Das „Haus des Jugendrechts“ in Stuttgart

Modellprojekt und Vorbild einer ganzheitlichen,
behördenübergreifenden Zusammenarbeit in Baden-Württemberg

Von Polizeipräsident Dr. Martin Schairer und
Kriminaldirektor Gerd Birnzain, Stuttgart

Das in Stuttgart eingerichtete Pilotprojekt „Haus des Jugendrechts“1 stellt eine neue Form der vernetzten Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgericht und Jugendbehörden dar, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Jugendkriminalität ganzheitlich zu bekämpfen. Das Pilotprojekt, das sich um delinquente Kinder, Jugendliche und Heranwachsende kümmert, startete im Juni 1999 und wurde drei Jahre lang unter wissenschaftlicher Begleitung getestet. Seit Juni 2002 arbeitet das Projekt unbefristet als Denk- und Experimentierwerkstatt weiter.

Dr. Martin Schairer

Im folgenden Beitrag soll das „Haus des Jugendrechts“ von der Vision über die Realisierung bis zum Projektende vorgestellt werden. In Baden-Württemberg sollen ab 1. Januar 2005 Module des Projekts landesweit zur Bekämpfung der Jugendkriminalität übernommen werden.


II.

Zunächst zu den Anfängen: Die steigenden Fallzahlen im Bereich der Kinder- und Jugenddelinquenz veranlassten den damaligen Polizeipräsident Dr. Volker Haas mit der Forderung nach einem „Haus des Jugendrechts“ an die Öffentlichkeit zu treten. Nach dem Vorbild der New Yorker Nachbarschaftsgerichte sollten Jugendrichter, Polizei, Staatsanwälte und Träger der Jugendhilfe gemeinsam unter einem Dach auf Straftaten junger Menschen reagieren2.
Insbesondere im Bereich der Jugenddelinquenz ist auffällig, dass staatliche Reaktionen auf Straftaten und sozial auffälliges Verhalten junger Menschen vielfach nicht abgestimmt, sondern nacheinander und mit erheblichem zeitlichem Verzug erfolgen. Der Prozess erstmaliger staatlicher Intervention bis zur letztendlichen Sanktion zieht sich häufig über Monate, teilweise über Jahre hin. Zum Zeitpunkt der Verurteilung können sich die delinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden oftmals nicht mehr an ihre Straftat erinnern. Im Modellprojekt „Haus des Jugendrechts“ soll dazu nicht nur eine gemeinsame Strategie der staatlichen Kontrollinstanzen verwirklicht, sondern parallel auch ursachenorientiert die Entstehung von Kriminalität verhindert werden.


Im November 1997 wurde eine behördenübergreifende Projektgruppe unter Beteiligung der in Stuttgart-Bad Cannstatt zuständigen Behörden wie Amtsgericht, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Landespolizeidirektion Stuttgart II installiert.
Es wurden folgende Ziele vereinbart3:


Gerd Birnzain, Kriminaldirektor Polizeipräsidium Stuttgart -Leiter Kriminalpolizei-

Rasches und zeitnahes Reagieren auf normwidriges Verhalten junger Menschen bereits nach der ersten Verfehlung, die Optimierung der behördenübergreifenden Zusammenarbeit, eine effektivere Bekämpfung der Jugendkriminalität sowie langfristige Reduzierung der Jugenddelinquenz.
Dabei wurde daran festgehalten, dass im „Haus des Jugendrechts“ jede Behörde eigenverantwortlich ihren Arbeitsbereich einrichtet und selbstverständlich weiterhin die rechtlichen Rahmenbedingungen – einschließlich des Datenschutzes – beachtet sowie alle ihr vom Gesetzgeber zugeschriebenen Aufgaben wahrnimmt. Diese Ziele waren nur durch eine vernetzte Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe und Jugendrichter im Rahmen einer gemeinsamen Strategie zu verwirklichen. Die Philosophie ist der ganzheitliche Ansatz, um so den multikausalen Entstehungsbedingungen von Jugenddelinquenz4 zu begegnen. Durch die ganzheitliche, parallele Befassung wird die „Jugendsache“ zügiger abgewickelt und ein unmittelbar erkennbarer Bezug zwischen Straftat und Sanktion hergestellt. Sanktion bedeutet im Haus des Jugendrechts nicht kurzer Prozess oder schnelles Abstrafen, sondern die Ausschöpfung der gesamten Palette der Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sowie die sachgerechte Anwendung aller im Jugendgerichtsgesetz vorgesehenen Möglichkeiten der erzieherischen Maßnahmen bis hin zur Jugendstrafe. Gerade bei jungen Menschen entscheidet nicht nur die Schnelligkeit, sondern die Qualität der Verfahrensbearbeitung über den Erziehungserfolg5.

