Vortäuschung von Sexualdelikten

Vernehmungstaktik, Aussageanalyse, Glaubwürdigkeitsprüfung und rechtsmedizinische Aspekte

Von Dr. M.A. Bettina Goetze LL.M, Kriminologin
Dr. Katja Jachau, Fachärztin für Rechtsmedizin, Martin-Luther-Universität Halle, Außenstelle Magdeburg


Die polizeiliche Aufklärungsquote in Deutschland bei Vergewaltigungen und sexueller Nötigung ist mit einem Durchschnittswert von über 80 v.H. erfreulicherweise recht hoch einzustufen und über die Jahre konstant geblieben. Bei den Tätern handelt es sich häufig um Personen aus dem sozialen Nahbereich – ein Kriterium, das zugleich die berechtigte Vermutung eines hohen Dunkelfeldes nach sich zieht. Nicht selten handelt es sich um Abhängigkeits- und Machtverhältnisse innerhalb familiärer oder partnerschaftlicher Strukturen, denen das Opfer ausgeliefert ist. Die Nötigung zu sexuellen Handlungen ist für die Opfer besonders erniedrigend. Nicht selten sind gravierende psychische Folgen Begleiterscheinung der Viktimisierung. All diese Erkenntnisse sind längst nicht neu und hinreichend belegt.

Um die Opfer besser zu schützen, trat im Jahr 2013 das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) in Kraft. Hierbei wurde u.a. die strafrechtliche Verfolgbarkeit von Sexualstraftaten verlängert und die Verjährungsfrist zivilrechtlicher Ansprüche deutlich angehoben. Des Weiteren ist, sofern möglich, auf die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen zu achten. Dies gilt insbesondere für Vernehmungen kindlicher Zeugen.
Die Bearbeitung dieser Delikte erfordert ein hohes Maß an Professionalität und Empathie. Dennoch sind sowohl belastende als auch entlastende Beweise für die strafprozessuale Tätigkeit zu erheben, weswegen in alle Richtungen ermittelt werden muss. Die Erfahrungen aus der Praxis vergegenwärtigen immer wieder ein Themengebiet, das innerhalb der kriminologischen Forschungen viele Jahre weitgehend vernachlässigt wurde: Die Vortäuschung von Sexualdelikten, die den Straftatbestand des § 145d StGB erfüllen.

Darüber hinaus ist eine strafbare Handlung nach § 164 StGB in Erwägung zu ziehen.
Das Bayerische Landeskriminalamt beruft sich auf eine Untersuchung zu Vergewaltigungen und sexueller Nötigung, die im Ergebnis feststellt, dass deutlich mehr als die Hälfte der angezeigten Delikte vorgetäuscht sei.1 Wie hoch die Anzahl der Falschbeschuldigungen tatsächlich ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.
Die adäquate Aufklärung von Sexualdelikten kann ein schwieriges Feld sein, da die Ermittlungsbehörden bzw. Vernehmungspersonen feststellen müssen, ob bei der Tatbeschreibung authentische Handlungen geschildert werden oder ein „Produkt der Fantasie“ vorliegt. Welche Ermittlungsschritte in diesen Fallkonstellationen der Wahrheitsfindung förderlich erscheinen, wird fortfolgend zu klären sein.

„Man sollte sich davor hüten, aus bestimmten Verhaltensweisen des Opfers auf Wahrheit oder Unwahrheit zu schließen.“


