Kommerz oder Kommiss?

– Siemens, Söldner und Soldaten –

Kommerz oder Kommiss?

Strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen in der Europäischen Union
Teil 1

In Deutschland ist alles in Ordnung. Und wenn nicht, gilt das Ordnungswidrigkeitengesetz. Leistung lohnt sich und Qualität setzt sich durch, auch auf den Weltmärkten. Und wenn nicht, leistet man Überzeugungsarbeit, wirbt, erklärt, führt vor, verhandelt und erhält schließlich den Auftrag. Und wenn nicht, besticht man, systematisch, über Jahre, immer wieder und überall. Oder waren es vielleicht nur Einzelfälle, Verschwörungen kleiner Banden krimineller Mitarbeiter, die sich in den Innereien von Konzernen so festgesetzt hatten, dass sie in der Stratosphäre eines Vorstandes einfach nicht zu entdecken waren, ungetreues Fußvolk? Glücklicherweise leisten namhafte Repräsentanten der Politik immer wieder wertvolle Aufklärungshilfe und ermöglichen die Einsicht, dass weder der deutsche Staat mit seinen Institutionen und seinem Verwaltungsapparat noch die deutsche Wirtschaft von Korruption durchsetzt sind, wie der Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, Lutz Diwell, im Dezember 2006 auf einer Tagung in Berlin erklärte. Und wenn nicht? Dann räumt die versammelte Bundesregierung der Korruptionsprävention und der strafrechtlichen Korruptionsbekämpfung jedenfalls einen großen Stellenwert ein, so versicherte der gleiche Amtsträger. Und wenn nicht? Dann ist das auch nicht so schlimm, weil nach seinen Erkenntnissen die überwiegende Mehrheit der Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst und der Mitarbeiter in der Privatwirtschaft redlich ist und Vertrauen verdient, ungeachtet der Tatsache, dass Korruption „Kontrollkriminalität„ ist. Und wenn nicht?

Dr. Wolfgang Hetzer,
Adviser to the Director General, European Anti-Fraud Office, Brüssel

Dann leitet man gegen Personen, die möglicherweise in mehr oder weniger soldatischer Manier Aufträge erfüllt haben, Ermittlungsverfahren ein, macht mit dem „Oberbefehlshaber„ eine „tour d’horizon„ über das Gute und das Böse in der Welt und plaudert über den Unterschied zwischen einer kriminellen Vereinigung und einer Ikone der deutschen Industrie, erinnert sich an gefährdete Arbeitsplätze, fiskalische Einnahmeerwartungen und an die in unübersehbarer Fülle angesammelten Verdienste und an die gemeinsam bestandenen gefährlichen Abenteuer in den besten Häusern aller Herren Länder. Und wenn nicht? Dann schließt man die Siemens AG schon einmal aus dem Mitgliederkreis von „Transparency International„ aus und lässt sich von dem hinsichtlich interner kriminogener Verhältnisse angeblich völlig ignoranten Vorstandsvorsitzenden auch als Bundesregierung unverzagt bis vor kurzem sachverständig zum Thema „Innovation„ beraten und bei der Anwerbung von Investoren nach Deutschland weiter unterstützen. Voraussetzungen und Folgen dieses Rationalitätsmodells sind möglicherweise auf die Kriminalpolitik übertragbar und könnten in der Diskussion über eine (immer noch nicht existente) Verbandsstrafe thematisiert werden. Und wenn nicht? Dann kann man die folgenden Ausführungen, die in zwei Teilen erscheinen werden, überschlagen und weiterhin darauf vertrauen, dass die Wirtschaft ihre Erfolgsbedingungen auch nach ethischen Maßstäben reflektiert und die Politik ihre Ziele und Methoden am Gemeinwohl und an Effizienzkriterien ausrichtet. Und wenn nicht? Dann machen wir einfach weiter. Auch wenn das nicht gut so ist.