Die Ziele des „Haus des Jugendrechts“ sollen aber auch durch gemeinsam entwickelte jugendspezifische Präventionskonzepte realisiert werden. Junge Menschen sollen bereits an der Schwelle zur Kriminalität erreicht und damit kriminelle Entwicklungen verhindert und Delinquenzkarrieren schon im Ansatz unterbunden werden.
Diese neue Kultur der ganzheitlichen Zusammenarbeit forderte bei allen Beteiligten die Bereitschaft, sich mit den rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeit der anderen Beteiligten auseinander zu setzen und in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen, also die Bereitschaft, „sich auch den Kopf des anderen Behördenvertreters zu zerbrechen“.
Als Projektgebiet wurde der Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt mit ca. 64.000 Einwohnern ausgewählt. In diesem Bereich sind neben 15 Schulen und drei Jugendhauseinrichtungen auch der „Cannstatter Wasen“ mit seinen Volksfesten, das Gottlieb-Daimler-Stadion und eine Großsporthalle als wichtige kriminalgeografische Brennpunkte angesiedelt. Diese Bereiche dienen nicht nur den dort wohnhaften, sondern auch vielen jungen Menschen aus dem Umland als Treffpunkt.
Der Ausländeranteil des Stadtteils liegt bei über 30 % und damit mehr als 5 % über dem städtischen Durchschnitt.
Das eigentliche Haus des Jugendrechts besteht aus einem Hauptgebäude, in dem Polizei und Staatsanwaltschaft untergebracht sind, sowie einem Rückgebäude mit gesondertem Eingang, in dem die Vertreter der Jugendgerichtshilfe ihre Büros haben. Mit dieser Trennung soll den jungen Betroffenen auch optisch klargemacht werden, dass sie sich nun nicht mehr bei den Strafverfolgungsbehörden, sondern bei Sozialarbeitern befinden. Aus Gründen der richterlichen Unabhängigkeit wurden die zuständigen Jugendrichter beim nahe gelegenen Amtsgericht belassen.



III.Die traditionelle Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Behörden, die bisher in der Regel nacheinander mit den betroffenen Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden befasst waren, erfährt jetzt eine neue Qualität durch innovative Formen behördenübergreifender Kooperation. Es ist vor allem die gleichzeitige Beschäftigung der betreffenden Institutionen mit den jungen Menschen, die die neuen Kooperations- und Reaktionsstrukturen kennzeichnet6.
Orientiert am konkreten Fall erfolgt im Rahmen der vernetzten Vorgehensweise die sofortige Absprache zwischen dem polizeilichen Sachbearbeiter und der Staatsanwältin im „Haus des Jugendrechts“. Im Einzelfall wird schon zu diesem Zeitpunkt auch die Jugendgerichtshilfe eingebunden.
Ein Kernstück der ganzheitlichen Verfahrensweise stellen die Fallkonferenzen dar. Bezogen auf den Einzelfall werden zum frühest möglichen Zeitpunkt zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichtshilfe die konkreten Verfahrensschritte abgesprochen. Tragender Effekt dabei ist – neben dem effizienteren Vorgehen – eine frühzeitige Information der Jugendgerichtshilfe, die wesentlich zur Verkürzung der Gesamtverfahrensdauer beiträgt. Durch diese neue Kooperationsintensität wird die Diversion gefördert; Eltern, Kinder, Jugendliche und Heranwachsende haben die Möglichkeit, ad-hoc-Gespräche mit der Jugendgerichtshilfe zu führen. Dabei können der Ablauf des Strafverfahrens, adressatenorientierte Beratung über
Hilfsangebote, Möglichkeiten der Jugendhilfe, Krisenintervention u.v.a.m. als Gesprächsinhalte angeboten werden.

