze, die die Hamas den Frauen bietet: „Ich fühlte, dass ich meiner Gesellschaft diene. Wenn du etwas tun willst, musst du es mit jemanden oder einer Bewegung tun, damit du unterstützt wirst und Rückhalt bekommst.“ Ein paar Frauen gaben an, explizit der palästinensischen Frau dienen zu wollen – mit der Annahme die besten Ergebnisse unter dem Banner der Hamas zu erreichen: „Als es um die Wahlen ging, empfand ich es als passend, an ihnen teilzunehmen, um die Situation der Frauen zu verändern. Ich empfand, dass die engagierte muslimische Frau, wie ich, jemanden braucht, der sie vertritt, besonders weil wir hier in Palästina unter Besatzung leben und die Frau hier in vielen Bereichen marginalisiert ist.“


Propagandabild der Hamas im Zuge des jüngsten Gaza-Konfliktes. Rechts oben zu sehen das Emblem der Izz ad-Din al-Qassam Brigaden. Unten auf Hebräisch und Arabisch zu lesen: „Alle Städte sind nahe Gaza” Quelle: Hamas-Internetpräsenz   


Zudem kann man feststellen, dass die Frauen durch ihr Engagement Selbstbewusstsein und für ihr Leben einen höheren Sinn gewinnen. Die Frauen zeigten sich im Gespräch mit mir insgesamt sehr selbstbewusst, jede von ihnen konnte eigene Stärken beschreiben und tat dies mit Nachdruck. Viele suggerierten, angesehene Mitglieder zu sein: „Ich denke, dass ich bekannt in der Islamischen Bewegung bin, weil ich mich auf meinem Gebiet auszeichne.“ Oder: „Ich fühle, dass sie zufrieden sind mit dem, was ich meine und mit dem, was ich diskutiere. Ich wandle theoretische Reden in Realität um und das ist speziell an meiner Persönlichkeit. Das ist, weshalb sie mir vertrauen, weil ich meine Ziele realisieren kann.“ Um diese Aussagen einordnen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass diese Frauen aus einer traditionellen Gesellschaft kommen, wo Männer über den Zeitpunkt des Abstillens entscheiden oder der Ehefrau verbieten ein Hotel zu betreten, weil dieses scheinbar dazu einlädt mit anderen Männern auf ein Zimmer zu verschwinden. Ein höherer Lebenssinn tritt deutlich zu Tage in den Worten einer Studentin, die ihren Aktivismus als Dienst beschreibt, „durch den man Gott näher kommt.“
Viele Frauen gaben überdies konkrete Anlässe an, nach denen sie ein Engagement bei der Hamas forcierten. Meistens waren diese Anlässe mit dem Schicksal von Familienangehörigen und Freunden verbunden, wie die Tötung oder Inhaftierung durch das israelische Militär. Einige Frauen nannten überschüssige Energien, die sie in der Jugendzeit bei sich beobachteten und die sie sinnvoll katalysieren wollten.

Und Deutschland?


