Gewalt an Schulen: Das Amok-Phänomen

von ISMC Robert F. J. Harnischmacher, Mitherausgeber und Mitarbeiter der WOLRD POLICE ENCYCLOPEDIA, New York

Amokläufe an Schulen wie in Emsdetten haben meist sehr ähnliche Vorgeschichten und könnten daher in vielen Fällen verhindert werden.

Nur, was ist Amok? Amok ist ein Wort aus der Sprache der Malaien und bedeutet so viel wie Wut. Wissenschaftler wurden zuerst in Südostasien auf Fälle von plötzlich auftretenden psychischen Störungen mit aggressivem Aktionsdrang aufmerksam, die sie als Amoklauf bezeichneten. Die Befallenen zogen unvermittelt den Dolch und stachen im Laufen auf andere ein, bis sie selbst zusammenbrachen. Im Malaiischen wird das Wort Amok auch benutzt, um einen Zustand der äußersten Demütigung und somit des Gesichtsverlusts zu kennzeichnen, der zur Wahnsinnstat treiben kann.

Robert F. J. Harnischmacher

Demnach ist unter einem Amokläufer ein meist persönlichkeitsgestörter Täter zu verstehen, welcher spontan im Affekt (der mit aufgestauter Wut und Frustration zu tun hat) wahllos (blindwütig) andere am Tatort (zufällig) anwesende Menschen (auch mit Waffen) angreift bzw. verletzt oder tötet.

Fast immer Männer

Dem Bund Deutscher Psychologen (BDP) zufolge liegen bei mehr als der Hälfte der Fälle von Amokläufen Hinweise auf schwerwiegende seelische Störungen vor. Danach sind die Wahnkranken am gefährlichsten, deren Amoklauf immer tödlich ausgeht, während die Berauschten eher ziellos handeln. Die einen projizieren ihren wahnhaften Hass in die ihnen fremde Welt. Die anderen sind depressive Persönlichkeiten, die den „Notausgang„ aus dem Elend suchen und zum Beispiel ihre Familie mitnehmen wollen. Grund des Amoklaufs kann eine menschliche Grunderfahrung sein „Sich als Fremder unentrinnbar in einer anderen, unbegreiflichen und feindlichen Welt zu fühlen„. Fast immer sind es Männer (Frauen sind selten Täter), die vor der Tat Drohungen aussprechen, quasi ein Hilfesignal in Form einer Ankündigung. Diese werden meist nicht erkannt. Hinzu kommt als weiteres Indiz für einen bevor stehenden Amoklauf, eventuell ein sozialer Rückzug und Isolation vor. Auch kleinere psychische Ticks oder Macken werden oft im Nachhinein festgestellt.


Viele Nachahmungstaten

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann in Deutschland Amok läuft, liegt übrigens bei nur 1 zu einer Million (so der Amoklauf-Experte Adler im SPIEGEL 19/2002,145). Aber nicht zu unterschätzen sind Nachahmungstaten im Sinne der Dominoeffekte: 44 % aller Amokläufe, die zwischen 1993 und 2001 weltweit verübt wurden, ereigneten sich innerhalb von zehn Tagen nach einem vorausgegangenen in den Medien berichteten Fall. Nach Angaben der Schulministerin in Nordrhein-Westfalen sind nach dem Vorfall am 20.11.2006 in Emsdetten bundesweit inzwischen 82 Trittbrettfahrer aufgefallen.

Sebastian B. wollte Rache und hatte seine Tat im Internet angekündigt. Dort posierte er auch auf Fotos mit Waffen. Unter den Bildern ist sein Abschiedsbrief veröffentlicht, der sehr nachdenklich zu beachten ist: „Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin„, so im Text. Und: „Ich verabscheue Menschen„. Der Abschiedsbrief ist nicht nur von der Motivdeutung her relevant. Er ist ein Armutszeugnis für die sich ausbreitende soziale und ausgrenzende intolerante Kälte in unserer Gesellschaft, ein Versagen unserer Mitmenschlichkeit und Fürsorge. Da sind politisch, pädagogisch, soziologisch, viktimologisch viele Schularbeiten zu machen in unserer sich selbst immer mehr entfremdenden „Ich-Gesellschaft„.

Schon der Fall des Robert Steinhäuser in Erfurt hatte vieles an den Tag gebracht: Waffen-Narr und Experte im Combatschießen, Killer-Computerspiele usw. Was ist seitdem an Konsequenzen realisiert worden?

Killer-Computerspiele sollten verboten werden. Das wird natürlich nicht verhindern, dass sich jemand trotzdem das Spiel besorgt und sich in dieses Spiel hineinsteigert. Aber ein Verbot kann immerhin für eine öffentliche Sensibilierung sorgen, so auch Jugendforscher Professor Dr. Klaus Hurrelmann (Universität Bielefeld).