Neu in der Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Jugendgerichtshilfe ist auch, dass gemeinsame, einmal wöchentlich anberaumte Fallsichtungen mit den Sozialarbeitern der Täter-Opfer-Ausgleichsstelle durchgeführt werden. Dadurch ist eine erhebliche Zunahme der für den Täter-Opfer-Ausgleich geeigneten Fälle festzustellen.

Durch Verfahrensanhängung an bereits feststehende Sitzungstage beim Amtsgericht werden Vorgänge aus dem Haus des Jugendrechts im Vergleich zu anderen Verfahren in wesentlich kürzeren Zeiträumen verhandelt.
Durch den häufig parallel, schon während den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erstellten Bericht der Jugendgerichtshilfe wird eine frühzeitige Beurteilung der Täterpersönlichkeit ermöglicht. Insbesondere ambulante Maßnahmen, wie Betreuungsweisungen, Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren und soziale Trainingskurse können so schon vor der Hauptverhandlung in die Überlegungen mit einbezogen werden.
Die Staatsanwaltschaft kann durch die tägliche intensive Zusammenarbeit mit den polizeilichen Sachbearbeitern, im Einzelfall durch persönliche Anhörungen der Betroffenen und durch Elterngespräche, einen aktuellen Kenntnisstand erwerben. Sie kann sofort in Kontakt mit der Jugendgerichtshilfe treten oder sonstige angepasste strafprozessuale Maßnahmen treffen.

Im Falle einer Anklage vertritt in der Regel die sachbearbeitende Staatsanwältin aus dem Haus des Jugendrechts ihre Anklage selbst, wie es die Richtlinien zu § 36 JGG vorsehen7. Die Vielzahl der Verfahren und die beschränkten Ressourcen lassen dies zwischenzeitlich aber nicht mehr in jedem Einzelfall zu.
Um es plakativ auszudrücken, Justiz und Polizei wollen den Jugendlichen ein Gesicht zeigen.

Die Jugendgerichtshilfe ist über ihren originären Zuständigkeitsbereich hinaus als Ansprechpartnerin der Polizei für alle Fragen des Jugendschutzes und der Jugendhilfe zuständig. Dabei werden in die Erörterung geeigneter Jugendhilfemaßnahmen oftmals auch die sozial auffälligen Personen selbst eingebunden. In einer Art „Drehscheibenfunktion“ ist die Jugendgerichtshilfe nach Abklärung der familiären, erzieherischen und sozialen Situation für die verbindliche Information, Einschaltung und Vermittlung anderer notwendiger Institutionen und sozialer Dienste verantwortlich.

Bestanden bislang kaum Kontakte zwischen Polizei und Jugendgerichtshilfe, so verständigt die Polizei letztere nunmehr umgehend und unmittelbar in Fällen von Kinder-/Jugenddelinquenz oder von sonst sozial auffälligem Verhalten. Dadurch können auch von dort zeitnah die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden.

Zentrale Bedeutung im „Haus des Jugendrechts“ hat die monatlich stattfindende „Hauskonferenz“8. Die jeweiligen Aufgabenstellungen der einzelnen Behördenvertreter werden dort aufeinander abgestimmt, Fortbildungskonzepte erarbeitet und thematische Schwerpunkte festgelegt, sowie die tägliche Zusammenarbeit besprochen.
Der Vorsitz wechselt vierteljährlich zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendamt. Die Auseinandersetzung mit den Problembereichen der verschiedenen Disziplinen im Rahmen dieser neuen Kooperationsform haben zum gegenseitigen Verständnis und zur Transparenz der jeweiligen Arbeitsfelder entscheidend beigetragen.

Eine der Grundvoraussetzungen für das Funktionieren der Kooperationsstrukturen ist es, dass grundsätzlich alle auffälligen Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden, die ihren Wohnsitz in Bad Cannstatt haben, von den Mitarbeitern im „Haus des Jugendrechts“ betreut werden. Dies gilt unabhängig davon, wo sie auffällig werden.