Die Hamas ist nicht nur in Nahost aktiv. International hat sie Anhänger und Aktivisten, dies ist auch in Deutschland der Fall. Jedoch zeigt ein Blick auf die Verfassungsschutzberichte, dass die Organisation hier mitgliederschwach vertreten ist. Über die Jahre gehen die Behörden konstant von etwa 300 Hamas-Aktivisten in Deutschland aus. Der rechtliche Rahmen und fehlende Strukturen in Deutschland sind zudem als ursächlich für die beschränkten Möglichkeiten der Beteiligung zu werten. Während ihnen in Gaza alle Türen offen stehen, ist der Handlungsspielraum in Deutschland beschränkt. Die Mitglieder treiben in Deutschland vor allem Spendengelder ein, verbreiten die Hamas-Propaganda und versuchen neue Mitglieder zu rekrutieren. Für die Frauen ist davon auszugehen, dass sie vor allem aus dem Hintergrund heraus im Nahkreis Propaganda betreiben: Die Indoktrinierung der zukünftigen Aktivisten, also von Kindern und Jugendlichen, wird in der Charta der Hamas als zentrale Aufgabe der Frau genannt: So soll sie zunächst durch eine hohe Geburtenrate die biologischen Voraussetzungen für die neue Hamas-Generation schaffen, anschließend die ideologische mit einer entsprechenden Erziehung.
Ähnliches ist auch für andere islamistische Bewegungen, die in Deutschland aktiv sind, zu beobachten. Der Verfassungsschutzbericht des Bundes aus dem Jahr 2013 stellt fest, dass islamistischer Terrorismus nach wie vor „männerdominiert“ ist. Frauen werden vor allem für das Sammeln von Spenden und Propagandaarbeit eingesetzt, sie leisten insgesamt unterstützende Hilfsdienste, in jüngster Zeit vermehrt im Internet. Das Internet fördert einen solchen Aktivismus insofern, als dass die Frauen hier entsprechend ihrer Umgangsregeln mit männlichen Aktivisten agieren können, was vor allem in körperlicher Distanz der Geschlechter zueinander Ausdruck findet.
Hierzulande bekannt geworden für ihre Dienste für den islamistischen Terrorismus ist unter anderem Filiz Gelowicz, die Ehefrau von Fritz Gelowicz, dem Anführer der Sauerlandgruppe. Filiz Gelowicz war in islamistischen Internetforen aktiv, dort warb sie für al-Qaida, die Islamische Jihad Union und die Deutschen Taliban Mujahidin, für letztere wies man ihr zudem Unterstützungsarbeiten in Form von Geldüberweisungen nach. Im Frühjahr 2014 berichteten die Medien zudem über eine junge Gymnasiastin, die bereits einige Monate zuvor nach Syrien ausgereist war, um dort am Dschihad teilzunehmen und zu heiraten. Die junge Frau wurde dort auch an der Waffe ausgebildet, so hieß es. Die Ausreise in ein Krisengebiet, um dort vor Ort den Dschihad zu unterstützen, stellt somit eine weitere Möglichkeit für islamistische Frauen in Deutschland dar, ist in der Realität jedoch nur selten zu beobachten. Das wiederum ist einer der beiden zentralen Unterschiede zu den Frauen der Hamas in Palästina: Diese beteiligen sich an einem Konflikt, der vor der Haustür stattfindet.


Aziza al-Hamami, eine Führerin der Hamas-Frauenbewegung, Kandidatin bei den Parlamentswahlen 2006.
Quelle: Hamas-Internetpräsenz.

Der zweite zentrale Unterschied: Die Hamas öffnete sich in den letzten Jahren für eine Beteiligung in der formalen Politik, in Gaza stellte sie ab 2007 die Regierung, was auch den Frauen der Hamas neue Möglichkeiten bot, sich einzubringen. Die Aktivistinnen eroberten staatliche Strukturen und instrumentalisierten diese für die Hamas-Ideologie und Ziele. Für welche islamistische Bewegung, die auch in Deutschland aktiv ist, kann man dies beobachten? Welche der Bewegungen ist in irgendeinem Land an der formalen Politik geschweige denn der Regierungsbildung beteiligt? Der Exkurs nach Deutschland zeigt somit auch, dass die Frauen der Hamas in Palästina, ob der Integration in den formalen politischen Sektor, eine Vorrangstellung genießen. Die Hamas blieb in der Vergangenheit flexibel und pragmatisch, lehnte eine breitere Beteiligung der Frauen nicht kategorisch ab. Diese Flexibilität scheint größer als bei vielen anderen Organisationen, bei denen die Akzeptanz für eine aktive Beteiligung der Frauen gering ist. Doch kann der Pragmatismus der Hamas alleine als ursächlich für die kontrollierte Öffnung für Frauen angesehen werden – und nicht etwa ein fortschrittliches Gender-Bewusstsein. Sicher ist auch, dass diese kontrollierte Öffnung nicht stabil ist: Konflikte, Kriege und andere politische Ereignisse können sich sowohl positiv als auch negativ auf die breite Beteiligung der Frauen bei der Hamas auswirken. Es wird sich zeigen, ob die Frauen, die sich bisher so selbstbewusst präsentiert haben, gegen eine etwaige Zurückdrängung reagieren und um ihren Platz kämpfen.

