Sexualität online: riskantes Verhalten, Cyber­mobbing, Onlinesexsucht

Von Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Klinik und Poliklinik für Psycho­somatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz

 Als die erste und eine der größten Einrichtungen dieser Art bietet die Grüsser-Sinopoli Ambulanz für Spielsucht an der Universitätsmedizin Mainz Abklärung, Beratung und Behandlung bei den verschiedenen Formen der Internetsucht und Glücksspielsucht. Wissenschaftlich werden die Verbreitung, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten dieser Verhaltenssüchte untersucht. Der Anlass zu dieser Übersicht war, dass sich in den letzten 5 Jahren zunehmend Menschen meldeten, die Rat bzgl. ihrer Onlinesexualität suchten. Der Artikel gibt eine kurze Übersicht zu dem Thema im Hinblick auf Gefahren und Schutz für Kinder und Jugendliche.
 

Einleitung


 Das Internet bietet eine Plattform für unendlich viele Texte, Bilder und Videos zu allen Interessensgebieten, die ständig weltweit, kostenfrei, anonym und ohne Altersbeschränkung zugänglich sind. Sexuelle Online-Angebote sind nicht nur besonders häufig, sondernauch finanziell gewinnträchtig. Eine kürzliche Abfrage (google 21.04.13) ergab für das Suchwort „sex“ über 3 Milliarden Treffer, für „sex videos“ über 2,8 Mrd. und für „Porn“ ca. 1,4 Mrd. Das web2.0 ermöglicht aber nicht nur, ins Internet gestellte Inhalte zu konsumieren, sondern auch herunterzuladen, zu tauschen, handeln, selbst zu produzieren und zu veröffentlichen und auf unterschiedlichsten Wegen andere Menschen zu kontaktieren. Damit vervielfältigen sich die Möglichkeiten, Sexualität online zu erleben und zu praktizieren. Tiefer schrieb 2012: „Das Internet ist der Inbegriff der postmodernen Unterschiedslosigkeit. Es hat den Zugang zu medizinischen wie antimedizinischen sexuellen Theorien und Therapien erhöht und stellt die Befürworter alternativer Sexualpraktiken und Besitzer von Sexspielzeugläden auf gleiche Stufe mit Ärzten und anderen Professionellen. Die Suche nach sexuellem Rat, Anregung oder Behandlungen führt unmittelbar zu pornographischen Videos, Operationen, Nahrungsergänzungsmitteln, medizinischen Behandlungen, pädagogischen Videos, Sex coaching oder Wochenendworkshops“ (p. 17, Übers. d. Verf.). Unter dem Blickwinkel des Einflusses auf Kinder und Jugendliche gibt dieser Beitrag eine Übersicht zu (1) sexualbezogener Information im Internet, (2) Erotik und Pornographie, (3) Sexting als ein Beispiel für ein riskantes Internetverhalten, (4) Cybersex und Cybermobbing, sowie (5) Onlinesexsucht und Onlinepädophilie
 
 

1. Sexualbezogene Information, Prävention, Selbsthilfe


 In den letzten Jahren kam es zu einer rapiden Zunahme internetbasierter sexueller Information, die zunehmend breit in der Bevölkerung genutzt wird. So sucht inzwischen die Hälfte der jungen Erwachsenen und Jugendlichen (<25 Jahre) im Internet gezielt nach gesundheitsbezogenen Informationen (Eichenberg, Brähler, 2013). Die Vorteile der Internetsexualberatung sind naheliegend: Sie ist anonym, niederschwellig und erreicht viele Menschen. Ein wichtiges Beispiel ist das Präventionsnetzwerk  http://www.kein-taeter-werden.de, das versucht sexuelle Übergriffe durch direkten körperlichen Kontakt oder indirekt durch den Konsum oder die Herstellung von Missbrauchsabbildungen im Internet (sogenannte Kinderpornografie) zu verhindern und zu diesem Zweck neben online Informationen an mehreren Standorten ein kostenloses und durch die Schweigepflicht geschütztes Behandlungsangebot anbietet für Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und deshalb therapeutische Hilfe suchen. Dieser Zugang ist besonders wichtig bei einer Patientengruppe, die meist nur dann eine Behandlung aufsucht, wenn ein Delikt angezeigt worden ist. Onlineforen werden zunehmend zur Selbsthilfe genutzt; mögliche Nachteile von Onlineprävention liegen in der Unverbindlichkeit, der Überforderung der Teilnehmer, aber auch der Beeinflussung bei unmoderierten Foren.
 