I. Präludium oder Panoptikum?
In der der Bundesrepublik Deutschland scheint einiges in Bewegung zu geraten. Es wird sogar eine beachtliche Veränderung im deutschen Gesellschaftsgefüge beobachtet. Man glaubt, dass sich entsprechende Signale dem Umstand entnehmen lassen, dass Führungspersönlichkeiten heute (angeblich) so leicht und so massiv zum Gegenstand von Tadel und Missbilligung, von Ablehnung und Verurteilung werden können.1 Dabei soll es sich nicht mehr um wenige Einzelfälle handeln, sondern um ein „gängiges Kohortensystem„.2 Die Listen der Rechtsbrüche, die sich innerhalb der einzelnen Führungsgruppen aufmachen lassen, könnte man als „absurdes Panoptikum„ würdigen, wenn die Folgen – auch in ihren moralischen Dimensionen – nicht so beängstigend und riskant wären. Mit den Begriffen Bestechung und Korruption, Schmiergeld und Kontenmanipulation, Unterschlagung und Betrug, Veruntreuung und Kungelei, Gier und Unersättlichkeit, Täuschung und Größenwahn ist die Aufzählung von Faktoren noch lange nicht abgeschlossen. Das gilt auch für die bislang „besten Adressen„ dieses Landes: Deutsche Bank, Daimler-Benz, BMW, Karstadt, VW, Infineon, Siemens, RWE, Telecom, ARD, aber auch Stadtverwaltungen, Landesbanken, Bund Deutscher Radfahrer und Deutscher Fußballbund. Illustre Namenslisten lassen sich mühelos hinzufügen. Sie reichen von Ackermann bis Zwickel, von Kohl bis Kanther, von Laurenz Meyer bis Ulrike Flach, von Esser bis Wienand, von Volmer bis Hohlmeier, von Trienekens bis Hoyzer, von Ullrich bis Boßdorf. Jeder dieser Namen und Organisationen verdiente eine gesonderte und ausführliche Darstellung, im Falle des ehemaligen Wirtschaftsführers Peter Hartz vielleicht auch mehrere (etwa vier). Immerhin ist in diesem Fall inzwischen eine in vielerlei Hinsicht beeindruckende Selbstdarstellung verfügbar3. Aus einer Reihe von Gründen ist hier eine persönliche und sachliche Konzentration geboten. Zur Illustration der bis jetzt nur angedeuteten Entwicklung gibt es weitere genügend lehrreiche und konkrete Beispiele, die hier selbstverständlich nur unter dem obligatorischen und permanenten Hinweis auf die uneingeschränkte Geltung der Unschuldsvermutung herangezogen werden.
Der Bundesbürger Heinrich von Pierer war etwa 13 Jahre lang Vorstandsvorsitzender der Firma Siemens AG, anschließend für sehr viel kürzere Zeit deren Aufsichtsratsvorsitzender. Bereits vorher stand er für viele Jahre an führender Stelle in den Diensten dieses Konzerns. Er galt als „Vorzeigemanager„, der als Berater aller Bundeskanzler und -innen von Kohl über Schröder bis zu Merkel wirkte, bis April 2008 Vorsitzender des Innovationsrates der Bundesregierung war, an leitender Stelle mit Unterstützung durch öffentliche Mittel im Auftrag der Bundesregierung (wohl immer noch) Investoren für Deutschland interessieren soll und sogar als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt wurde. Heinrich von Pierer behauptet bislang, dass er von Schmiergeldzahlungen, die sich nach den bisherigen (!) Erkenntnissen auf mindestens 1,3 Milliarden Euro belaufen könnten, nichts gewusst hätte. Es könnte in der Tat u. a. der Eindruck entstehen, dass interne Ethik und Anti-Korruptionsregeln („Corporate Governance-Kodex„ und „Compliance„-Vorschriften, – firmeneigene oder öffentliche – gegen kriminelle Energie nicht schützen, wenn sie vom Leitungspersonal nicht „verinnerlicht„ sind.4
Vielleicht noch beunruhigender ist schon auf den ersten Blick, dass es nicht mehr nur um einzelne konkrete und eingrenzbare Rechtsgutsverletzungen im strafrechtlichen Sinne geht. Führende Persönlichkeiten der Firma Siemens hatten anscheinend auch die Idee, mit der Finanzierung einer Art „Gegengewerkschaft„ zur IG Metall, der eher arbeitgeberfreundlichen Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsräte (AUB) unter dem Vorsitz des gegenwärtig in Untersuchungshaft einsitzenden Wilhelm Schelsky, eine etwas umfassender angelegte Klima- und Landschaftspflege zu betreiben. Nach bislang kursierenden Angaben handelte es sich um ein relativ kostengünstiges Projekt (ca. 70 Millionen Euro). Es sollte allerdings klar sein, dass hier nicht die Summe, sondern die Intention zählt. Schelsky selbst, gegen den wegen des Verdachts der Beihilfe zur Untreue ermittelt wird, sieht sich bislang frei von jeder Schuld. Der Aufbau der AUB sei notwendig und richtig gewesen, um dem Machtmonopol der Gewerkschaften etwas entgegenzusetzen. Hinsichtlich der finanziellen Zuwendungen habe man sich auf die „vielen hervorragenden Juristen bei Siemens„ verlassen. Die Unterstützung der AUB sei nach Meinung des Rechtsvertreters von Schelsky „ganz eindeutig und unbestritten„ von Siemens ausgegangen. Daher stellt sich eine interessante Frage:

„Wie will aber jemand, der einen klaren Auftrag erteilt hat, hinterher Schadenersatz dafür verlangen, dass dieser Auftrag erfüllt wurde?„ 5