Schwierig gestaltet sich die Beweisführung, wenn keine Sachbeweise in Form von forensisch gesicherten Spuren vorliegen. Die Spezifik von Sexualdelikten ist, dass sich die überwiegenden Taten ausschließlich zwischen beschuldigter Person und Opfer ereignen. Somit liegen in den meisten Fällen auch keine Personenbeweise vor. Dann kann grundsätzlich der Rückgriff auf Aussageanalysen und Glaubhaftigkeitsgutachten Licht ins Dunkel bringen, denn diese Instrumente gelten als signifikante, ermittlungsunterstützende Mittel der Wahrheitsfindung. Um es vorwegzunehmen: Derartige Begutachtungen verfolgen keineswegs das vorrangige Ziel, die Opferaussagen anzuzweifeln. Vielmehr stützen sie die Beweissicherung, da die Glaubwürdigkeit der tatbezogenen Angaben durch Sachverständige bestätigt werden kann. Das Opfer kann dadurch mit einer attestierten Sicherheit das Verfahren bewältigen, weil ihm trotz ggf. dünner Beweislage geglaubt wird.
Angaben der Staatsanwaltschaften zufolge bestätigen ca. 80 v.H. der Begutachtungen im Zusammenhang mit Sexualstraftaten die Glaubhaftigkeit der getätigten Angaben. Es dürfte sich demnach um erlebnisbezogene Aussagen handeln. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Fünftel der untersuchten Fälle Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen aufkommen lassen. Aufgrund der Sensibilität der Vortäuschungsthematik sollten einige Hinweise Beachtung finden, bevor weitgehende Sicherheit der Beurteilung eines Falles erreicht werden kann.
Frühzeitig geäußerte Skepsis am Tatereignis kann rasch in eine Verweigerungshaltung des (vermeintlichen) Opfers münden und eine gelingende Vernehmungssituation erheblich blockieren. Grundsätzlich sollte die Bewertung aller Fakten auch nur im erfahrenen Team erfolgen. Die Auswahl und Durchführung einer tauglichen Vernehmungsmethode ist eine hohe Kunst. Unabhängig davon ist immer der Einsatz einer Videovernehmung ratsam. Sie ermöglicht zum späteren Zeitpunkt – insbesondere wenn Sachverständige eine Aussageanalyse oder das oben benannte Glaubhaftigkeitsgutachten erstellen – die zusätzliche Beurteilung der nonverbalen Kommunikation. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Vor diesem Hintergrund ist die Etablierung eines Vernehmungszimmers mit Videotechnik wenigstens in jeder Polizeidirektion empfehlenswert. Wenn keine Zeugenvernehmung per Video erfolgt, beschränkt sich eine spätere Analyse lediglich auf die verschriftlichte Dokumentation der Vernehmung. Visuelle Botschaften entfallen somit bedauerlicherweise völlig.

Die Vernehmung


Die Wahl der richtigen Vernehmungstaktik ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Ermittlungen. Ferner gilt es, die Aussagetüchtigkeit der Auskunftsperson auf den Prüfstand zu stellen. Im Bereich der Sexualdelikte bestehen Besonderheiten. Die (realen) Opfer sind häufig traumatisiert, so dass die Wahrnehmung und korrekte Wiedergabe der Ereignisse beeinträchtigt sein kann. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist möglicherweise der Reifegrad der Persönlichkeit noch nicht im erforderlichen Maße ausgeprägt. Das bedeutet also nicht, dass jene Personen lügen, sondern vielmehr, dass die psychologischen Voraussetzungen zur verlässlichen Wiedergabe nicht vorhanden sind. Wenn die Aussagetüchtigkeit gewährleistet ist, kann sich die freie Schilderung als wertvoll erweisen. Hier sollte sich die vernehmende Person vorerst tendenziell zurückhalten mit Nachfragen. Diese ausführliche Schilderung umfasst konkrete Einzelheiten, Eindrücke, Handlungen, Situationsbilder und Wahrnehmungen mit dem Ziel einer detailgetreuen Wiedergabe des Tatereignisses durch das Opfer.

Einstiegsbeispiel:
Bitte schildern Sie zunächst ausführlich die letzten 24 h vor der Tat. Wo befanden Sie sich zu welchem Zeitpunkt? Mit welchen Personen waren Sie zusammen? Welche Dinge haben Sie verrichtet?

Sodann sollte der Übergang zum Tathergang erfolgen:
Bitte schildern Sie nun den gesamten Tathergang mit allen Details (Wegstrecke, Wahrnehmungen, Wetterverhältnisse, Täterbeschreibung, Tatort, Zeitangaben etc.)

Je länger das Opfer Bericht erstattet, desto besser die spätere Untersuchungsmöglichkeit der Aussagen. Selbst wenn innerhalb dieser Erzählung an einer Stelle Unklarheiten auftreten, sollte die aussagende Person keineswegs im Redefluss unterbrochen werden. Für Nachfragen besteht zu einem späteren Zeitpunkt oder am Ende der Berichterstattung noch immer genügend Raum. Nach Beendigung der freien Darstellung des Hergangs sollte die aussagende Person nicht weiter befragt werden. Stattdessen empfiehlt sich die Beendigung der Vernehmung. An den nachfolgenden Tagen sollte eine Vernehmungspause eingelegt werden. Nach der freien Schilderung muss eine genaue Untersuchung der objektiven (messbaren) Fakten erfolgen. Hierbei stehen die Auswertung von Telefondaten, die Durchführung von Weg-Zeit-Experimenten und darauf basierende Tathergangsrekonstruktionen im Mittelpunkt. Zu berücksichtigen sind auch die Aufdeckung von Inkonsistenzen im Aussageverhalten sowie weitergehende Vernehmungen im sozialen Nahbereich des Opfers. Das Ziel sollte die intensive Befassung mit der Biographie des mutmaßlichen Opfers beinhalten.

