Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§ 211 Abs. 2 Var. 9, §§ 22, 23 StGB – Mordversuch; hier: Verdeckungsabsicht. §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Anfahren mit einem Kraftfahrzeug. § 239b StGB – Geiselnahme; hier: Zusammenhang zwischen Bemächtigungslage und Nötigung. § 242 StGB – Diebstahl; hier: Einscannen eines falschen Strichcodes an einer Selbstbedienungskasse.(...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§ 211 Abs. 2 Var. 9, §§ 22, 23 StGB – Mordversuch; hier: Verdeckungsabsicht. Der Angeklagte (A.) war zusammen mit seiner Lebensgefährtin in der Limburger Innenstadt unterwegs, als eine seiner Töchter mit ihrer siebenjährigen Halbschwester E. in Streit geriet. A. versetzte beiden Kindern mit der flachen Hand Schläge ins Gesicht. Ein sich zufällig in der Nähe befindlicher Polizeibeamter (P.) in Zivil forderte den A. aus seinem Auto heraus auf, dies zu unterlassen. Gleichwohl trat der A. der siebenjährigen E. mit dem Fuß gegen Gesäß und Rücken. Daraufhin verließ P. sein Auto und verlangte unter Vorzeigen seines Dienstausweises den Personalausweis des A. Als dieser erwiderte, er habe seinen Ausweis nicht dabei, wählte P. mit seinem Mobiltelefon den Polizeinotruf und forderte den A. auf, an Ort und Stelle zu bleiben. Dabei zeigte er ihm erneut seinen Dienstausweis. Um seine drohende Identifizierung und Bestrafung wegen der vorherigen Körperverletzung der E. zu verhindern, schlug A. dem P. mit der Faust in die linke Gesichtshälfte. Anschließend versetzte er dem zu Boden gegangenen P. mit bedingtem Tötungsvorsatz einen wuchtigen Fußtritt ins Gesicht, wodurch dieser mehrere Frakturen im Kopfbereich erlitt. Im Anschluss trat er noch mehrmals in Richtung des Gesichts des P., der sich mit den Händen zu schützen versuchte. A. ließ erst vom P. ab, als ein Lkw-Fahrer am Tatort eintraf und mehrfach die Hupe betätigte, um Hilfe herbeizuholen.
Der BGH hat das Urteil des LG Limburg an der Lahn bestätigt, mit welchem der A. wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war.(BGH, Entsch. v. 05.08.2014 – 2 StR 172/14)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Gefährliche Körperverletzung; hier: Anfahren mit einem Kraftfahrzeug. Wird eine Person durch ein gezieltes Anfahren mit einem Kraftfahrzeug zu Fall gebracht, setzt die Annahme einer gefährlichen Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB voraus, dass bereits durch den Anstoß eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit eine körperliche Misshandlung gemäß § 223 Abs. 1 StGB ausgelöst worden ist. Erst infolge des anschließenden Sturzes erlittene Verletzungen, die nicht auf den unmittelbaren Kontakt zwischen Kraftfahrzeug und Körper zurückzuführen sind, können für sich allein die Beurteilung als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht tragen. (BGH; Beschl. v. 30.07.2013 – 4 StR 275/13)