Eine solche Verfahrensweise erforderte insbesondere bei der Polizei Eingriffe in bestehende Organisationsstrukturen und Geschäftsverteilungspläne, weil normalerweise die polizeiliche Sachbearbeitung traditionell dort erfolgt, wo die Straftat begangen wurde. Diese mit erheblichem Aufwand verbundene Zuständigkeitsänderung vom polizeilichen Tatortprinzip zum im Jugendgerichtsgesetz betonten Wohnortprinzip führt bei der Polizei unter anderem zu einer besseren Personenkenntnis. Die Polizei erhält dadurch die Möglichkeit, kriminalitätsfördernde Entwicklungen früher zu erkennen und über den persönlichen Kontakt zu den jungen Menschen eine Verhaltensänderung zu erreichen.
Darüber hinaus wurde durch Ausdehnung der Arbeitszeit der polizeilichen Sachbearbeiter im „Haus des Jugendrechts“ und Angleichung an die Ladenschlusszeiten – wochentags bis 20.00 Uhr – eine direkte Übernahme der Täter von Ladendiebstählen gewährleistet, die zu einem erheblichen Teil durch Kinder und Jugendliche begangen werden.

IV.Die wissenschaftliche Begleitung des Pilotprojekts wurde vom Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. („ism“) wahrgenommen, das neben der Unterstützung des Reformprozesses die Aufgabe hatte, Effekte, Wirkungen und Zielrealisierung des Modellprojekts methodisch kontrolliert zu erforschen. Die nachfolgenden, durch das „ism“ ausgewerteten Ergebnisse basieren auf den abgeschlossenen Fällen der drei Projektjahre von Juni 1999 bis Mai 20029.
Vom „ism“ wurden anonymisierte Daten von 1.262 Personen mit 1.971 Datensätzen (mehrfachauffällige Personen) und daraus hervorgehenden 2.728 Straftaten (mehrere Straftatbestände pro Fall) ausgewertet. Da die Datensätze über die gesamte Dauer eines Verfahrens von der Polizei bis zum Gericht mit jeweils eigenen Erfassungsbogen ausgefüllt wurden, lässt sich jedes Verfahren zeitlich und inhaltlich nachvollziehen. Durch diese Datenauswertung war dem „ism“ die Erstellung einer „integrierten Kriminalstatistik“ möglich. Dadurch wiederum sind sehr genaue Aussagen zu Verfahrenszeiten und Verfahrensabschlüssen entstanden. Die Daten zu Altersgruppen, Geschlecht, Nationalität und Deliktsbereichen basieren auf den statistischen Angaben der polizeilichen Sachbearbeiter. Dabei wurden mehrfach straffällige Personen nur einmal gezählt (echte Tatverdächtigenzählung). Bei der Betrachtung der einzelnen Altersgruppen, die nachfolgend detailliert dargestellt sind, ist der mit 37,6 % hohe Anteil der strafunmündigen Personen besonders hervorzuheben:



Innerhalb der einzelnen Deliktsbereiche nehmen die Diebstahlsdelikte mit 34,9 % und die Raub- und Körperverletzungsdelikte mit zusammen 23,6 % sowie die Sachbeschädigungen mit knapp 10 % den größten Anteil ein. Dies deckt sich mit kriminologischen Erkenntnissen, wonach Jugenddelinquenz hauptsächlich durch Diebstahlsdelikte, Sachbeschädigungen und Körperverletzungen geprägt ist.

51,7 % der unter 21-jährigen Tatverdächtigen waren deutsche Staatsangehörige. Bei den nichtdeutschen Tatverdächtigen hatten die Jungtäter mit türkischer Staatsangehörigkeit (15,5 %) und die Staatsangehörigen aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens mit 7,7 % die größten Anteile.

Beim vernetzten Arbeiten im Haus des Jugendrechts kommt es nicht so sehr auf die Bearbeitungszeiten an, die die einzelnen Institutionen für die Sachbearbeitung benötigen; hier ist wesentlich, wie lange die Verfahren für die jungen Menschen insgesamt dauern. Stellt man auf den Zeitraum ab, der zwischen dem Anzeigeneingang beim polizeilichen Sachbearbeiter bis zur staatsanwaltschaftlichen Erledigung mit Abschlussverfügung vergeht, so ergibt sich folgendes Bild:



Die durchschnittliche Bearbeitungszeit beträgt 51,6 Tage. Gut einen Kalendermonat nach Eingang bei der Polizei ist die Hälfte aller Verfahren auch schon bei der Staatsanwaltschaft erledigt.
Für die jungen Menschen, deren Straftaten eine Anklage nach sich zieht, ergeben sich längere Gesamtbearbeitungszeiten im Haus des Jugendrechts. Zu bedenken ist hierbei aber, dass es sich bei diesen Verfahren meist um mittlere oder sogar schwere Auffälligkeiten handelt.