Lügensignale


Falls innerhalb der freien Schilderung Lügenkonstruktionen erfolgten, wird das menschliche Gehirn beim konstanten Wiederholen der verbreiteten Unwahrheit vor eine enorme Herausforderung gestellt. Aus kognitiver Sicht sind Lügen sehr anstrengend, es ist nahezu unmöglich, sich alle Elemente seiner eigenen erfundenen Geschichte einzuprägen. Tatsächlich erlebte Abläufe können im Gegensatz zu einstudierten Szenen jederzeit ohne größere Schwierigkeiten präsentiert werden. Auskunftspersonen, die einen Sachverhalt real erlebten und um Beschreibung gebeten werden, tendieren zudem häufig zum Aufmachen von „Nebenschauplätzen“, d.h. präsentierter Detailreichtum kann ein Indikator für tatsächlich zutreffende Angaben sein.

Beispiel:
„An dem Tag habe ich früh das Haus verlassen. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass mein Nachbar gerade das Garagentor öffnete. Das macht er meistens morgens um 7. 00 Uhr. Als ich mit meinem Auto losfuhr, war der Nachbar noch immer mit dem Tor beschäftigt. Seine Frau kam auch hinzu. Diese konnte ich aber nur schlecht erkennen, die Sonne hat sehr stark geblendet.“

Jemand, der einen Sachverhalt nicht real erlebt hat, neigt eher zu knappen Informationen:
„Ich bin früh aus dem Haus gegangen. Kann um 7.00 Uhr gewesen sein. Da war weiter nichts.“

Darüber hinaus ist die Körpersprache bei einer Lüge ebenfalls von Bedeutung, da Lügen zugleich akuten Stress für den Körper bedeutet. Die vernehmende Person sollte drauf achten, ob sich sein Gegenüber Gegenstände wie Kugelschreiber, Kleidung o.ä. „zurechtlegt“, durch die Haare fährt, ins Schwitzen gerät, Blickkontakt meidet, den Kopf senkt, eine Raucherpause wünscht etc. Wenn keine Videovernehmung erfolgt, sollten die körpersprachlichen Signale durch einen Aktenvermerk notiert werden.
Nach einigen Tagen – insbesondere bei Erhärtung des Verdachts der Vortäuschung – sollte eine Nachvernehmung stattfinden. Hierbei ist eine Änderung der Vernehmungstaktik empfehlenswert. Ein scheinbar unchronologisches Springen zwischen den Einzelfragen führt in der Regel zur Aufdeckung von Widersprüchen. Genau in dieser Phase sollte der Zeugin eben nicht mehr ein hohes Zeitmaß zur Bereitstellung der Antworten gewährleistet werden. Spontane Reaktionen sind hier erwünscht!

Beispiel:
Wann haben Sie am Tattag nach Feierabend gemacht?
Welche Jacke trug der Täter?
Was haben Sie am Tattag gegessen?
Beschreiben Sie bitte Ihre Beziehung!
Wo genau erfolgte nochmal der Übergriff?
Wann haben Sie telefoniert?
Welche Schuhe trugen Sie während der Tat?
Mit wem haben Sie telefoniert?
Sprechen Sie mit Ihrem Freund/Lebenspartner über die Tat?
Haben Sie einen Führerschein?


