Straftaten gegen Polizeibeamte

Richtlinien zur Verfolgung und Bearbeitung von Straftatengegen Polizeibeamte – 410-140/2010 –

Die Beamten des Polizeidienstes sind im alltäglichen Einsatz in besonderem und zunehmendem Maße Beschimpfungen, Beleidigungen, Bedrohungen sowie tätlichen oder gewalttätigen Angriffen wegen der von ihnen mit staatlicher Autorität und im Interesse des Staates und der Allgemeinheit vorgenommenen Diensthandlungen ausgesetzt, mit zum Teil schwerwiegenden Verletzungsfolgen. Insbesondere die Zahl der Widerstandsleistungen und Beleidigungen nimmt als Folge einer gestiegenen individuellen und kollektiven Aggressionsbereitschaft und gesunkenen Agressionskontrolle zu. Hiergegen sind die Beamten des Polizeidienstes auch strafrechtlich wirksam zu schützen. Dieser Appell richtet sich auch und vor allem an die Staatsanwaltschaft, in deren Auftrag die Beamten des Polizeidienstes vornehmlich tätig sind. – Im Hinblick darauf ergehen in Anlehnung an
Nr. 232 RiStBV und in Erweiterung dieser Bestimmung für den Landesbereich folgende Richtlinien:

1. [Grundsatz, Anwendungsbereich]

(1) Straftaten gegen Polizeibeamte im Dienst sind effektiv und mit Nachdruck strafrechtlich zu verfolgen.
(2) Das gilt insbesondere für alle Formen von Gewalt, einschließlich Widerstandsleistungen im Sinne des § 113 StGB, aber auch für Beleidigungen.

2. [Begriffsbestimmungen]

(1) Widerstandsleistungen im Sinne des § 113 StGB sind alle Handlungen, die unter aktivem Einsatz von Drohungen, materiellen Zwangsmitteln oder körperlicher Kraft darauf abzielen, den Amtsträger an der Vornahme der Amtshandlung zu hindern oder ihm die Vornahme zu erschweren. Rein passiver Widerstand reicht nicht aus. Der Tatbestand ist z. B. erfüllt, wenn der Täter sich losreißt, sich festhält, sich irgendwo gegen stemmt, um sich schlägt oder heftige Bewegungen ausführt, um sich zu befreien. Ferner zählen dazu alle unmittelbar auf den Körper des Amtsträgers gerichteten tätlichen Angriffe und Gewalteinwirkungen. Der Eintritt eines Verletzungserfolgs ist nicht erforderlich. Der Angriff muss nicht gegen die Diensthandlung an sich gerichtet sein, es reicht aus, wenn er „bei„ der Diensthandlung begangen wurde.
(2) Beleidigung im Sinne des § 185 StGB ist jede Kundgabe der Nichtachtung oder Missachtung einer Person, durch die deren Ehre als personaler und sozialer Geltungsanspruch verletzt wird. Ob eine Äußerung gegenüber einem Amtsträger diesen Inhalt hat, ist unter Berücksichtigung aller Begleitumstände zu ermitteln. Dabei ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Obergerichte zur Meinungsäußerungsfreiheit zu beachten. Sie hat zu weitgehenden Einschränkungen des Ehrenschutzes geführt. Danach gehört das Recht des Bürgers, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor Strafe zu kritisieren, zum Kernbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Dabei fallen nach der Rechtsprechung auch scharfe und übersteigerte Äußerungen in den Schutzbereich des Art. 5 GG. Wird an Maßnahmen der Polizei in beleidigender Form Kritik geübt, so ist deshalb bei Strafanträgen von Polizeibeamten oder von Dienstvorgesetzten der Polizei (§ 194 Abs. 3 StGB) sorgfältig zu prüfen, ob es sich um eine strafbare Diffamierung des Beamten oder um eine straflose überzogene und in der Tendenz diffamierende allgemeine Kritik am Vorgehen der Polizei, generell oder im konkreten Einzelfall, handelt. Lässt die Äußerung verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu, kann nach geltendem Recht nicht ohne weiteres von einer strafbaren Beleidigung zum Nachteil des handelnden Beamten ausgegangen werden. Darüber hinaus sind die regio-nalen sprachlichen Gebräuche („Ihr„, „Euch„ etc.) und die gesellschaftliche Ebene, auf der die Äußerung gefallen ist, zu berücksichtigen.

3. [Verfahren bei Widerstandsleistungen gemäß § 113 StGB]

