Im Zweifel für die Sicherheit?

Von Dr. Udo Baron, Historiker, Hannover

Es war der Abend des 9. November 1989, als mit der Berliner Mauer das globale Symbol für Unfreiheit und Unterdrückung fiel. Es war der Vormittag des 11. September 2001, als von islamistischen Terroristen gesteuerte Flugzeuge ins World Trade Center von New York rasten und der Welt auf erschreckende Art und Weise demonstrierten, wie fragil Freiheit und Sicherheit auch nach dem Ende des Kalten Krieges sind. Der 9. November und der 11. September – zwei Ereignisse von weltpolitischer Dimension, die kaum gegensätzlicher sein könnten. Sinnbildlich stehen sie für den Stellenwert, den Freiheit und Sicherheit in unserer Welt einnehmen. Manche wie der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sahen mit dem Mauerfall bereits das Ende der Geschichte gekommen, mancher hoffte gar auf eine Friedensdividende in der Annahme, die Bedrohung demokratischer Gesellschaften würde abnehmen. Spätestens mit den Angriffen auf New York und Washington wurden sie je aus ihren Tagträumen gerissen. Symbolisiert das Niederreißen der Berliner Mauer das unermüdliche Streben der Menschen nach Freiheit, so steht der bislang verheerendste Terroranschlag der Menschheitsgeschichte quasi als Menetekel für die Bedrohung der Freiheit durch ihre Gegner und die Erkenntnis, dass wir auf Sicherheit auch im 21. Jahrhundert nicht verzichten können.

Setzt man sich näher mit den Begriffen von Freiheit und Sicherheit auseinander, so stellt man unschwer fest, dass es viele Formen der Freiheit gibt: die persönliche, die kollektive, aber auch die innere und äußere Freiheit, um nur einige Beispiele zu benennen. In der Regel wird Freiheit als eine Chance, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können, verstanden. Im Vordergrund steht dabei die Willens- und Handlungsfreiheit eines jeden Einzelnen. Freiheit beschreibt somit einen Zustand der Autonomie eines Subjekts.
Sicherheit bezeichnet dagegen einen Zustand, der frei ist von unvertretbaren allgemeinen und persönlichen Risiken. Er ist jedoch eher ein relativer Zustand der Gefahrenfreiheit, denn er gilt nur unter bestimmten Bedingungen für eine bestimmte Umgebung und einen bestimmten Zeitraum. Beeinträchtigungen können nicht vollständig ausgeschlossen werden und sind somit jederzeit möglich.
Viele Geistesgrößen haben sich im Laufe der Jahrhunderte mit dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit beschäftigt. Für den englischen Staatstheoretiker Thomas Hobbes beispielsweise ist die Sicherheit die Grundvoraussetzung allen menschlichen Zusammenlebens. Der Mensch ist seiner Ansicht nach ein von Natur aus habgieriges und brutales Wesen, dass durch den Staat vor sich selbst geschützt werden muss. In seiner staatstheoretischen Schrift Der Leviathan schlägt er eine Art „Gesellschaftsvertrag“ zwischen Bürger und Staat vor. Jeder Einzelne soll darin freiwillig und unwiderruflich sein Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht an den Staat abtreten und dafür im Gegenzug von diesem vor den inneren und äußeren Feinden geschützt werden.
Nach Auffassung des Engländers John Locke, geistiger Vater des Liberalismus, steht dem Staat in seiner Schrift Two Treatises of Goverment aus dem Jahre 1690 das Recht zu, die legislative und die judizielle Gewalt auszuüben, d.h. Normen aufzustellen und in Streitfällen zu entscheiden. Diese beiden Gewalten müssen jedoch getrennt sein, da die Gewalt der Völker stets der Regierungsgewalt zum Zwecke der Gewährleistung von Schutz, Eigentum und Freiheit seiner Bürger übergeordnet sein muss. Eine Regierung ist somit nur legitimiert, wenn sie die Freiheit ihrer Bürger mit deren Zustimmung schützt.
Bei Immanuel Kant sind Freiheit und Pflicht zwei Seiten einer Medaille, da nur eine pflichtgemäße Entscheidung auch eine freie ist und umgekehrt. Für ihn sind die Freiheitsrechte unveräußerlich. In seiner Metaphysik der Sitten hebt er hervor, dass es zu den Aufgaben eines Staates gehört, die formelle Freiheit des Einzelnen zu ermöglichen. Dazu dient ihm das Recht, mit dessen Hilfe er die Freiheitsansprüche des Einzelnen harmonisiert.
Auch in den Überlegungen des französischen Universalgelehrten Jean-Jacques Rousseau, die er vor allem in seinem Contract Social anstellt, spielt die Freiheit eine zentrale Rolle. Im Unterschied zu Hobbes ist der Mensch für Rosseau in seinem ursprünglichen Zustand zwar ein gutes Wesen. Um Schutz und relative Freiheit zu erlangen, soll der Einzelne nach Rousseaus Vorstellungen im Rahmen eines sogenannten Sozialkontrakts zwischen Staat und Individuum seine individuelle Freiheit zu Gunsten einer Unterordnung unter dem Staat aufgeben und dafür von diesem den nötigen Schutz innerhalb der staatlichen Rechtsordnung erhalten.