HAMAS
Die Islamische Widerstandsbewegung Hamas, so die vollständige Bezeichnung, ist seit Beginn der Ersten Intifada im Dezember 1987 ein wichtiger politischer Akteur im Kontext des Nahostkonfliktes. Bekannt wurde die Hamas im europäischen Raum vor allem durch ihr militantes Auftreten gegenüber dem Staat Israel: Ab Mitte der 1990er Jahre entsandte sie für einen Zeitraum von über zehn Jahren zahlreiche Selbstmordattentäter, durchgeführt von den Izz ad-Din al-Qassam Brigaden, dem militanten Arm der Hamas. Innerhalb der Palästinensergebiete gewann die Bewegung zudem durch ihre sozialen Projekte an Popularität: Sie unterhält ein weit reichendes Netz an sozialen, kulturellen, Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen. Im Bereich der institutionalisierten Politik boykottierte die Hamas zunächst jedwede Beteiligung. Dies änderte sich bei den palästinensischen Kommunalwahlen 2005, wo sie bereits große Erfolge verbuchen konnte. Zur Überraschung regionaler und internationaler Beobachter gewann sie ein Jahr später überdies die Parlamentswahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde. Dem Wahlsieg folgte der „Bruderkampf“ mit der palästinensischen Fatah, ein Konflikt, der schließlich in der politischen Teilung der Palästinensergebiete mündete: Seit 2007 existierte ein bipolares System, bei dem die Hamas im Gazastreifen regierte, während das Westjordanland von der Fatah dominiert wurde. Im Juni 2014 kam es zur Bildung einer palästinensischen Konsensregierung, in deren Folge die Hamas-Regierung im Gaza-Streifen zurückgetreten ist. Der Rücktritt hatte jedoch kaum Auswirkungen auf den Einfluss, den die Hamas nach wie vor im Gaza-Streifen hat.

Detaillierte und gesicherte Angaben zur Struktur und Organisation sind, ob der klandestinen Strukturen, kaum möglich. Als höchstes Entscheidungsgremium gilt das Politbüro, madschles as-siyasi, das aus dem Exil heraus Politik, militante Handlungen, Finanzen, Medien und Wohltätigkeitsarbeit der Hamas dirigiert. Daneben existiert der nationale Shura-Rat, der über die politischen Prinzipien der Bewegung beratschlagt und entscheidet. Auf den unteren Ebenen soll die Bewegung zweigeteilt sein: regionale Schura-Räte für die männlichen Mitglieder und regionale Schura-Räte für die weiblichen Mitglieder, so berichteten mir einige der Frauen. Hamas versteht sich selbst als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft. Charakteristisch für die Bewegung ist jedoch das Nebeneinander von religiösen und nationalen Motiven, die ihr Denken und Handeln bestimmen. Zudem finden wir in der Bewegung sowohl moderate Denker (als ein solcher gilt Ismail Haniya) als auch Hardliner (zum Beispiel Mahmud az-Zahar), was sich in einem Wechsel aus pragmatischer Realpolitik (unter anderem die Teilnahme an demokratischen Wahlen) und dem Festhalten an ideologischen Positionen (zum Beispiel die beabsichtigte Islamisierung der palästinensischen Gesellschaft) widerspiegelt. Zuletzt wurde jedoch immer deutlicher, dass sie im Gaza-Streifen unter den islamistischen Bewegungen (unter anderem Salafisten und der Palästinensische Islamische Dschihad) eine der gemäßigsten Gruppen darstellt.