Bei der Beantwortung solcher und anderer schwieriger Fragen könnte neben der Konsulation der vielen hervorragenden Juristen bei Siemens auch die Heranziehung externen Sachverstandes geboten sein. Schon im Herbst des Jahres 2007 gab es Pressemeldungen, dass der vormalige Bundesminister des Innern und für Sport, Otto Schily, den Siemens-Konzern als Rechtsanwalt beraten und dafür 140.000 Euro Honorar erhalten habe. Daraufhin hatte der Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, Aufklärung verlangt, weil diese Einnahme anzeigepflichtig sei. Schily verweigerte jedoch eine Auskunft mit der Begründung, eine Offenlegung seiner Mandate würde einen Verstoß gegen seine anwaltliche Schweigepflicht darstellen, er würde sich mithin strafbar machen. Seine Schweigepflicht könne durch die Verhaltensregeln bei Nebeneinkünften nicht aufgehoben werden. Im Übrigen habe er dem Bundestagspräsidenten genau das mitgeteilt, was auch andere Abgeordnete offen legten. Lammert habe jedoch für sich intern Auskunft über die genaue Höhe seiner einzelnen Einkünfte verlangt. Dazu ist er nach Auffassung von Schily aber nicht befugt. Er hat erklärt, dass der Präsident des Deutschen Bundestages nicht sein Vorgesetzter sei, der ihn intern zu kontrollieren hätte. Lammert erfahre genau das, was auch die Öffentlichkeit erfahre. Sinn der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen sei es, vor der Öffentlichkeit Transparenz zu schaffen. Ansonsten sei er (Schily) gehalten, das Anrecht seiner Mandanten auf Verschwiegenheit zu wahren. Gleichwohl verlangt man von dem Abgeordneten Schily die Zahlung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 22.000 Euro. Im Höchstfall wären ca. 44.000 Euro möglich gewesen. Aus dem Präsidium des Deutschen Bundestages wird jedoch berichtet, dass man nicht gleich im ersten Fall dieser Art die „Höchststrafe„ verhängen könne.6
Von hier aus ist nicht zu beurteilen, ob selbst Parteifreunde, wie Dieter Wiefelspütz, den zitierten Sachverhalt mit einem „maliziösen Unterton„ kommentiert haben, als sie öffentlich die Entscheidung des Bundestagspräsidenten begrüßten und darauf hinwiesen, dass die Verhaltensregeln des Parlaments „sogar für den berühmten und bedeutenden Otto Schily„ gelten. Nach einem Pressekommentar gehe es nicht nur darum, dass sich Schily standhaft weigert, seine Nebeneinkünfte offenzulegen, wie es das Gesetz vorschreibt. Sondern es gehe auch um die selbstherrliche Attitüde, in der Schily die Vorschriften ignoriere – ganz so wie in alten rot-grünen Zeiten, als Schily mit seinen Starallüren Freunde wie Gegner arg strapaziert habe. Der Kommentator erinnert daran, dass im Jahre 2007 mehrere Abgeordnete mit der gleichen Argumentation wie Schily vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Versuch gescheitert waren, die Offenlegungspflicht zu kippen. Das Gericht habe die Klage mit guten Gründen zurückgewiesen. Wer als Abgeordneter die Interessen des Volkes vertreten wolle, müsse sich die Frage gefallen lassen, wessen Interesse er sonst noch vertrete. Außerdem könne man von einem Vollzeitparlamentarier erwarten, dass er seine ganze Arbeitskraft dieser Aufgabe widme. Der gleiche Kommentator hat erkannt, dass es für Schily einen ganz einfachen Weg gibt, sich vor der Neugier der Öffentlichkeit zu schützen: Er müsste nur aus dem Bundestag ausscheiden. Dann ginge es niemanden mehr etwas an, für wen er als Anwalt arbeitet. Bis dahin, so die Prognose in dem zitierten Kommentar, gelten die Vorschriften auch für „Seine Majestät Otto I.„ 7 Schily selbst hat inzwischen erklären lassen, dass er für die nächste Legislaturperiode des Deutschen Bundestags nicht mehr kandidieren werde.Der Beratungsbedarf im Siemens-Konzern scheint sich unterdessen weiter zu entwickeln. Im April 2008 wurden erste Meldungen veröffentlicht, nach denen Schelsky Wahlkampfspenden an den Greifswalder CDU-Bundestagsabgeordneten Ulrich Adam übergeben haben soll, der diese Gel-der nicht ausgewiesen habe. Der Wahlkampf des genannten Volksvertreters soll in erheblichem Umfang von Schelsky finanziert worden sein. Adam gehört wie die Bundeskanzlerin Angelika Merkel zu den vier CDU-Bundestagsabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern und ist dort deren stellvertretender Vorsitzender. Dieses Amt lässt er jedoch zurzeit ruhen und bereitet nach Pressemeldungen seine Selbstanzeige gegenüber den Finanzbehörden vor.8
Zudem soll Schelsky der Siemens-Konzernspitze prominente Berater wie den IOC-Vizepräsidenten Thomas Bach zugeführt haben. Die Hintergründe des entsprechenden Vertrages werden überprüft. Schelsky soll auch an Plänen beteiligt gewesen sein, den früheren EG-Kommissar Martin Bangemann mit einem Beratervertrag auszustatten und im Vorfeld dessen Schwiegertochter einzustellen.9
Wenn von Pierer von allem nichts gewusst hat, dann war er, wie manch einer vermutet, sein Geld als Vorstandschef nicht wert. Es mussten gleichwohl Monate vergehen, bis dieses Mitglied der deutschen Wirtschaftselite den Vorsitz im Aufsichtsrat von Siemens Mitte des Jahres 2007 aufgab. Es dauerte also doch einige Zeit bis sich auch in (vielleicht) strategisch begabten Gehirnen die Einsicht verbreitete, dass von Pierer vielleicht doch nicht das mögliche (!) eigene Fehlverhalten an der Spitze des Konzerns auch noch selbst untersuchen sollte. Nach dem Empfinden eines Beobachters ist Siemens, einst eine „Ikone der deutschen Industrie„, unter bedenkenlosem Führungspersonal zu einem existenzbedrohten Unternehmen geworden. Käme es „Knall auf Fall„, müssten wohl die „einfachen„ Beschäftigten die Suppe auslöffeln, da die Vorstände sich zumeist mit gut ausgepolsterten Versorgungspaketen ausstatten ließen. Daher gilt Siemens als so exemplarisch.10 Es handelt sich um das deutsche Weltunternehmen, einer der größten Konzerne überhaupt, aktiv in 190 Staaten der Welt, wo über 400.000 Mitarbeiter jährlich für einen Umsatz von mehr als 70 Milliarden Euro sorgen. Das eigentliche Drama des Korruptionsskandals, dessen ganze Dimension erst Stück für Stück bekannt werden wird, liegt sicher auch in dem Umstand, dass der Konzern zum Erfolg der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt maßgeblich beigetragen hat und nun ein Schatten über das ganze Land fällt. Für manchen Kommentator besteht dagegen schon jetzt kein ernsthafter Zweifel mehr daran, dass es seit Jahrzehnten „dunkle Machenschaften im großen Stil„ gegeben hat. Man wisse, dass nach allen schlechten Regeln geschmiert und korrumpiert, gelogen, geheuchelt und weggesehen wurde. Man redet längst nicht mehr über einige wenige, die dem Unternehmen einen schlechten Dienst erwiesen haben, sondern über „Verwerfungen„ im großen Stil, in mehreren Bereichen, ein weitgespanntes „System„. Die Verhaltensmuster sind in einschlägigen Büchern beschrieben: „Der Pate„ oder „Die Firma„. Die Dinge, die seit der großen Durchsuchungsaktion am 15. November 2006 zu Tage getreten sind, gelten als unglaublich und stellen die Fähigkeit und Bereitschaft zur Sachlichkeit auf eine schwere Probe. Es wird öffentlich behauptet, dass sich bei Siemens viele Menschen – auf allen Hierarchiestufen – mindestens moralisch schuldig gemacht hätten. Auch für den neuen Konzernchef Löscher ist klar, dass es aus der Mitte des Unternehmens über längere Zeit unverantwortliches und wohl auch kriminelles Handeln gab. Siemens wolle alles tun, um auch die Drahtzieher der Korruptionszahlungen zu finden. In einem Brief an alle Beschäftigten stellte sich Löscher allerdings auch vor die eigene Belegschaft und erklärte, dass sich die überwältigende Mehrheit der Mitarbeiter nichts habe zuschulden kommen lassen und verantwortungsvoll im Sinne des Unternehmens arbeite.11 Gleichwohl wird mittlerweile gefragt, ob es nicht die schlimmste Form von „Chauvinismus„ ist, wenn man um des eigenen Geschäfts willen in Entwicklungsländern mit korrupten Cliquen paktiert und dem Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat im Wege steht. Trotz eindeutiger Rechtsänderungen im Jahre 1999, als auch in Deutschland Bestechung im Ausland verboten wurde, hatte sich Siemens, anders als manch anderer Hersteller von Großanlagen, nicht auf die neue Situation eingestellt. Anscheinend glaubte die Führung dort, nicht auf Schmiergeldzahlungen verzichten zu können. Es ist der Eindruck entstanden, dass das neue Management, das jetzt überwiegend von „Externen„ geprägt wird, einen radikalen Schlussstrich ziehen will, koste es, was es wolle. Vermutlich wird der Konzern in Zukunft tatsächlich auf das eine oder andere Geschäft verzichten müssen. In jedem Fall ist Korruption ein Zeichen von Schwäche. Man kann nur darüber spekulieren, wie viele Aufträge die Firma nur bekommen hat, weil man bestochen wurde und nicht, weil man das beste Produkt hatte. Vor diesem Hintergrund wird der Schaden, den die früheren Manager angerichtet haben als noch viel größer eingeschätzt, als allgemein bekannt ist. Es wird Jahre dauern, bis sich der Konzern und die deutsche Wirtschaft insgesamt davon erholt haben. Es gibt immerhin schon jetzt eine zwingende Schlussfolgerung: Wer dafür verantwortlich ist, muss bezahlen.12 Dabei ist natürlich zwischen strafrechtlicher Verantwortlichkeit und zivilrechtlicher Haftung zu unterscheiden, eine Differenzierung, die für die zukünftige Bewältigung der Vorgänge innerhalb des Siemens-Konzerns von großer Bedeutung sein wird.
Bis zum April 2008 hatte von Pierer hingegen den Eindruck erweckt, als wolle er abwarten und verbittert schweigen.13 Eine persönliche Schuld wies er über anderthalb Jahre weit von sich, eine Zeit, in der immerhin 15 Festnahmen von aktiven und ehemaligen auch führenden Bediensteten der von ihm geleiteten Firma erfolgten. In der Öffentlichkeit wird betont, dass dies mit Blick auf die unvorstellbare Summe von 1,3 Milliarden Euro Schmiergeldzahlungen und die Tatsache, dass von Pierer jahrelang als Vorstand, Vorstandsvorsitzender und Vorsitzender des Aufsichtsrates Siemens geführt und verantwortet hat, kaum zu glauben ist. Man vermutet, dass von Pierer den Fall nicht unter moralischen Gesichtspunkten, die er früher in Buch- und Redebeiträgen ausgiebig behandelte, sondern aus juristischer Perspektive betrachtet. Die Haltung der jetzigen Führungsinstanzen ist dagegen angeblich klar: Sollte man irgendwelches Belastungsmaterial finden, schützen große Namen der Vergangenheit nicht vor Schadenersatzforderungen der Gegenwart. Es gibt gutachtliche Äußerungen, wonach der gesamte Vorstand einer Aktiengesellschaft für den Kampf gegen die Korruption verantwortlich ist. Diese Verantwortlichkeit sei sogar zwingend dem Gesamtvorstand zugewiesen.14 Vor diesem Hintergrund ist die Einschätzung nachvollziehbar, dass das Ausmaß des Skandals so beschämend ist wie das Abtauchen der einst wortgewaltigen Repräsentanten eines Weltkonzerns. Es ist in der Tat mehr als irritierend, dass bislang kein einziges Mitglied der ehemaligen Führung öffentlich eine eigene Verantwortung oder gar ein (Kontroll-)Versagen eingeräumt hat. Das schließt natürlich nicht aus, dass man den Bezug von Gehältern in Millionenhöhe ständig mit der großen Verantwortung begründet, die doch auf den Schultern lastet. Schadenersatzforderungen könnten nicht nur einen Neuanfang in der Korruptionsbekämpfung markieren, sondern vielleicht auch einen rechtlichen Präzedenzfall für die Reichweite der Verantwortlichkeit von Vorständen schaffen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob damit auch eine Signalwirkung für die Unternehmenskultur in Deutschland verbunden wäre.15
Gegenwärtig ist noch nicht abzusehen, ob am 23. April 2008 mit dem Rücktritt des Vorstandes, der für die Medizintechniksparte zuständig war (Erich Reinhardt), schon ein „Traditionsbruch„ oder gar eine „Wende„ eingetreten ist. Auch in diesem Konzernbereich sollen zwischen 2001 und 2006 fragwürdige Zahlungen in Höhe von fast 70 Millionen Euro abgewickelt worden sein. Nach Angaben aus Konzernkreisen soll Reinhardt daran nicht selbst mitgewirkt haben. Er übernehme nun aber die Verantwortung für diese Vorgänge. Immerhin: Schon das ist eine Art „Kontrastprogramm„. Nach den Erkenntnissen der mit den internen Untersuchungen beauftragten Anwälte zeige das Finanznetz in der Medizintechnik Parallelen zum Schmiergeld-System der Kommunikationssparte („Com„). Es sei bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut worden und habe der Abwicklung fragwürdiger Zahlungen über international agierende Firmen, u. a. in Russland und Dubai, gedient.16