(1) Kommt es im Zusammenhang mit dem Einschreiten wegen einer Straftat (§ 152 Abs. 2 StPO) oder strafrechtlichen Ermittlungen (§ 160 StPO) oder im Anschluss an ein Einschreiten oder eine Ermittlungshandlung (z. B. im Dienstfahrzeug, in den Diensträumen etc.) zu einer strafbaren Widerstandsleistung oder einem tätlichen Angriff (§ 113 StGB) durch diejenige Person, gegen die eingeschritten worden ist bzw. ermittelt wird, so ist das Verfahren wegen der Ersttat und der Folgestraftat nach § 113 StGB einheitlich und im Zusammenhang (§§ 2 und 3 StPO) zu führen. Beide Sachen sind zu diesem Zweck sofort – schon mit Entstehung des Zweitvorgangs – miteinander zu verbinden, da die Verbindung beider Strafsachen das Persönlichkeitsbild des Straftäters besser erkennen lässt, eine bessere und angemessenere Beurteilung der Täterpersönlichkeit und der Schuld ermöglicht und die Grundlage für die Strafbemessung verbreitert; das gilt auch beim Zusammentreffen einer Verkehrsstraftat mit einer Straftat nach § 113 StGB. Eine Trennung beider Strafsachen hat zu unterbleiben, sofern nicht ausnahmsweise zwingende Gründe, die zu dokumentieren sind, eine Abtrennung erforderlich machen.
(2) Aus denselben Gründen sollte im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage wegen der Ersttat die Straftat nach § 113 StGB, sofern das Verfahren insoweit nicht aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen einzustellen ist, grundsätzlich mit der Ersttat zusammen zur Anklage und zur Aburteilung gebracht werden. Die Möglichkeit, von der strafrechtlichen Verfolgung der Widerstandsleistung gemäß § 154 StPO abzusehen, sollte nur in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden, etwa wenn die Widerstandsleistung selbst kaum ins Gewicht fällt (zu vgl. Abs. 3) oder die Straftat nach § 113 StGB mit schweren oder schwersten Straftaten zusammentrifft, die eine hohe Freiheitsstrafe erwarten lassen, und das Gebrauchmachen von § 154 StPO unabweisbar der sachgerechten Konzentration oder Beschleunigung des Verfahrens dient.
(3) Von der Möglichkeit der Einstellung unter Auflagen gemäß § 153a StPO („mit Denkzettel„) und insbesondere der Einstellung ohne Auflagen („ohne Denkzettel„) gemäß § 153 StPO, § 45 JGG sollte in Ansehung des grundsätzlich zu bejahenden Strafbedürfnisses zurückhaltend und im Prinzip nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht werden. Sie ist allenfalls in Erwägung zu ziehen bei besonders leichten Formen der Widerstandsleistung, in den Fällen des § 113 Abs. 4 StGB, wenn mehrere Strafmilderungsgründe zusammentreffen oder wenn die Tathandlung eindeutig auf einer von dem Amtsträger verursachten Eskalation beruht oder die exekutive Maßnahme sich an der Grenze der Angemessenheit bewegt. Bei der Wahl der Sanktion oder Reaktion ist gegebenenfalls auch starke alkoholische Enthemmung, die auf eine erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit hindeutet (§ 21 StGB) und die nach dem Gesetz eine Strafmilderung gebietet (§ 49 StGB), zu berücksichtigen, dies nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Strafsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts (Urteil vom 31.01.2011 – Ss 121/2010 – betr. Widerstand gegen einen Polizeibeamten) allerdings nur dann, wenn nicht eine Gesamtwürdigung aller schuldrelevanten Umstände ergibt, dass die Schuldmilderung durch schulderhöhende Umstände aufgewogen wird. Als ein solcher Umstand kommt insbesondere ein selbst zu verantwortender (Alkohol- oder Drogen-)Rausch des Täters in Betracht, vor allem dann, wenn er aufgrund früherer Erfahrung weiß, dass er in diesem Zustand zu Straftaten ähnlicher Art neigt.
(4) Eine Einstellung nach Opportunitätsgesichtspunkten scheidet in den benannten und unbenannten besonders schweren Fällen der Widerstandsleistung (§ 113 Abs. 2 StGB) regelmäßig aus.
(5) Vor einer Einstellung des Verfahrens, das auf einer Anzeige der dienstvorgesetzten Stelle des betroffenen Beamten beruht, ist dieser nach Maßgabe der Nr. 90 RiStBV Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Etwaige Einwendungen sind in dem Einstellungsbescheid zu würdigen (Nr. 90 Abs. 1
Satz 2 RiStBV).
(6) Die vorstehenden Grundsätze gelten für strafbare Handlungen gemäß § 113 StGB in Zusammenhang mit oder im Anschluss an eine Maßnahme nach Polizeirecht entsprechend.
(7) Das Verbindungsgebot und Trennungsverbot des Abs. 1 gilt auch für die Beamten des Polizeidienstes und die polizeiliche Vorgangsbearbeitung entsprechend.

4. [Verfahren bei Beleidigungen]

(1) Wird ein Polizeibeamter in Ausübung seines Dienstes beleidigt und stellt die vorgesetzte Dienststelle aus grundsätzlichen Erwägungen Strafantrag nach § 194 Abs. 3 StGB, so ist – wie bei der Beleidigung von Justizangehörigen
(Nr. 232 RiStBV) – regelmäßig auch das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung im Sinne des § 376 StPO zu bejahen.
(2) Hängt die Beleidigung mit Maßnahmen der Polizei zusammen, so ist zu prüfen, ob es sich nur um eine Unmutsäußerung oder eine ernstgemeinte Ehrenkränkung handelt. Nr. 232
Abs. 2 RiStBV über die Beleidigung von Justizangehörigen gilt sinngemäß. Auf Nr. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie wird verwiesen.
(3) Vor einer Einstellung des Verfahrens, das auf einer Anzeige der dienstvorgesetzten Stelle des betroffenen Beamten beruht, ist dieser nach Maßgabe der Nr. 90 RiStBV Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Nr. 3 Abs. 5 dieser Richtlinie gilt entsprechend. Erfolgt die Einstellung nach Opportunitätsgrundsätzen, sollte der Einstellungsbescheid auch im Falle, dass nur der Beamte Strafantrag gestellt hat, nicht formal erfolgen, sondern die maßgeblichen Gründe erkennen lassen.

5. [Inkrafttreten]

Diese Richtlinien treten mit sofortiger Wirkung in Kraft.

Saarbrücken, den 21.02.2011
gez. S a h m (Generalstaatsanwalt)