Foto: Dr. Bettina Goetze


Foto: Dr. Bettina Goetze


Foto: Dr. Bettina Goetze

Ob die befragte Person dieser Ad hoc-Technik standhält, wird sich zeigen. Jedenfalls ist von zentraler Bedeutung, wo die Aussagen äquivalent sind bzw. wo potenzielle Abweichungen zur freien Erzählung auftreten. Fortfolgend sollten sich die Informationen verdichten und ein vollständigeres Bild ergeben, weswegen eine gründliche Vernehmungsplanung und Auswertung der gelieferten Antworten sehr wichtig sind. Je jünger die zu vernehmende Person ist, desto eher liegt übrigens auch die Bereitschaft zur Aussage vor!
Und dennoch: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Falls auch nach diesen Vernehmungsschritten keine verlässliche Beurteilung durch die Ermittlungsbehörden vorgenommen werden kann, sollte das Herbeiziehen von Sachverständigen in Erwägung gezogen werden. Sie können u.a. im Rahmen der Inhaltsanalyse oder Konversationsanalyse2 den Bedeutungsgehalt von Aussagen interpretieren. Hierbei kann auch der Sprachgebrauch des „Opfers“ dezidiert untersucht werden. Wortwahl, Syntax, Sprechtempo, Klangfarbe der Stimme, Sequenzialität oder Reflexivität stellen wichtige Kriterien zur Charakteristik der Interaktionssituation dar. Darüber hinaus sollten wissenschaftlich anerkannte Methoden zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit zum Einsatz kommen.

Glaubwürdigkeit:


Jansen zufolge wurden Aussagen von Zeugen lange Zeit nach der Persönlichkeit des Zeugen beurteilt. Wenn die aussagende Person ein hohes Ansehen genoss, sprach viel dafür, dass diese auch wahrheitsgemäße Angaben unterbreitete. Diese Sichtweise ist dank der Erkenntnisse der modernen Aussagepsychologie nicht mehr zeitgemäß3. Jansen verweist weiterhin auf die sogenannte Undeutsch-Hypothese, wonach sich Aussagen über tatsächlich Erlebtes inhaltlich systematisch von Aussagen über Erfundenes unterscheiden4.
Bei der Wahrheitsfeststellung durch Begutachtung sind u.a. von Relevanz, ob Brüche oder Inkonsistenzen im Aussageverhalten auftreten. Anders gefragt: Können die Angaben zu einem späteren Zeitpunkt unproblematisch wiederholt werden? Werden die Schilderungen übertrieben? Werden eigenmächtige Korrekturen vorgenommen? Wird der Bericht tatsächlich aus dem Gedächtnis rekonstruiert oder lassen sich die Angaben vielmehr auf ein allgemeines Alltagserleben herleiten? Bei vorgetäuschten Sexualdelikten orientiert sich die Falschaussage häufig an deliktstypischen Verhaltensweisen, die im Fernsehen „erlebt“ wurden. Nicht selten kann auch die Übertragungshypothese, also die Verschiebung des Tatvorwurfs von der eigentlich schuldigen Person auf eine unschuldige Person, eine Rolle spielen.
Bleibt die Frage zu klären, ob all diese Überprüfungskriterien lediglich in der „letzten Instanz“ zur Anwendung kommen oder ob sie bereits innerhalb eines polizeilichen bzw. staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens eingesetzt werden können. Grundsätzlich sollten bereits im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens alle Möglichkeiten ergriffen werden, um die Wahrheit zu ermitteln und die eventuell spätere Anklage letztendlich auf ein sicheres Gleis zu bringen. Hier positionieren sich u.a. Hermanutz und Litzcke eindeutig, indem bereits im Ermittlungsverfahren eine Glaubhaftigkeitsanalyse durchzuführen sei.5

Es geht nicht um be- oder entlastende Aktivitäten im Rahmen der Gutachtenerstellung. Es geht ausschließlich um die Ermittlung der Wahrheit!


Zur Frage, welche konkreten wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen gekoppelt sind, ist auf ein BGH-Urteil vom 30.07.1999 zu verweisen, das Mindeststandards festlegt.6 Sachverständige gehen zunächst immer von der Nullhypothese aus, d.h. es wird angenommen, die Behauptung sei unwahr. Im Anschluss werden weitere Hypothesen und Alternativen gebildet. Lässt sich damit die unwahre Annahme nicht mehr aufrechterhalten, wird die Nullhypothese verworfen. Zudem hat sich der Sachverständige methodischer Mittel zu bedienen, die dem aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft gerecht werden.7 Zusammengefasst sollten in Anlehnung an das BGH-Urteil folgende Realkennzeichen zur Validität der Aussage vorliegen:
Logische Konsistenz,
Detailreichtum,
Raum-zeitliche Verknüpfungen,
Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge,
Deliktsspezifische Aussageelemente,
Entlastung des Beschuldigten.
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Rechtsmedizinische Untersuchung nach angezeigter Vergewaltigung:


Die rechtsmedizinische körperliche Untersuchung nach einem stattgehabten sexuellen körperlichen Missbrauch besteht aus mehreren Teilschritten. Neben der rechtsmedizinischen Aufgabe des Arztes, eine forensische Beweiserhebung in Form einer standardisierten Spurensuche und Asservierung vorzunehmen, ist ebenso eine Inaugenscheinnahme des gesamten Körpers notwendig, da in zahlreichen Fällen einer tatsächlichen Vergewaltigung diese nicht lediglich durch Androhung körperlicher Gewalt, sondern ebendurch statthabenden körperlichen Gewalt stattfinden. Es ist somit zwischen sogenannten „ Hands on“ und „ Hands off“ Delikten zu unterscheiden. Aus diesem Grund ist nach einer Vergewaltigung eben nicht nur die gynäkologische Untersuchung mit entsprechender Spurenasservierung, sondern auch eine rechtsmedizinische Begutachtung notwendig, insbesondere auch zur ebenfalls notwendigen Stellung der Diagnose einer lebensgefährlichen Verletzung, welche aus rechtsmedizinischem Kontext eben anders beurteilt wird, als aus dem Kontext anderer Fachdisziplinen (Chirurgie, Innere Medizin). Vor jeder ärztlichen Untersuchung ist eine Anamneseerhebung notwendig. Zu einer möglichen Minimierung einer sekundären Viktimisierung durch mehrfache Notwendigkeit der Schilderung eines Geschehens ist es wünschenswert, jedoch in der Praxis nicht immer durchführbar, dass zum Zeitpunkt der fachgynäkologischen Untersuchung auch der Rechtsmediziner anwesend ist, sodass die Schilderung durch die Geschädigte nur einmal gegenüber beiden Medizinern erfolgen muss. Diese sollte sich aus rechtsmedizinischer Sicht in folgende Einzelkomplexe gliedern:

  • Tathergang mit Datum und Vorfallzeit
  • Art des Geschlechtsverkehrs
  • Ejakulation
  • Benutzung eines Kondoms
  • Extragenitale Gewalteinwirkungen
  • Abwehrmaßnahmen der Geschädigten
  • Alkohol/Drogenkonsum
  • Benutzung eines Werkzeuges

Bei geschilderter Gewalteinwirkung gegen den Hals ist zudem zu eruieren, ob es zu einem Schwarzwerden vor den Augen, einer Bewusstlosigkeit, Urin- und Kotabgang, Luftnot, Panik und sogenannten „Stern-Sehen“ gekommen ist. Dabei ist darauf zu achten, dass derartiges nicht in einem Ja/Nein-Kontext abgefragt wird, um diesbezüglich sekundär nicht prüfbare Angaben des Opfers nicht zu bahnen. Zudem sind bei Gewalteinwirkung gegen den Hals die Frage nach Schluckstörungen, Halsschmerzen und Heiserkeit notwendig. Bei Gewalteinwirkung gegen den Hals wäre die Durchführung einer Magnetresonanztomografischen Untersuchung zur Prüfung des Vorliegens von Einblutungen in die Halsweichteile wünschenswert, in Praxis jedoch in vielen Fällen nicht realisierbar. Zudem sind zu erfragen: Aktuell bestehende anogenitale Symptome wie Blutungen, Schmerzen und vorbestehende anogenitale Erkrankungen (vaginale Infektionen). Gynäkologisch werden abgefragt der Zeitpunkt der letzten Regelblutung, der letzte einverständliche Geschlechtsverkehr, die Einnahme von Antikonzeptiva sowie die Durchführung einer potenziellen Körper- und Genitalreinigung nach dem Vorfall. Ferner die Abfrage der Mundhygiene nach stattgehabtem Oralverkehr, letzte Miktion und letzter Stuhlgang und eine evtl. Medikamenteneinnahme. Beim vermeintlichen Opfer sollte bei Einverständnis eine Blutprobenentnahme hinsichtlich einer Beeinträchtigung durch Alkohol und Betäubungsmittel erfolgen, zudem sollte stets an die Einwirkung sogenannter KO-Tropfen gedacht werden, welche eine zeitnahe Entnahme der Blutprobe und ggf. eine notwendige Urinprobe erforderlich machen. Sollte durch die Polizei noch keine Asservierung der Bekleidung der Geschädigten erfolgt sein, so sollte dies im Rahmen der gynäkologischen/rechtsmedizinischen Untersuchung erfolgen. Die gynäkologische Dokumentation extra- und intragenitaler Verletzungen erfolgt durch den Gynäkologen. Im Rahmen der anschließenden rechtsmedizinischen Untersuchung erfolgt eine entsprechende Fotodokumentation sämtlicher körperlicher Befunde, wobei auch Negativbefunde (also das Fehlen von Verletzungen) relevant und zu dokumentieren sind. Bei geschilderten Fesselungen ist explizit der Handgelenksknöchelbereich zu dokumentieren und ggf. die Fesselung, soweit möglich, nochmals detailliert zu erfragen.
Weiterhin wesentlich bei einem sich wehrenden Opfer ist ein möglicher Nachweis von Fremd-DNA unter den Fingernägeln. Nach rechtsmedizinischer Erfahrung ist ein Transfer vom Opfer auf den Täter doppelt so häufig wie umgekehrt. Aus rechtsmedizinischer Sicht ist das Unterlassen einer gynäkologischen und einer rechtsmedizinischen Untersuchung bei einem sogenannten „Hands off“ – Delikt, d.h. einer behaupteten oder tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigung, bei der nur eine Bedrohung stattfand und es nach Angaben der Geschädigten nicht zur Gewalteinwirkung kam, bedenklich.
Gleiches gilt bei der Angabe, dass ein Kondom beim Verkehr benutzt wurde. Auch hier ist eine gynäkologische Untersuchung notwendig, da auch der Kondomgebrauch auf Grund der im Überzug-Trennstoff der Kondoms befindlichen Sporen (Lycopodium) nachweisbar ist. Wesentlich ist zudem für die gynäkologische Untersuchung der Vordruck zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht, hinsichtlich der rechtsmedizinischen Untersuchung ist das Opfer darauf hinzuweisen, dass diesbezüglich kein Arzt-Patienten-Verhältnis besteht. Ein intensiver Austausch zwischen den ermittelnden Beamten und dem Rechtsmediziner ist in Anbetracht der Deliktschwere nicht nur wünschenswert, sondern zwingend erforderlich.