Im Durchschnitt ergeht nach 105 Kalendertagen, also nach etwas mehr als drei Monaten, eine Entscheidung des Gerichts. Immerhin die Hälfte aller Verfahren ist aber bereits in weniger als drei Monaten auch durch das Amtsgericht erledigt.

Der Vorteil der vernetzten Arbeit wird deutlich, wenn man – diesmal isoliert – die Zeiten ansieht, die von der Staatsanwaltschaft zwischen dem Eingang der Hauptmeldung und der Abschlussverfügung benötigt werden:



Die erfreulich kurzen Bearbeitungszeiten bei der Staatsanwaltschaft (im Durchschnitt sind es 15,3 Kalendertage und bereits nach 7 Tagen ist die Hälfte der Verfahren erledigt) dürften davon herrühren, dass gleichzeitig mit dem Ein- gang des Verfahrens bei der Polizei auch die Staatsanwaltschaft eingebunden wird und sie damit frühzeitig Maßgaben treffen kann.
Schwierig gestaltet sich ein Vergleich der benötigten Verfahrenszeiten innerhalb des Modellprojekts mit den vor Projektbeginn üblichen Bearbeitungszeiten. Hierzu wurde eine retrograde Aktenuntersuchung durchgeführt, die nur Fälle aus dem Jahr 1998 einschloss, bei denen die Beschuldigten oder die betroffenen Kinder im Projektgebiet wohnhaft waren. Ein erfreulicher, eindeutiger Trend konnte festgestellt werden:
Die Bearbeitungszeiten bis zur staatsanwaltschaftlichen Entscheidung konnten im Modellprojekt um die Hälfte von 105,1 auf 51,6 Kalendertage reduziert werden. Auch die Verfahrenszeiten bis zur ersten gerichtlichen Entscheidung wurden von 229,9 auf 105 Kalendertage verkürzt und damit mehr als halbiert.
Die Bearbeitungszeiten innerhalb der Staatsanwaltschaft sanken im Mittelwert um 71% von 52,2 auf 15,3 Kalendertage. Insgesamt hat die Analyse der Verfahrenszeiten zum Ergebnis geführt, dass es im „Haus des Jugendrechts“ gelungen ist, die Bearbeitungszeiten erheblich zu verkürzen.

V.Neben einer adäquaten Reaktion auf delinquentes Verhalten junger Menschen ist die gemeinsame Intensivierung jugendspezifischer Präventionsaktivitäten ein weiteres Hauptanliegen des „Haus des Jugendrechts“ 10. An diesen Präventionsaktivitäten haben sich auch Staatsanwaltschaft und Amtsgericht planerisch beteiligt, obwohl dort keine normierte Aufgabenzuweisung besteht.

Einige Beispiele der durchgeführten oder in Angriff genommenen Präventionsprojekte mögen genügen:

Unter dem Stichwort „KripS“ – Kriminalprävention an Schulen - wird von der Polizei im „Haus des Jugendrechts“, zusammen mit der Sozialarbeit vor Ort und den Schulen im Projektgebiet, für verhaltensauffällige Schüler der 5. und 6. Klassen, deren Eltern und für die Lehrer der Schule ein Projektangebot bereit gehalten. Die Kinder werden in sozialer Kompetenz trainiert und nehmen zusammen mit ihren Eltern an einem erlebnispädagogischen Tag teil. Die Lehrer werden ergänzend von Profis in Mediation unterwiesen.