§ 239b StGB – Geiselnahme; hier: Zusammenhang zwischen Bemächtigungslage und Nötigung. Der Angeklagte (A.) überfiel die Nachbarin seiner Lebensgefährtin, die Nebenklägerin (N.), in ihrer Wohnung, bedrohte sie mit einem 30 cm langen Küchenmesser und verlangte von ihr die Herausgabe von Geld und ihrer EC-Karte. Dabei kündigte er mehrfach an, er werde sie töten, wenn sie seinen Forderungen nicht nachkomme. Nach Aushändigung ihrer EC-Karte durchsuchte A. ihre Handtasche und fand darin ein Kuvert mit ihren Ersparnissen, 2.700 € in bar, die er zählte und einsteckte. Im Anschluss daran zerbrach er die SIM-Karte aus dem ihm zuvor übergebenen Mobiltelefon der N. und zerschnitt mit dem mitgeführten Küchenmesser die Telefonkabel im Wohnzimmer. Er forderte sie auf, sich im Schlafzimmer auf ihr Bett zu legen, wo er sie mit einem abgeschnittenen Telefonkabel fesselte und mit einem Sweatshirt knebelte. Dabei wiederholte er immer wieder, dass sie keinen „Mucks machen“ solle, andernfalls werde er sie töten. Schließlich verlangte er, sie solle sich 30 Minuten lang nicht bewegen oder bemerkbar machen und verließ die Wohnung.
Nach § 239b Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer sich eines Menschen bemächtigt, um diesen durch eine qualifizierte Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder, wer eine bestehende Bemächtigungslage zu einer derartigen Nötigung ausnutzt. Der Täter muss entweder bereits im Zeitpunkt der Begründung der Herrschaft über das Opfer die Absicht haben, die Bemächtigungslage zu der Nötigung auszunutzen, oder er muss die durch ihn aus anderen Gründen herbeigeführte Bemächtigungslage tatsächlich zu der Nötigung ausnutzen, das heißt, zumindest im Sinne eines Versuchs unmittelbar zu ihr ansetzen. In beiden Fällen ist es zudem erforderlich, dass er einen Nötigungserfolg erstrebt, der über den zur Bemächtigung erforderlichen Zwang hinausgeht. Zudem muss zwischen der Bemächtigungslage und der geplanten bzw. zumindest begonnenen Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang in der Form bestehen, dass die abgenötigte Handlung, Duldung oder Unterlassung von dem Opfer vorgenommen werden soll, solange es sich in der Gewalt des Täters befindet. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben: In der Drohung, N. zu töten, lag zwar eine qualifizierte Drohung im Sinne von § 239b Abs. 1 StGB. Jedoch fehlt es an einer (stabilisierten) Bemächtigungslage, die in ihrer Zwangswirkung auf die N. über das hinausging, was zur Umsetzung der räuberischen Absichten des A. erforderlich war. Spätestens mit der Fesselung der Nebenklägerin könnte eine derartige Stabilisierung der Bemächtigungslage eingetreten sein. Jedoch fehlt es an einer qualifizierten Nötigung. Denn indem A. die Wohnung der N. verließ, hob er die Bemächtigungslage objektiv auf, bevor der von ihm erstrebte Nötigungserfolg (keine Alarmierung der Polizei) eintreten sollte. (BGH, Beschl. v. 06.08.2013 – 3 StR 175/13)

§ 242 StGB – Diebstahl; hier: Einscannen eines falschen Strichcodes an einer Selbstbedienungskasse. Der Angeklagte (A.) begab sich in einen Supermarkt. Er ging zu dem dortigen Zeitschriftenregal und entnahm einen „Playboy“ für 5 €. Mit diesem lief er zur Selbstbedienungskasse. Dort scannte er nicht den auf dem „Playboy“ befindlichen Strichcode ein, sondern hielt den zuvor von der Tageszeitung „WAZ“ ausgerissenen Strichcode, den er in seinem Portemonnaie mit sich geführt hatte, unter das Lesegerät. Die Kasse warf daraufhin den Preis für eine „WAZ“ von 1,20 € aus, welchen der Angeklagte bezahlte. Sodann verließ er mit dem „Playboy“ das Geschäft.
Der Tatbestand des § 263a StGB erfordert, dass die Manipulation des Datenverarbeitungsvorgangs unmittelbar eine vermögensrelevante Disposition des Computers verursacht. Dies ist nicht der Fall, wenn ein Käufer einen falschen Strichcode an einer Selbstbedienungskasse einscannt (hier: Barcode einer Tageszeitung im Wert von 1,20 € statt eines Magazins im Wert von 5 €), da das Einscannen des Strichcodes allein zu der Anzeige eines im Verhältnis zu der tatsächlich ausgewählten Ware geringeren Kaufpreises führt. Die nachfolgende Mitnahme der Ware wird durch den Datenverarbeitungsvorgang als solchen weder ermöglicht noch erleichtert. Der § 263a StGB kann nicht derart weit ausgelegt werden, dass auch solche Verhaltensweisen erfasst werden, die ohnehin bereits nach § 242 StGB unter Strafe gestellt sind. Beide Tatbestände schließen sich aus. Die Mitnahme einer anderen als der zuvor an einer Selbstbedienungskasse eingescannten und zu einem geringeren Preis bezahlten Ware erfüllt den Tatbestand des Diebstahls gem. § 242 Abs. 1 StGB. Eine Wegnahme liegt vor, weil der Geschäftsinhaber bzw. Geschäftsführer sein Einverständnis in einen Gewahrsamsübergang nur unter der Bedingung erteilt, dass die Selbstbedienungskasse äußerlich ordnungsgemäß bedient wird. (OLG Hamm, Beschl. v. 08.08.2013 – 5 RVs 56/13)