 

2. Erotik und Pornografie (Bilder, Videos, Gegenstände)


 Pornografie ist die „sprachliche, bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen und partnerschaftlichen Aspekte der Sexualität“ (http://www.duden.de/rechtschreibung/Pornografie; Abfrage 21.04.13). Wir erleben gegenwärtig eine Popularisierung und Verbreitung von Pornographie in den Medien, in der Popkultur durch Jugendstars wie Lady Gaga oder Christina Aguilera und in der meist von Kindern und Jugendlichen konsumierten Rapmusik durch King Orgasmus One oder Sido. Dass die Grenze zwischen Konsument, Produzent und Anbieter verschwimmt, zeigt z.B. die Internetplattform youporn, die jedem ermöglicht, erotische Filme zu veröffentlichen. Alle erotischen und pornographischen Inhalte finden sich im Internet, und neuere Studien zeigen, dass sich mehr und gewalttätigere Inhalte als in Zeitschriften oder Videos finden. Zu Normverletzungen trägt bei, dass diese leicht und jederzeit kostengünstig und anonym zugänglich sind. Letztlich ist ein grenzenloser und profitabler Markt entstanden, der ständig neues Material und neue Kontakte über viele Zahlungsmöglichkeiten (Kreditkarte, Handy, pay cards, Lastschrift etc.) vermittelt. 
 
 In einer repräsentativen Befragung der deutschen Bevölkerung untersuchten wir kürzlich den Gebrauch von Onlinepornographie: Insgesamt 18% der Männer und 7% der Frauen gaben an, sie hätten mit Suchmaschinen nach sexuellem Material gesucht, immerhin 11% stießen dabei auf illegales Material. Risikomerkmale für problematischen Gebrauch waren männliches Geschlecht, keine Partnerschaft, Arbeitslosigkeit und jüngeres Alter. Sexualität online konsumierten nach eigenen Angaben immerhin 46.2% der minderjährigen männlichen Jugendlichen (14 bis 17 Jahre), hingegen nur 6.5% der minderjährigen Mädchen. Gerade Kinder berichten häufig ungewollte Konfrontation mit pornografischem Material.

3. Sexting als Beispiel für riskantes Onlineverhalten Jugendlicher 


 Grenzen austesten ist schon immer ein Teil der Jugendsexualität. Unter Sexting versteht man den Austausch sexueller Fotos bzw. Texte zwischen Jugendlichen, der sich meist über Smartphones vollzieht. Sexting ist assoziiert mit sexuell riskantem Verhalten „offline“ (z.B. ungeschützter Sex). In vielen Beziehungen als Liebesbeweis angesehen, kann aus dem Experimentieren rasch sozialer Druck werden. Auf Youtube veröffentlichte die 15 jährige kanadische Schülerin Amanda Todd kurz vor ihrem Suizid ein Video über ihren Leidensweg, der damit begann, dass sie als 12jährige in einem Chat vor einer Webcam ihren Oberkörper vor einem Unbekannten veröffentlichte, der sie über Jahre erpresste (http://www.youtube.com/watch?v=Au0cemUHTGA). Wie dieses Video veranschaulicht, lassen sich derartige Fotos kaum löschen, und sie können zu Cyber-Mobbing führen. 