Polizeiliche Jugendschutz- und Präsenzstreifen werden in Verbindung mit Schulwegüberwachungen durchgeführt. Dabei soll mit den Jugendlichen im Projektgebiet Kontakt gehalten und Aggressionspotential von Schülern erkannt und entgegengewirkt werden. Daneben finden zahlreiche Präventionsveranstaltungen zum Thema Gewalt und Eigentum an Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen statt.
Themenbezogene Projekttage und -wochen an den Schulen werden von Mitarbeitern des „Haus des Jugendrechts“ fachlich begleitet und runden die Präventionspalette ab.



VI.Nach über fünf Jahren Laufzeit sind die Erfahrungen durchweg als positiv zu bewerten. Der bei dem Projekt vorgenommene polizeiliche Prinzipienwechsel vom Tatort- zum Wohnortprinzip hat sich nicht nur bewährt, sondern stellt eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Projekts dar. Die abgestimmte/gleichzeitige/parallele Bearbeitung durch Polizei und Staatsanwaltschaft hat wesentlich zur Beschleunigung beigetragen, weil dadurch nicht nur die Zeit des rein staatsanwaltschaftlichen Verfahrens erheblich verkürzt wird. Nachstehende Abbildung verdeutlicht diesen ganzheitlichen, auf dem Wohnortprinzip beruhenden Ansatz:



Auch wenn personelle, organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen nicht immer und überall die Einrichtung von „Häusern des Jugendrechts“ zulassen, können die im Modellprojekt praktizierten Arbeitsabläufe und Zuständigkeitsregelungen auch ohne gemeinsame räumliche Unterbringung der Behörden auf die jeweiligen örtlichen Verhältnisse angepasst und in einzelnen Modulen weitgehend übertragen werden.
Mit viel gutem Willen und relativ wenig organisatorischem Aufwand lassen sich darüber hinaus auch die örtlichen Zuständigkeitsgrenzen so anpassen, dass immer dieselben Behördenvertreter mit dem delinquenten Jugendlichen zu tun haben. „Der Staat“ tritt so dem jungen Menschen nicht mehr anonym gegenüber; das unpersönliche Gebilde erhält für den Jugendlichen ein Gesicht.

In der Landeshauptstadt Stuttgart wird deshalb ab 1. Januar 2005 das Konzept auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt. Dabei erfolgt eine „Regionalisierung“ der Bearbeitung von Jugendstrafsachen nach folgendem Muster (siehe nächste Seite):

In Baden-Württemberg hat zwischen-zeitlich eine interministerielle Arbeitsgruppe zur Intensivierung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz unter anderem die positiven Ergebnisse des „Haus des Jugendrechts“ untersucht und sie nach einem entsprechenden Kabinettsbeschluss zusammen mit weiteren Modulen11 für eine landesweite Umsetzung vorgesehen.

Demnach kommen ab 1. Januar 2005 bei der Bearbeitung von Jugendsachen im Wesentlichen nachfolgende Module/Prinzipien aus dem „Haus des Jugendrechts“ zur Anwendung:


- Bei der Polizei wird grundsätzlich12 das Wohnortprinzip eingeführt. Inwieweit dazu dienststellenübergreifende Personalmaßnahmen erforderlich werden, ist von den örtlichen Gegebenheiten und den konkreten Einzelfallzahlen abhängig.

- Die „Jugendsachbearbeiter“ (JSB) bei der Polizei sind bis auf wenige, schwere Deliktsformen (z.B. Tötungsverbrechen) für a l l e von Kindern und Jugendlichen begangenen Delikte zuständig,

- Alle beteiligten Behörden (Staatsanwaltschaft, Jugendamt, Amtsgericht und Polizei) sind zur Bearbeitung der Jugendsache frühzeitig und soweit möglich parallel einzubinden, um so einen beschleunigten Verfahrensabschluss zu erreichen.

- Regelmäßige, gemeinsame Besprechungen mit Gericht, Staatsanwaltschaft, Jugendamt und Polizei, sollen dazu beitragen, grundsätzliche Fragen und aktuelle Probleme zu erörtern, den gegenseitigen Informations- und Erfahrungsaustausch zu vertiefen und sich über Möglichkeiten verstärkter Kooperation zu verständigen.

- Persönlich bekannte Ansprechpartner bei den beteiligten Behörden und für die betroffenen jungen Menschen fördern deren Interaktionen; mög-lichst übereinstimmende örtliche Zuständigkeitsgrenzen sind dazu anzustreben.