Auch jetzt sollte man nicht vergessen, dass mit Reinhardt sogar ein Mitglied des neuen Vorstandes, der den Aufbruch in eine neue Zeit symbolisieren sollte, zurückgetreten ist. Nach dem Empfinden eines Beobachters müssten sich spätestens jetzt der Vorstandsvorsitzende Peter Löscher und der Aufsichtsratsvorsitzende Gerhard Cromme fragen, ob mit Managern aus der Ära des früheren Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer ein überzeugender Neuanfang überhaupt gelingen kann. Die Genannten hätten auch vor der Ernennung des langjährigen Bereichschefs Reinhardt zum Vorstandsmitglied vom Korruptionsverdacht in der Medizinsparte gewusst. Dennoch seien sie das Risiko eingegangen. Sie steckten in einem unlösbaren Dilemma: Die Führungsmannschaft lässt sich in der Tat nicht komplett von heute auf morgen auswechseln. Es bleibe nicht nur die Gefahr weiterer Rückschläge. Auch ein Scheitern hält man für möglich.17
Gegenwärtig sind im Übrigen immer noch nur „Plausibilitätserwägungen„ möglich: Ein Manager, der – wie von Pierer – seine Karriere 1969 im Hause Siemens begonnen hatte, mit zahlreichen Großprojekten selbst befasst war und die genannten Funktionen ausübte, muss die vielen „schwarzen Kassen„ im Konzern gekannt oder mindestens davon geahnt haben. Die behauptete Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz von Pierer und dem größten Teil des Vorstands ist auf den ersten Blick nicht ohne weiteres nachvollziehbar, soll doch der frühere Anti-Korruptionsbeauftragte des Konzerns, Albrecht Schäfer, am 14. Februar 2008 gegenüber Staatsanwälten angegeben haben, dass er Mitglieder des Zentralvorstandes schon im November 2003 über einschlägige schwerwiegende Vorwürfe aus italienischen Justizkreisen informiert habe. Ein Gericht in Mailand habe sogar erklärt, dass Siemens die Zahlung von Schmiergeldern als Teil seiner „unternehmerischen Strategie„ ansehe. Ein ganzes System von Konten zur Abwicklung entsprechender Transaktionen sei geradezu „Siemenstypisch„, wie sich insbesondere in der Kraftwerkssparte gezeigt habe. Dies spreche auch für die völlige Unwirksamkeit des internen Kontrollsystems. Zudem sieht das Gericht das Kontengeflecht als Beleg dafür an, dass die Organe, welche für die Überprüfung der Einhaltung der Vorschriften zuständig waren, untätig geblieben seien. Diese Einschätzungen stehen im Zusammenhang mit dem Vorwurf, dass sich die Firma Siemens zwischen 1999 und 2002 durch Zahlung von sechs Millionen Euro Bestechungsgeldern aus „schwarzen Kassen„ in Liechtenstein und Dubai einen Auftrag des italienischen Konzerns Enel im Wert von 338 Millionen Euro verschafft habe. Mittlerweile sind in diesem Zusammenhang mehrere italienische und deutsche Manager verurteilt worden. Die Firma Siemens muss zudem alleine in diesem Komplex mehr als 150 Millionen Euro Strafe und Schadenersatz zahlen. Nach den Angaben des Zeugen Schäfer habe er seine Erkenntnisse auch 2004 und 2005 im Zentralvorstand vorgetragen. Gleichwohl ist das „Korruptionssystem„ aber erst durch eine Großrazzia im Jahre 2006 publik geworden. Zwar sind gegen zahlreiche Beschuldigte nachgeordneter Ebenen Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Es ist aber offen, ob es gegen höherrangige und oberste Entscheidungsträger weitere Verfahren geben wird. Es kann dahinstehen, ob der der Umstand, dass von Pierer sich zu diesen Vorwürfen über ein Wort des Bedauerns hinaus über lange Zeit nicht geäußert hat, auf „Realitätsverlust„ hinweist. Am gleichen Tage, an dem derartige Spekulationen in der Presse zu lesen waren, machte schon eine andere Tageszeitung mit der Schlagzeile auf: „Früherer Siemens-Chef Pierer schwer belastet„