4. Cybermobbing / Cyberbullying


 Unter Cybermobbing oder-bullying versteht man die Belästigung, Bedrohung, Herabsetzung oder Nötigung von Menschen durch Internet oder Handy; laut der repräsentativen Erhebung der Techniker Krankenkasse waren knapp 1/3 der befragten Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren schon einmal Opfer gewesen (> Mehr als PDF). Eine besonders belastende Form des Cybermobbing ist sexuelle Belästigung. Wie eine aktuelle repräsentative Befragung an 3.432 schwedischen Schülern im Alter von 16-22 Jahren ergab, erlebte immerhin jeder 6. Jugendliche (beiderlei Geschlecht) im vorangegangenen Jahr sexuelle Belästigung im Internet. Dies war gehäuft mit psychischen Problemen assoziiert; viele hatten keine entsprechende Hilfe erhalten. Besonders problematisch ist es, wenn Erwachsene, oft unter falschen Identitäten, sexuelle Kontakte zu Minderjährigen herstellen (sog. „grooming“). 

5. Cybersex: sexuelle Kontakte online


Über das Betrachten von Pornografie hinaus bietet das Internet vielfältigste Formen von Cybersex, virtueller, sexueller Interaktion. Das Spektrum reicht von der Betrachtung pornographischer Bilder, oft begleitet von Masturbation, der Teilnahme an sexuell anzüglichen Chats, dem Austausch erotischer E-Mails bis hin zur sexuellen Stimulation mit Hilfe von Datenhelmen oder -handschuhen oder auch Verabredungen zu Begegnungen „offline“. Generell ermöglicht Cybersex auf vielfältige Weise ein Experimentieren zwischen Fantasie und „Real-life“-Verhalten mit der Einnahme virtueller Identitäten auf einer potentiell weltweiten Bühne. Schnellere Selbstöffnung und ständige Erreichbarkeit bei der Onlinesexualität macht die Frage nach dem Realitätscheck dringlich: Werden Jugendschutz und sexuelle Selbstbestimmung gewahrt, ist sexueller Kontakt selbstgewollt und intendiert, oder ungewollt bzw. erzwungen (etwa auf Drängen des Partners)? Die sozialen Netzwerke des web 2.0 bedürfen neuer Regeln, ein Beispiel ist der Beziehungsstatus auf Facebook. Als neuen Service offeriert Facebook mit „bang your friends“ aber auch die scheinbar ungefährliche Möglichkeit, explizite sexuelle Wünsche gegenüber Freunden auf Facebook zu registrieren, die aber nur übermittelt werden, falls diese ihrerseits sexuelles Interesse geäußert haben (http://www.bangwithfriends.com/).  

6. Onlinesexsucht


 Ähnlich anderen Internetanwendungen wie Computerspielen kann der Onlinekonsum von Sexualität suchtartigen Charakter gewinnen. Onlinesexsucht lässt sich als Verhaltenssucht einstufen, ein unwiderstehlicher Drang, wiederholt ein bestimmtes Verhalten auszuführen, trotz negativer Konsequenzen für soziale Beziehungen und Beruf. Kriterien für Onlinesexsucht sind unwiderstehliches Verlangen nach selbstgesteuerter Erregung und rascher Spannungsabfuhr, verminderte Kontrollfähigkeit, Toleranzentwicklung hin zu zunehmend „harter“ Pornographie, das Eingehen von Risiken (Onlinesexkonsum im Büro), zu emotionaler Verarmung realer Partnerschaften, sexueller Unlust, Erektionsstörung, Entzugserscheinungen und Fortsetzung trotz negativer Folgen wie Abmahnung durch den Arbeitgeber oder Trennungsdrohung durch die Partnerin. Als Indiz für Hypersexualität gilt beispielsweise eine über viele Stunden tägliche Beschäftigung mit Masturbation, die oft zu Schmerzen oder Entzündung führt; die sexuelle Dauererregung wird gleichsam zum „Zufluchtsort“ bei Langeweile, Stress und Frustration.