§§ 263a, 22, 23 StGB – Versuchter Computerbetrug; hier: Pishing. Der Angeklagte (A.) veranlasste die ihm bekannten Landsleute S. und N., sich zum Schein unter einer Berliner Anschrift anzumelden und unter Hinweis auf den Bezug von Sozialleistungen bei verschiedenen Kreditinstituten acht Bankkonten zu eröffnen. Die Kontounterlagen, insbesondere die Geldkarten nebst den entsprechenden PIN-Nummern sowie die Online-Zugangsdaten fing A. ab, weil er die Konten als Zielkonten verwenden wollte, auf die von fremden Konten mittels erschlichener Zugangsdaten Geldbeträge transferiert werden sollten. Auf einem von der Zeugin N. eingerichteten Konto gingen im weiteren Verlauf 4.000 Euro ein, die mittels erschlichener Zugangsdaten von dem Sparkassenkonto der A. und A. G.-Stiftung in Frankfurt am Main abgebucht worden waren.
Nach § 263a StGB macht sich strafbar, wer das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs durch unrichtige Gestaltung des Programms, Verwendung unrichtiger oder unvollständiger Daten, unbefugte Verwendung von Daten oder sonst unbefugte Einwirkung auf den Ablauf beeinflusst, um sich oder einem Dritten auf Kosten eines anderen einen rechtwidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Diese Tat versucht mithin nur, wer unmittelbar zu einer dieser Handlungen ansetzt. Dies liegt erst dann vor, wenn die Handlung nach dem Tatplan der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals unmittelbar vorgelagert ist und im Falle des ungestörten Fortgangs ohne Zwischenakte in die Tatbestandshandlung unmittelbar einmündet.
Hat ein Täter widerrechtlich Konto-, Identifikations- und Transaktionsnummern sowie Zugangscodes von anderen Benutzern des Internets mittels Phishing erlangt, liegt ein Ansetzen zur Verwirklichung des Straftatbestands des Computerbetrugs in Sinne des § 22 StGB erst dann vor, wenn er diese Daten verwendet, indem er sie beispielsweise in den Computer eingibt, um so eine von dem tatsächlich Berechtigten nicht autorisierte Überweisung zu tätigen. Die Einrichtung von Zielkonten, eine fingierte polizeiliche Anmeldung und das Abfangen von Kontounterlagen können dagegen zwar auf einer Täuschungshandlung beruhen, stellen jedoch noch keinen versuchten Computerbetrug dar. (KG Berlin, Beschl. v. 02.05.2012 – (3) 121 Ss 40/12)

II. Prozessuales Strafrecht


§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO – Haftgrund Flucht; hier: Keine Flucht durch Aufenthalt im Ausland bei feststehendem Rückkehrwillen. Begibt sich ein ausländischer Beschuldigter in Kenntnis des gegen ihn in Deutschland geführten Ermittlungsverfahrens in sein Heimatland, ist er flüchtig im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO, wenn sein Verhalten von dem Willen getragen ist, sich dauernd oder länger dem Strafverfahren zu entziehen. Reist er dagegen mit Rückkehrwillen zu einem nur vorübergehenden Aufenthalt in sein Heimatland, ist er auch dann nicht flüchtig, wenn die Wirkung der Unerreichbarkeit für die deutschen Strafverfolgungsbehörden und das Gericht tatsächlich eintritt, weil sein Heimatland eigene Staatsangehörige grundsätzlich nicht an Deutschland zum Zwecke der Strafverfolgung ausliefert. Ernsthafte Rückkehrbemühungen stehen der Annahme entgegen, der ausländische Beschuldigte verbleibe im Ausland, um sich den Zugriffsmöglichkeiten der deutschen Justiz zu entziehen. Sie sprechen gegen das Vorliegen des für die Annahme einer Flucht im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO erforderlichen subjektiven Elements (Fluchtwillen). KG Berlin, Beschl. v. 01.03.2013 – 4 Ws 14/13 – 141 AR 685/12)§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO – Haftgrund Fluchtgefahr; hier: Kein Haftgrund der Fluchtgefahr eines in Deutschland lebenden verheirateten polnischen Beschuldigten bei einer 20-monatigen Straferwartung. Eine (nach Anrechnung der Untersuchungshaft) verbleibende objektiv und subjektiv realistische Straferwartung von knapp 20 Monaten begründet bei einem polnischen Beschuldigten keine Fluchtgefahr, wenn dieser seit ca. acht Jahren in Deutschland lebt und arbeitet und mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist und zwei Kinder hat. Dies gilt auch dann, wenn der Beschuldigte früher seinen Lebensmittelpunkt in Polen hatte und seine Tätigkeit als Alleinunternehmer im Baugewerbe ohne wirtschaftliche Schwierigkeiten auch in Polen und in jedem anderen Land der Europäischen Union ausüben könnte, es jedoch unwahrscheinlich ist, dass er ein jahrelanges Leben mit Ehefrau und Familie in der Illegalität ohne die Möglichkeit einer legalen Erwerbstätigkeit einem überschaubaren Freiheitsentzug unter den Bedingungen des inländischen Strafvollzugs vorziehen werde. (OLG Koblenz, Beschl. v. 03.01.2013 – 1 Ws 1154/12)