Nach ersten Berichten soll von Pierer in den Jahren 2002 und 2003 Bedienstete gedrängt haben, eine fragwürdige Provisionszahlung vorzunehmen. Der Konzern sollte im Auftrag der argentinischen Regierung ein System für elektronisch lesbare Pässe und Grenzschutzkontrollen aufbauen. Es gibt Hinweise, dass für die Erteilung dieses Auftrags Schmiergelder an Regierungsvertreter geflossen sind. Nach einem Regierungswechsel im Jahre 1999 sei der Auftrag storniert worden und man habe weitere „Provisionszahlungen„ gefordert. Es wird behauptet, dass zwei Mitarbeiter mit von Pierer gesprochen hätten, weil sie gegen solche Leistungen gewesen seien. Sie seien aber von ihm „angehalten„ worden, die Zahlungen vorzunehmen und sich wie „Soldaten von Siemens„ zu verhalten. Später seien zehn Millionen USD an einer Beraterfirma in die Schweiz überwiesen worden. Diese Angaben hat von Pierer auch unter Hinweis auf unmittelbar bevorstehende Gespräche mit der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.18 Zur gleichen Zeit machten sich einige der mit dem Fall über längere Zeit gut vertrauten Journalisten Gedanken darüber, ob die (damals) seit Wochen wieder anschwellende Diskussion über die Rolle von Pierers sich dem „finale furioso„ nähert. Kann es gar sein, wie manch einer mutmaßt, dass die neue Siemens-Spitze falsche Vorwürfe gegen den früheren Chef lanciert hat? Oder ist die Realitätsverweigerung noch stärker geworden? Natürlich können Dementis falsch und richtig sein, moralisch und unmoralisch. Immerhin vergessen auch derart fabulierende Journalisten nicht, dass für Staatsanwälte bei der juristischen Einordnung nicht die Moral, sondern das Strafrecht von Bedeutung ist.19
Mittlerweile hat man den Eindruck, dass über den Fortgang der Verfahren gegen Mitarbeiter der Firma Siemens nur im Rhythmus von Tageszeitungen berichtet werden kann. Nach neueren Meldungen wachsen die Dimensionen ständig. Im April 2008 hieß es, dass die Staatsanwaltschaft (bis jetzt) gegen 270 Beschuldigte ermittle. Begonnen hatte man im Unternehmensbereich Telekommunikation. Mehrere Sparten des Konzerns sind mittlerweile hinzugekommen (Verkehrstechnik, Kraftwerksbau, Energieübertragung). Auch ausländische Geschäftleute, die bei der Einrichtung von Konten in der Schweiz, in Dubai und in anderen Staaten behilflich gewesen sein sollen, sind ins Visier geraten.
Am 18. April 2008 hat von Pierer womöglich Rechtsgeschichte geschrieben. Er hatte an diesem Tag in Begleitung eines Anwalts die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I aufgesucht, ohne dass deutlich geworden wäre, welchen Status er bei dem folgenden Gespräch mit Strafverfolgern eigentlich hatte. Die Strafprozessordnung enthält zwar bestimmte Möglichkeiten (u. a. Zeuge oder Beschuldigter). Es gibt aber bislang nur Mutmaßungen darüber, welche Strategie von Pierer in dem angeblich immerhin vierstündigen Gespräch verfolgt haben könnte und unter welche rechtliche Kategorie er fallen könnte: Es sei schon möglich, dass zwei seiner Manager mit ihm über das in Rede stehenden Argentiniengeschäft gesprochen haben. Auf keinen Fall habe er sie angewiesen, etwas Ungesetzliches zu tun. Außerdem kümmere sich ein Vorstandsvorsitzender gewöhnlich nicht um solche Details.20
Nach der Einschätzung von Kommentatoren müsse von Pierer jetzt erleben, dass sich die neue Siemens-Führung von ihm abwendet und dass dort nicht mehr die Gesetze einer Dynastie gelten. Die neue Führung gehe bei der Aufklärung in mancher Hinsicht sogar entschlossener vor als die staatlichen Behörden, denn es gehe ihr um die „Ehre„.21