7. Gebrauch von Online- Gewalt und -Missbrauch von Kindern und Pädophilie


  Der gebräuchliche Ausdruck Kinderpornographie verharmlost die Tatsache, dass es sich bei diesen Darstellungen im Internet um die Verbreitung von sexuellem Missbrauch handelt. In den USA kam es von 1992-2007 zur Verdoppelung von Verhaftungen für Besitz von Kinderpornographie, gleichzeitig nahm angezeigter sexueller Missbrauch mit -53% deutlich ab. Letzteres wird auf ein besseres Bewusstsein in der Bevölkerung und eine konsequentere Strafverfolgung zurückgeführt (Wolak et al. 2011). Online Straftäter waren in dieser Studie jünger, gebildeter, häufiger weiß, alleinstehend, arbeitslos, und sie zeigten mehr Selbstkontrolle und Empathie mit Opfer als pädophile Täter, die sich direkt an Kindern strafbar gemacht hatten; allerdings kam es auch bei den Online-Tätern in 12- 50% zu Übergriffen gegenüber Kindern. 
 
 Mangels vergleichbarer deutscher Zahlen ist aber nicht klar, wieweit diese Ergebnisse übertragen werden können. Auch die Ambulanz für Spielsucht in Mainz suchen zunehmend Menschen auf, die im Zuge ihres Konsums von Gewaltpornografie bei Kindern und Jugendlichen eine Onlinesexsucht entwickelt haben. Typischerweise suchen sie erst therapeutische Hilfe, nachdem ihre Festplatte beschlagnahmt worden und Anzeige erstattet worden ist. Dies hat zur Folge , dass die wenigen Psychotherapeuten, die sich mit Sexualstörungen befassen, sehr zurückhaltend gegenüber einer Behandlung geworden sind, aus der Sorge heraus, diese könnte rein fremdmotiviert durch die Strafverfolgung sein. 

Schlussfolgerungen


 Das Internet eröffnet „unterschiedslos“ Raum für alle Formen sexueller Selbstverwirklichung und Hilfen, aber auch für sexuelle Gewalt, Ausbeutung und Mobbing. Umso wichtiger ist es, im Sinne der Prävention Kinder und Jugendliche altersangemessenen bei der Entwicklung eines sicheren und selbstbestimmten Umgangs mit dem Internet zu unterstützen. Da Pornografie und Gewalt „nur 1 Click entfernt“ ist, schließt dies im Kindesalter auch Maßnahmen zur Kindersicherung ein (http://www.klick-safe.de/). Inzwischen haben alle Jugendlichen Zugang zu Internet und zu sozialen Netzwerken, die wichtige Quellen von Information, Kontakt, sozialer Einbindung, Erfahrung und Selbstwertbestätigung darstellen. Deshalb ist es wichtig, durch Aufklärung und Information möglichen negativen Folgen wie Suchtentwicklung oder Cybermobbing entgegenzuwirken. Gezielte Hilfestellungen sind erforderlich, wenn im Jugend- oder Erwachsenenalter eine Suchtentwicklung eingesetzt hat, die zu Onlinesexsucht (oder einer anderen Form der Internetsucht) führt mit den beschriebenen Gefahren der Schädigung von beruflicher und familiärer Integration bis hin zum Abgleiten in Kinder- und Gewaltpornographie. Zu den Auswirkungen des Konsums von Pornografie und Cybermobbing (mit oder ohne sexuelle Bedeutung) auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen besteht weiterer Forschungsbedarf.

Literatur


 
Eichenberg, Ch, Brähler E. (2013) Internet als Ratgeber bei psychischen Problemen. Psychotherapeut 58, 63-72.
 
Priebe G, Svedin CG. Online or off-line victimisation and psychological well-being: a comparison of sexual-minority and heterosexual youth. Eur Child Adolesc Psychiatry. 2012 Oct;21(10):569-82.
 
Tiefer, L. (2012) Medicalizations and demedicalizations of sexuality therapies. J Sex Res, 49, 311-8
 
Wolak J, Finkelhor D, Mitchell K. (2011) Child pornography possessors: trends in offender and case characteristics. Sex Abuse, 23, 22-42