Zögerliches Anzeigeverhalten:


Viele Opfer neigen nach einer gewaltsamen Straftat zu einem zögerlichen Anzeigeverhalten. Häufig müssen deren Angehörige bzw. Lebenspartner auf die Erstattung einer Strafanzeige drängen. Darüber hinaus ist die Aussagetüchtigkeit mitunter deutlich eingeschränkt. Auch die sich anschließende gynäkologische Untersuchung wird oftmals nicht erwünscht. Unbestritten können für derartige Abwehrhaltungen nachvollziehbare Gründe ursächlich sein: Für „echte“ Opfer stellt die Untersuchung erneut eine Konfrontation mit der Tat dar, die nicht zuletzt schambesetzt sein kann. Auch kann eine Traumatisierung das Bestreben einer gelingenden Beweisführung erheblich hemmen. Man darf also keineswegs davon ausgehen, dass eine Ablehnung der ärztlichen Konsultation zwangsläufig mit einer Vortäuschung einhergeht. Viele Frauen begründen die zögerliche Bereitschaft zur Anzeige zudem mit einer erheblichen Angst vor anschließenden Schikanehandlungen und Rache des Täters.
Generell sollten die Ermittlungspersonen bei Ablehnung der Untersuchung zur Vorstellung in der rechtsmedizinischen Opferschutzambulanz anraten. Wer von sexueller bzw. körperlicher Gewalt betroffen ist, kann die Verletzungsbilder und Spuren in diesen Einrichtungen kostenfrei dokumentieren und asservieren lassen. Die Befunde werden viele Jahre gespeichert. So kann der Täter auch noch viele Jahre nach der Tatbegehung zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Die Opferschutzambulanzen unterliegen gegenüber der Polizei der Schweigepflicht.

In dubio pro reo?


Eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Männern sitzt aufgrund von Falschaussagen von Frauen im Gefängnis. Die Motivationen hierfür können sehr komplex sein, häufig erfolgen sie im Kontext von Trennungen, Sorgerechtsstreitigkeiten oder Racheakten. Dass nicht alle Begutachtungen fehlerfrei sind, worin auch immer die Ursachen liegen – sei es mangelnde Sachkunde, Ignorieren des aktuellen Stands der Wissenschaft oder Verzicht auf persönliche Exploration – ist hinlänglich bekannt. Ermittlungsbehörden, Gerichte und GutachterInnen tendieren häufig dazu, den Aussagen der Frau „unter Tränen“ mehr Glaubhaftigkeit zu schenken, als den tatsächlich unschuldigen Männern. Das Gericht muss alle möglichen Beweismittel ausschöpfen, hierzu zählen ebenso die entlastenden Beweismomente für den Angeklagten. Der Zweifelssatz als Entscheidungsregel hebt ganz klar hervor, dass kein Mensch verurteilt werden darf, wenn Skepsis am Tatgeschehen besteht. Nicht der Angeklagte muss seine Unschuld beweisen, sondern die Strafverfolgungsbehörde muss ihm seine Schuld beweisen.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Anzahl von Verfahren wegen erwiesener Vortäuschung einer Straftat oder falscher Verdächtigung unterdessen außerordentlich gering einzustufen ist. Dabei verursachen derartige Täuschungen hohe Kosten. Sie binden Personal und verschwenden Zeit und Energie, die zu Lasten der Bearbeitung „echter“ Kriminalfälle geht. Weiterhin wird die Kriminalitätsfurcht innerhalb der Bevölkerung grundlos gesteigert. Auch verzerren die falschen Beschuldigungen durch die Registrierung der Anzeige das tatsächliche Ausmaß der Kriminalität in der PKS.
Die Ausführungen verdeutlichen, wie wichtig eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit in jenen Fallkonstellationen ist, die den Verdacht auf Vortäuschung eines Sexualdelikts erhärten. Vor diesem Hintergrund können und müssen die Fachrichtungen der Rechtsmedizin, Psychologie, Soziologie und Kriminologie zusammenwirken und anhand wissenschaftlicher Methoden eine Fragestellung hinreichend zu klären versuchen. Mit zunehmender Bedeutung der fachlichen Analysen für die Ermittlung der Wahrheit und dem wachsenden Bewusstsein für die Tragweite potentieller Falschaussagen erlangt insbesondere das Instrumentarium der versierten Aussageanalyse einen wichtigen Stellenwert bei der polizeilichen Ermittlungsunterstützung.

Zu den Autoren:


Dr. K. Jachau (geb. 1970) hat in Magdeburg Medizin studiert. Die Facharztweiterbildung erfolgte an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und an der Strathclyde University in Glasgow. Seit 2005 ist sie als Fachärztin für Rechtsmedizin am Institut in Magdeburg tätig.
Dr. B. Goetze (geb. 1979) hat in Magdeburg Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaften an der Fakultät für Humanwissenschaften studiert. Das Studium der Kriminologie (Criminology and Criminal Justice) erfolgte an der juristischen Fakultät der Universität Greifswald. 2014 erfolgte die Ernennung zum Dr. phil. Gegenwärtig ist sie Referentin im Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt.

Anmerkungen

  1. Polizeistudie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ (2005); herausgegeben vom Bayerischen Landeskriminalamt.
  2. Vor allem Soziologen sind imstande, eine systematische qualitative Inhaltsanalyse vorzunehmen. Bei diesem Verfahren handelt es sich um eine Textanalysemethode, die zwar auf Interpretationen basiert, in der Regel jedoch gute Informationen zum Textproduzenten zu Tage fördert. Gleichwohl ist diese Methode vorrangig als Forschungsstrategie in der Wissenschaft angesiedelt. Die linguistische Gesprächsanalyse oder die Konversationsanalyse sind hilfreiche „Instrumente“ zur Erforschung nonverbaler Interaktionen.
  3. Vgl. Jansen, Gabriele (2012): Zeuge und Aussagepsychologie. S. 17.
  4. Vgl. Undeutsch S. 26. In: Jansen, Gabriele: Zeuge und Aussagepsychologie. S. 3.
  5. Vgl. Hermanutz/Litzcke (2012): Vernehmung in Theorie und Praxis. Wahrheit-Irrtum-Lüge. S. 63.
  6. Vgl. BGH-Urteil 1 StR 618/98 – LG Ansbach.
  7. Vgl.Steller MrschKrim 1988, S.16, 24.
  8. BGH-Urteil 1 StR 618/98 LG Ansbach; In: BeckRS 1999 30068766 beck-online; siehe auch: Bender/Nack:Tatsachenfeststellung vor Gericht Bd. 1 2. Rdn.231 ff.