II. Manager oder Mafiosi?
Man könnte „kurzen Prozess„ machen:

1. Nichts Genaues weiß man nicht.
2. Denn sie wissen nicht, was sie tun.
3. Jeder macht, was er will und alle machen mit.
4. Das haben wir noch nie gemacht.
5. Wenn da jeder käme.
6. Wo kämen wir da hin?

Dieser lapidare Befund reicht aber womöglich doch nicht ganz aus, um der Komplexität der Angelegenheit gerecht zu werden. Dabei geht es nämlich nicht nur um die zum Teil offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen Teilen der Wirtschaft und Bereichen der Politik, z. B. die weit verbreitete Unfähigkeit zur Beherrschung der Grundrechenarten. Es geht auch um die praktische Relevanz des „Ja, aber„, des „Nein, aber„ und des entschiedenen „Sowohl als auch„, also um die Angst vor kategorischen Entscheidungen und Handlungen. Der (zurzeit beschäftigungslose) Manager Utz Claasen, eine nach der gerichtlichen Entscheidung über die Straffreiheit seiner Einladungen zu Sportveranstaltungen vom Korruptionsverdacht befreite Moralreserve Deutschlands, ist vor kurzem gefragt worden, ob die Wirtschaft ohne Beziehungspflege (vulgo: Korruption) auskommt. Seine Antwort lautete:

„Ja, aber man darf hier nicht pharisäerisch sein. Ganz klar, man kann, soll, muss ohne Korruption auskommen. Punkt. Ich selbst habe aber immer wieder in Branchen gearbeitet, in denen das im Hinblick auf die Kundenseite einigermaßen unproblematisch war: Autos, Strom, Analysewaagen. Es mag Geschäftsfelder und Regionen in der Welt geben, in denen die Marktgegebenheiten ganz andere sind. Ich würde nicht voreilig Menschen verurteilen wollen, die in solchen Regionen und solchen Märkten tätig sind und sich an diesen bestimmten Gegebenheiten orientieren müssen.„ 22