- Die vernetzte Zusammenarbeit mit Schulen als wichtige Partner in der Vorbeugung ist fortzusetzen und zu intensivieren.

Das vereinfachte Modell der landesweiten Einführung wesentlicher Module zeigt untenstehende Abbildung.

Diese erweiterte Konzeption will nicht ausschließlich mit repressiven Mitteln, sondern mit einem kooperativen Bündnis aller Verantwortlichen einen Beitrag zur Reduzierung von Jugenddelinquenz leisten.
Notwendig sind dazu ein langer Atem und viele kleine Schritte. Wir alle sollten dieses Modell als eine Chance für die Zukunft der nachwachsenden Generation auffassen.



Fußnoten:

1 Nicht zu verwechseln mit den „Jugendrechtshäusern“, die einen pädagogischen Ansatz (Erziehung zum Recht und zum Rechtsbewusstsein von Jugendlichen) verfolgen; von Hasseln, DRiZ 2000,430 ff.
2 Volker Haas, Die Polizei 1998, 165 ff.;
3 Schairer/Kühner, Jahresbilanz Haus des Jugendrechts in Stuttgart, Kriminalistik 2001,101 ff.
4 Wetzels, Enzmann, Mecklenburg, Pfeiffer, „Gewalterfahrungen und Kriminalitätsfurcht von Schülerinnen und Schülern in Stuttgart“, KFN 1998; Delzer, „Jugendgewalt in Stuttgart“, KFN 1998; Pfeiffer, „Kriminalität junger Menschen im vereinigten Deutschland“, KFN-Forschungsberichte 1995, Oerter, „Was können Kinder und Jugendliche? Was können sie verantworten?“ In: Triberger Symposium 1999 (Hrsg. Justizministerium Baden- Württemberg) S. 20 ff.
5 Es ist deshalb missverständlich, wenn man die Formel „Die Strafe muss der Tat auf dem Fuße folgen“ als allgemein gültigen Grundsatz der Kindererziehung (so Thomas, ZRP 1999, 195) bezeichnet.
6 Vgl. näher, Schairer,Das „Haus des Jugendrechts“ in Stuttgart, Gedächtnisschrift für Rolf Keller, Tübingen 2003, S.256f.; sowie Feuerhelm/Kügler, Das „Haus des Jugendrechts“ in Stuttgart Bad Cannstatt. Ergebnisse einer Evaluation, Mainz 2003, S. 21ff.
7 In der von den Landesjustizverwaltungen mit Wirkung vom 1. August 1994 verabschiedeten Fassung, Nachw. bei Eisenberg, JGG, 10. Auflage 2004, Anhang 2.
8 Feuerhelm/Kügler, aaO, S. 186.
9 Feuerhelm/Kügler, aaO, S. 94 ff.
10 dazu Feuerhelm/Kügler, aaO, S. 67 ff.
11 Gem. Beschluss des baden-württembergischen Regierungskabinetts vom 17.2.2004 und der interministeriellen Konzeption zur Eindämmung der Jugenddelinquenz und Jugendgefährdung vom 13.12.2004 umfassen die weiteren Module im Wesentlichen:
- die Einführung eines abgestuften Reaktionsmodells im Rahmen fortgeschriebener Diversionsrichtlinien;
- Verstärkte Maßnahmen gegen sog. Schwellentäter; - die behördliche Zusammenarbeit bei Schulpflichtverletzungen; - Verstärkte Prüfung charakterlicher Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bei jugendlichen und heranwachsenden Gewalt- und Mehrfachtätern; - weiteren Ausbau von Präventionsmaß-
nahmen, auch in der Zusammenarbeit mit (Sport-)
Vereinen
12 Ausgenommen vom Wohnortprinzip sind in der Regel: - Delikte, bei denen dem Tatort eine herausragende Bedeutung zukommt, - Verkehrsverstöße,
- allgemeine Ordnungswidrigkeiten und sonstige Ordnungsverstöße (z.B. Platzverweise) oder wenn der Tatverdächtige keinen festen Wohnsitz nachweisen kann, bzw. außerhalb von Baden-Württemberg wohnhaft ist.