Am sichtbarsten wird der Stellenwert, den die Neuzeit der Freiheit beimisst, am Beispiel der Parole der Französischen Revolution. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ bilden seitdem den Wertekanon aller demokratischen Gesellschaften. Im Gegensatz zu den Überlegungen führender Staatstheoretiker und Philosophen zählt die Sicherheit aber nicht dazu. Da sie mit Einschränkungen und Zumutungen verbunden ist, steht sie als Gefährdung der Freiheit seitdem permanent in der Kritik
Heutzutage erklärt nahezu jeder Staat die Freiheit zu seinen schützenwertesten Gütern. Im Gegensatz zu autoritären und totalitären Systemen ist die Freiheit aber erst im demokratischen Rechtsstaat zum unmittelbaren Maßstab staatlicher Legitimität geworden. Unveräußerlicher Teil der Freiheit ist in einer Demokratie der Mensch und seine Würde. Sie ist unantastbar und unterliegt dem besonderen staatlichen Schutz. Das Recht auf Freiheit ist somit ein Menschenrecht. Umfassend beschreibt unser Grundgesetz in seinen ersten 19 Artikeln, wovon die ersten zehn bekanntlich Ewigkeitscharakter haben, was Freiheit in einem freiheitlichen System bedeutet: das Grundrecht auf die Freiheit der Person und die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), welches die körperliche Bewegungsfreiheit garantiert und vor ungerechtfertigten Festnahmen, wie sie beispielsweise in Diktaturen an der Tagesordnung sind, schützt. Hinzu kommen zentrale Essentials für eine freie und offene Gesellschaft wie die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4), die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit sowie die Freiheit von Wissenschaft und Kunst (Art.5), die Versammlungs- (Art. 8), Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9) sowie das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11) und die freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes (Art. 12).
Doch die Freiheit besteht nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten. Freiheit heißt auch, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst als auch für andere. Verantwortungsbewusste Freiheit bedeutet, nicht wegzuschauen, wenn andere in ihren Grundrechten eingeschränkt werden, wenn dem Einzelnen Unrecht geschieht oder wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Freiheit muss gestaltet werden – und da kommt die Sicherheit ins Spiel.
Das Streben nach Sicherheit ist ein archaisches. Von Geburt an sucht der Mensch Schutz vor Bedrohungen, um sein Überleben zu sichern. Es gehört deshalb zu den vornehmsten Aufgaben des modernen Verfassungsstaates, mit seinem Gewaltmonopol den Schutz und die Sicherheit seiner Bürger vor inneren und äußeren Feinden zu gewährleisten – seien es nun Kleinkriminelle, die Organisierte Kriminalität, Verfassungsfeinde oder Terroristen. Die Freiheit ist kein Selbstläufer – oder in den Worten des preußischen Gelehrten Wilhelm von Humboldt: „Denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit“. Sie ist vielmehr permanenten Bedrohungen durch ihre Gegner ausgesetzt. Gewalttätige Demonstranten fordern ebenso wie organisierte Banden von Drogenschmugglern, Waffen- und Menschenhändlern oder Terrorgruppen wie der Islamische Staat (IS), der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) oder die (ehemalige) Rote Armee Fraktion (RAF) den demokratischen Rechtsstaat und seinen Wertekanon heraus. Hinzu kommen die noch gar nicht abzusehenden Gefahren, die künftig unter dem Stichwort „Cybercrime“ noch auf unsere offenen Gesellschaften zukommen können. Aber auch der Staat selber kann zur Gefahr für die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger werden, wenn er gegen die universellen Menschenrechte verstößt und sich in eine Tyrannis wandelt.
In der öffentlichen und veröffentlichten Meinung werden Freiheit und Sicherheit häufig als Gegensätze aufgefasst. Der Wunsch nach größtmöglicher Sicherheit einerseits und weitgehender individueller Freiheit andererseits führt zwangsläufig dazu, dass zwischen Freiheit und Sicherheit ein permanentes Spannungsverhältnis besteht. Oftmals entsteht dabei der Eindruck, Sicherheit sei immer nur auf Kosten der Freiheit zu erlangen. Freiheit und Sicherheit konkurrieren zwar miteinander, sie sind deshalb aber keine natürlichen Gegensätze. Vielmehr brauchen sie sich gegenseitig, denn die tägliche Bedrohung unserer freiheitlichen Lebensweise ist keine Schimäre, sondern nur allzu oft brutale Realität. Die Freiheitsrechte brauchen deshalb den verantwortungsbewussten Staat und dessen Repräsentanten, nur in dessen Schutz können sie sich frei entfalten. Die Sicherheit wiederum braucht die Freiheit, da sie ohne Freiheit ihrer Bestimmung beraubt wäre und zur Sicherheit eines totalitären Gebildes degenerieren würde. Verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik bedeutet deshalb, die zarte Pflanze der Freiheit immer wieder aufs Neue zu schützen, ihr die nötige Sicherheit zu geben, damit sie sich entfalten und wirken kann. Vorrangige Aufgabe des demokratischen Staates muss es sein, die Freiheitsrechte und Sicherheitsbedürfnisse des Einzelnen und der Gemeinschaft miteinander in Einklang zu bringen. Der Bürger muss sich im Rechtsstaat auf effektiven Schutz durch den Staat ebenso verlassen können wie auf den Schutz vor dem Staat. Nur wenn das Wechselspiel zwischen verantwortungsbewusster Freiheit und verantwortungsbewusster Sicherheit funktioniert, können wir frei von einer die absolute Wahrheit beanspruchenden Religion oder Ideologie und somit frei von einem totalitären, diktatorischen Staat leben.