Damit ist schon hinreichend deutlich, dass letztlich die „Notwendigkeit„ korruptiven Verhaltens auf den Märkten dieser Welt anerkannt wird. Gleichheit im Unrecht gibt es also doch. Moral, Ethik und Rechtstreue schrumpfen auf das Format eines Operntitels („Cosi fan tutte„). Die zitierten Aussagen sind nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil schwerwiegende Vorwürfe gegen Mitarbeiter und Führungskräfte großer Unternehmen wegen untreuen oder korruptiven Verhaltens in der jüngsten Zeit nicht nur in Deutschland zu drastischen wirtschaftlichen und rechtlichen Konsequenzen geführt haben. Selbst namhafte und traditionsreiche Konzerne mit bislang hoher Reputation im In- und Ausland stehen im Feuer öffentlicher Kritik. Gegen etliche ihrer Angestellten finden auf nahezu allen Ebenen strafrechtliche Ermittlungen statt. Mittlerweile haben Gerichte einzelne Mitarbeiter auch schon verurteilt.
Der Siemens-Konzern selbst wurde nach nicht sehr transparenten Beratungen einverständlich mit einem Bußgeld in Höhe von 201 Millionen Euro belegt. Es ist sehr zweifelhaft, ob das kriminelle Unrecht, das (nicht nur) innerhalb dieses Konzerns verwirklicht wurde, den Charakter einer „Ordnungswidrigkeit„ trägt. Daneben stellt sich die Frage, ob die Bestrafung einzelner Täter ausreichend ist. Sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass die korrumpierende Anbahnung und Durchführung von Geschäften mit krimineller Energie und systematischer Planung, gar mit Wissen und Wollen hochrangiger Manager, über lange Zeit betrieben wurde, muss geprüft werden, ob die betroffenen Unternehmen – „Juristische Personen (JP)„ – als Sanktionssubjekte behandelt werden können und ob das derzeit in Deutschland geltende Strafrecht hierfür gerüstet ist. Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den „Co-op-Prozess„ in Frankfurt am Main hatte der bekannte Gerichtsreporter Gerhard Mauz (Der Spiegel) in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gefunden, dass das perfekte Verbrechen heute die Eigenheit hat, ein Akt der Wirtschaftskriminalität zu sein. Üblicherweise handelt das „perfekte Verbrechen„ von Fällen, in denen die Leiche verschwunden ist.

Was aber, wenn der Täter Teil eines Kollektivs war, für das er zu handeln glaubte?

Der grenzüberschreitende Handel ist heutzutage offensichtlich in der Hand von internationalen großen Unternehmen. Ein anderer journalistischer Beobachter hält es vor diesem Hintergrund für logisch, dass der, der den Profit hat, auch das strafrechtliche Risiko auf sich nehmen muss. Selbst Massenmedien haben inzwischen erkannt, dass sich in Deutschland das Strafrecht auf Individuen konzentriert und Organisationen außen vor bleiben. Nicht nur die Entstehungsgeschichte des Siemens-Falles zeigt, dass die gegenwärtige Rechtslage im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung längst nicht mehr ausreichend ist. Auch in der außerjuristischen Literatur wird an die lange Tradition der strafrechtlichen Haftung von Unternehmen in den Ländern des angloamerikanischen Rechtskreises und an die Vielzahl weiterer Staaten in Europa und Übersee erinnert, die über ein modernes Unternehmensstrafrecht verfügen. Dort, so wird vermutet, käme der Siemens-Konzern womöglich nicht mit einem „Bußgeld„ von 201 Millionen Euro davon. Der Leiter der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I, Christian Schmidt-Sommerfeld, hat in diesem Zusammenhang von „einer Art Deal„ zwischen der Justiz und dem Konzern gesprochen und damit wohl ungewollt dem Eindruck Vorschub geleistet, der Konzern solle mit einem „kurzen Prozess„ geschont werden. Dem ist die Leiterin der „Ermittlungsgruppe Siemens„, die Staatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl, vehement entgegengetreten:

„Wir haben bei Gericht herausgeholt, was wir holen konnten. Da es in Deutschland kein Unternehmensstrafrecht gibt, konnten wir nur eine Verbandsgeldbuße nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz über maximal eine Million Euro fordern. Dazu haben wir den Gewinn aus den bewiesenen Bestechungsgeschäften in Russland, Nigeria und Libyen abgeschöpft. Das waren noch einmal 200 Millionen Euro.„

Noch weiter zu ermitteln hätte aus ihrer Sicht keine weiter verwertbaren Erkenntnisse gebracht. Eine schnelle, fundierte Entscheidung sei der Staatsanwältin lieber gewesen. Im Übrigen wolle man sich auf jeden Fall in die Konzernspitze vorarbeiten und eigentlich sei man da auch schon angekommen.23
Angesichts der „Amerikanisierung„ der Sanktionen gegen börsennotierte Unternehmen ist die Berechtigung einer exklusiven Berufung auf die deutsche Dogmatik bei der Straftatlehre indes zweifelhaft. Nicht zu bezweifeln ist aber die Tatsache, dass sich die Realität von der Rechtsdogmatik nicht stoppen lässt. Bloße Appelle an die Moral sind zu allen Zeiten und in allen Ländern wirkungslos geblieben. In manchen Medien kursiert mittlerweile die Vermutung, dass es für die Unternehmen im Eigeninteresse liegen müsste, sich nicht um die Verschleierung von Korruption zu bemühen, sondern in ihre Bekämpfung zu investieren:

„Ein Unternehmensstrafrecht ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung.„ (Leyendecker)

Hätte ein „Herr Siemens„ sich so verhalten, wie es der Firma Siemens vorgeworfen wird, dann, so eine Mutmaßung in einem anderen Pressekommentar, ginge es dem Mann ziemlich schlecht. Die gewieftesten Anwälte hätten ihn vor vielen Jahren Gefängnis nicht retten können, auch mit dem schönsten Deal nicht. Auf „milliardenschwere Bestechung„ stehen bis zu zehn Jahre Haft. Und auf einen Freigang müsste Herr Siemens noch lange warten. Aber wie jedermann weiß, ist Siemens eben keine natürliche Person, sondern eine juristische (Aktiengesellschaft). Es gibt zwar in der Firma Siemens viele natürliche Personen (auch Vorstände und Aufsichtsräte), die man strafrechtlich durchaus fassen kann. Dafür ist aber der Nachweis individueller Schuld erforderlich. Wenn jedoch Korruption Geschäftsgrundlage ist, dann, so der Kommentar weiter, liegt es in der Natur dieses „kriminellen Systems„, dass die Ermittler immer nur ein Stückchen individuelle Schuld erwischen, das für sich genommen womöglich für eine Verurteilung nicht reicht, weil sich das verbrecherische Gesamtbild erst noch ergeben muss:

„Deshalb braucht man ein Unternehmensstrafrecht.„
(Prantl)

Ein Unternehmensstrafrecht müsse Geldstrafen vorsehen, die Strafen sind und nicht bessere „Knöllchen„. Ein Bußgeld von 201 Millionen Euro auf der Basis des Ordnungswidrigkeitenrechts klingt gewaltig, ist es aber nicht. Man habe von dem wirtschaftlichen Vorteil, den Siemens mit seiner Milliarden-Korruption erzielt habe, nur „ein Löffelchen Rahm„ abgeschöpft. Es habe sich um einen Deal auf der Basis von „Systemunrecht„ gehandelt. Die Schlussfolgerung ist klar:

„Es stimmt etwas nicht im Staate Deutschland, wenn der kleine Laden- und Taschendieb vom echten Strafrecht, der große Konzern aber nur vom Bußgeldrecht erfasst wird.(Prantl)

Derartige Spekulationen scheinen nicht allzu weit von neueren Erkenntnissen des erst seit relativ kurzer Zeit im Amt befindlichen „Chief Compliance Officers„ der Firma Siemens entfernt zu sein. Nach der Einschätzung von Andreas Pohlmann ist das, was wir als „Korruptionsskandal„ bei Siemens sehen, eindeutig ein Führungsproblem:

„Es gab systematische Verfehlungen. Wir haben es mit einer Führungskultur zu tun, die an vielen Stellen mit Recht und Gesetz und Richtlinien nicht im Einklang stand. Und zwar über viele Jahre. Es ist doch kaum vorstellbar, dass aus einem Unternehmen eine so große Summe Geld verschwindet und die Führung davon nichts bemerkt hat.„

Den Hinweis, dies würde der These des früheren Siemens-Aufsichtsratschefs Heinrich von Pierer widersprechen, dass Siemens Opfer einer kleinen Gruppe von Kriminellen geworden sei, die bestraft werden müssten, nahm Pohlmann zustimmend zur Kenntnis. Nach seinem Empfinden wäre es im Übrigen ungerecht, Mitarbeiter der unteren Ebenen heranzuziehen und die Top-Ebene, die möglicherweise die Anweisungen gegeben hat, nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Auf die Frage, ob sich das System an einzelnen Personen festmachen lässt, bestätigt Pohlmann wiederum, dass es ein System gab. In einem Unternehmen gebe es immer Verantwortlichkeiten. Jetzt gehe es um deren Zuweisung. Wörtlich und wiederholend:
„Wir hatten es an vielen Stellen mit systematischen Verfehlungen zu tun, die mit Recht und Gesetz nicht im Einklang standen. Diese Verhaltensweise ist über Jahre entstanden.„24

Die kriminalpolitischen Konsequenzen der zitierten Einsichten und Behauptungen, die rechtliche Fundierung der aufgestellten Forderungen sowie deren praktische Umsetzbarkeit sind Gegenstände der Ausführungen im zweiten Teil des Beitrags.



(Fortsetzung folgt)

 

Der Beitrag enthält nur die persönlichen Auffassungen des Autors und verpflichtet die Europäische Kommission in keiner Weise.

1 Verfürth, Die Arroganz der Eliten, 1. Aufl. 2008, S. 10.
2 Verfürth, S. 11.
3 Hartz, Macht und Ohnmacht, 1. Aufl. 2007.
4 Verfürth, S. 12.
5 Zitiert nach: Ritzer, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 95 vom 23. April 2008, S. 20.
6 Zitiert nach: Blechschmidt, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 96 vom 24. April 2008, S. 7.
7 Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung Nr. 96 vom 24. April 2008, S. 4, li. Sp. („Gesetze gelten sogar für Otto Schily„).
8 Zu weiteren Einzelheiten: Ritzer, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 96 vom 24. April 2008, S. 1.
9 www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,druck-548480,00.html (20.April 2008).
10 Verfürth, S. 13.
11 Zitiert nach: Balser, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 88 vom 15. April, S. 23.
12 Insgesamt zutreffend: Beise, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 88 vom 15. April 2008, S. 19.
13 Knop, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 92 vom 19. April 2008, S. 12.
14 Zitiert nach: Balser/Ott, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 91 vom 18. April 2001, S. 21.
15 Diese Erwartung hat Balser, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 91 vom 18. April 2008, S. 21.
16 Zitiert nach: Balser/Ott, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 96 vom 24. April 2008, S. 19.
17 Vgl.: Herr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 96 vom 24. April 2008, S. 11.
18 Leyendecker/Ott, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 92 vom 19./20. April 2008, S. 1.
19 Leyendecker/Ott, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 92 vom 19./20. April 2008, S. 34.
20 Vgl.: Leyendecker/Ott, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 94 vom 22. April 2008, S. 20.
21 Schäfer, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 93 vom 21. April 2008, S. 17.
22 Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung Nr. 73 vom 28. März 2008, S. 32.
23 Insgesamt zitiert nach: Wolfgang Gehrmann, in: Die Zeit Nr. 12 vom 13. März 2008, S. 27.24 Insgesamt: Pohlmann, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 34 vom 9./10. Februar 2008, S. 29.