Waffenkäufe und Internet kontrollieren

Zudem ist mehr denn je mehr Kontrolle über Waffenkäufe angesagt. Die Polizei muss im Internet „Streife„ surfen, wie sie sonst Streife läuft, das muss im zunehmenden Umfang erfolgen als Gebot der Notwendigkeit zur Verhütung von schwerwiegenden Straftaten wie in Emsdetten, denn in Deutschland sind nach Experteneinschätzungen 20 Millionen illegale Schusswaffen im Umlauf und zehn Millionen legal registriert. Im vergangenen Jahr registrierten die Behörden mehr als 12.500 Fälle von Waffenkriminalität. Dabei wurden etwa 14.000 Waffen beschlagnahmt.

Sebastian B. wurde gemobbt und hinter seinem Rücken als „Man in black„ verspottet. Als er „explodierte„, war er wie im „Blutrausch„, wo jede Beschwichtigung oder ein Appell fehl schlägt. Er wäre vielleicht ansprechbar gewesen, wenn er seine Wut abgearbeitet hatte, also nach dem tödlichen „Die Sau raus lassen„. Aber er wollte sofort töten, schnell, kalt, roboterhaft wie ein „Maschinengewehr„. Mit seinem Selbstmord, er setzte einen 15-Millimeter-Vorderlader im „Mundbereich„ an und drückte ab, hat er noch einmal sein Tatmotiv betont im Sinne einer „Bestrafungsaktion„ und „Demonstration„ wie der Täter, der sich vor den Zug wirft, bis zur Unkenntlichkeit dann schwer identifizierbar ist. Analog vergleichbar ist sein Gebaren den Straftätern von Haß- oder Vorurteilsverbrechen nach.

Trotzdem, „Basti„ – wie Mitschüler ihn nannten – hat in seinen aktiven Kriegsspielen im Wald mit seinen Mitspielern in vorderster Front, in seiner fiktiven Welt des Spiels gezeigt und bewiesen, dass er kein Verlierer ist. Hier fühlte er sich stark. Dass das keiner der Erwachsenen im Umfeld des Attentäters rechtzeitig gemerkt hat – das ist mal wieder die berühmte Geschichte vom Hasen: „Ich weiß von nichts„.

Auf Warnsignale reagieren

Amokentwicklungen haben immer eine persönliche wie eine gesellschaftliche Dimension (Amok als Konflikt- und Verlustgeschichte sozialer Bindung und Zugehörigkeit): „Dem Amoklauf scheint der soziale Tod vorauszugehen. Ein Mensch fällt aus seiner Ordnung der Dinge und brütet im Privaten und im Innern über seinen Unglücksvorräten„. Sieht man Amok als Reaktion auf persönliche und gesellschaftliche Konflikte, kommt man nicht umhin, sich den subjektiven Perspektiven und Deutungen des Täters zuzuwenden.

Auch Sebastian B. hatte viele eindeutige Warnsignale gesandt. Es gab ganz viele Leute, die Einzelinformationen hatten, aber niemanden, der die Puzzlesteine zusammensetzte. Und, solche Taten erfolgen nicht spontan. Jugendliche in Deutschland haben keine Anlaufstelle, um derartige Auffälligkeiten von Freunden und Mitschülern zu melden. Hier ist der Vertrauenslehrer gefragt und in der Pflicht mit gleichzeitigem engen Kontakt zu Schulpsychologen und der Polizei. So eine Tat wie in Emsdetten ist nicht impulsiv und spontan, sie hat eine Vorgeschichte, auch in der Erosion des Rechtsbewusstseins. Der Psychologe Jens Hoffmann von der Technischen Universität Darmstadt sagt gar, dass die meisten Amokläufer eher ruhige und verschlossene Typen seien, die sich in einer Krise befinden. Aber selbst sie würden immer lange vor der Tat mit irgend jemandem reden. Oft seien sie depressiv und hofften, über eine Gewalttat Würde und Größe zu erlangen. „Das sind Leute, so Hoffmann, die prinzipiell für Krisenprävention zugänglich sind„. Wenn man ihnen Alternativen zur Gewalt aufzeige, könne man mit relativ wenig Aufwand viel erreichen.

Tun wir’s endlich, packen wir’s, bevor wir den „Zerbrochenen Krug„ im Sinne von Heinrich Kleist wieder zitieren müssen zu unserer eigenen Schande, als Mitmensch versagt zu haben.


Quellen und Literatur beim Verfasser erfragen: 320088206803-0001@T-Online.de