Dennoch läuft die Freiheit auch im demokratischen Rechtsstaat immer wieder Gefahr, zu Gunsten der Sicherheit einge- und beschränkt zu werden. Die bundesrepublikanischen Parteienverbote der 1950er Jahre gegen die Sozialistische Reichspartei (SRP) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die Notstandsgesetzgebung Ende der 1960er Jahre oder der sogenannte Radikalenerlass zu Beginn der 1970er Jahre symbolisieren bis heute das Spannungsverhältnis, in dem sich Freiheit und Sicherheit auch bei uns bewegen. Vor dem Hintergrund der mit den Ereignissen vom 11. September 2001 verbundenen Herausforderungen haben zudem Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen auch in demokratischen Gesellschaften eine neue Qualität bekommen. Es ist der Ausbau präventiver Sicherheitsmaßnahmen, vor allem der Streit um die verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung, und in jüngster Zeit die Debatte um die Abhörmaßnahmen der National Security Agency (NSA), die die Diskussionen um Sinn und Unsinn unserer Sicherheitsarchitektur befeuern. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unsere Demokratie auch Gefahr läuft, die Freiheit vor ihren Gegnern auf Kosten der Freiheit zu schützen.
Sicherheit bedeutet aber für den Bürger nicht nur innere und äußere Sicherheit, sondern vor allem auch soziale Sicherheit. Gerade beim Stichwort „soziale Sicherheit“ wird aber deutlich, welchen Stellenwert die Freiheit für den Einzelnen oftmals hat. Folgt man den Ergebnissen einer Umfrage, die die renommierte Körber-Stiftung im Auftrag des Auswärtigen Amtes durchgeführt hat, so zählen nur 16 Prozent der Befragten die Freiheit zu ihrem Wertekanon. Schaut man auf die öffentliche und veröffentlichte Meinung, so gewinnt man leicht den Eindruck, dass die Freiheit zwar für die meisten Bürger ein schützenwertes Gut ist. Geht es aber um die Besitzstandswahrung, so muss in der Praxis die Freiheit zugunsten der sozialen Sicherheit nur allzu oft ins zweite Glied zurücktreten. Denn nur allzu leicht wird den materiellen Bedürfnissen Vorrang vor den ideellen Werten eingeräumt. Bundespräsident Joachim Gauck hat diese Haltung dazu veranlasst, in seinem Buch Freiheit. Ein Plädoyer ironisch den Artikel 1 des Grundgesetzes in „Die Besitzstandswahrung ist unantastbar“ abzuändern.
Im Zweifel für die Sicherheit? Nein, die Sicherheit kann nicht die Freiheit ersetzen. Die Werte einer offenen und demokratischen Gesellschaft dürfen nicht für eine (vermeintliche) Sicherheit geopfert werden. Sicherheit darf niemals die Freiheit ersticken und eine Friedhofsruhe nach sich ziehen, wie es in manchen autoritären oder gar diktatorischen Systemen nur allzu oft Gang und Gebe ist. Würden wir dieses zulassen, wären wir in nicht allzu ferner Zeit nicht anders als diejenigen, die unsere Freiheit bedrohen. Ein Blick in die jüngste deutsche Geschichte lässt hoffen, dass auch wir sicherheitsbewussten Deutschen durchaus den Stellenwert von Freiheit erkannt haben. Erinnert sei hier vor allem an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und an die friedliche Revolution vom Herbst 1989.Sicherheit und Freiheit sind aber auch keine Antipoden und sollten auch nicht als solche behandelt werden. Vielmehr sind sie zwei Seiten einer Medaille. Allen Widrigkeiten zum Trotz befinden sich beide grundsätzlich in einem kreativen Spannungsverhältnis, wobei die Sicherheit quasi die Voraussetzung für die Freiheit bildet. Es ist die Verantwortung, die beide miteinander verbindet. Freiheit und Sicherheit brauchen die Verantwortung, denn ohne sie sind beide letztlich nur lose Worthülsen. Erst wenn der Staat und seine Bürger verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen wissen, können sie zum Wohle aller ihre ganze Kraft entfalten.