Forensische Entomologie

Maden helfen Mordfälle zu lösen

Von Ulrike Eichin, Fernsehjournalistin, Mainz

Spaziergänger haben eine Frauenleiche entdeckt. Die Tote ist nur leicht verwest und lag – so scheint es – erst seit ein paar Tagen im Gebüsch. Doch es müssen über drei Wochen gewesen sein, ermitteln Jens Amendt und seine Kollegen wenig später: bestimmte Schweißfliegenmaden haben sich auf dem Körper bereits zweimal gehäutet, das dauert so lange.


Ulrike Eichin,
Fernsehjournalistin, Mainz

Der Biologe ist forensischer Entomologe am Frankfurter Zentrum für Rechtsmedizin. Seine Gutachten haben vor jedem Gericht Bestand. Die Tote, da ist er ganz sicher, wurde vor 22 Tagen erstochen, am Tage ihres Verschwindens. Laut Zeugenaussagen trieben sich an dem fraglichen Abend zwei Männer mittleren Alters auf dem Waldweg herum. Die Maden bringen die Ermittler auf ihre Spur.


Jens Amendt sitzt übers Mikroskop gebeugt im 2. Stock des Rechtsmedizinischen Instituts und begutachtet Fliegenlarven. Er misst die Maden um ihr Alter zu bestimmen, verfolgt, wie schwankende Temperaturen das Wachstum der Insekten beeinflussen. Sein aktuelles Projekt: der europäische Vergleich. Kollegen aus Bilbao, Mont-
pellier und Bari haben ihm lebendes Material geschickt. Jetzt will er herausfinden, welche Rolle klimatische Besonderheiten spielen.

Der 39-Jährige ist einer von einer Hand voll Experten für forensische Insektenkunde in Deutschland. Weltweit gibt es nur ein paar Dutzend Wissenschaftler, die sich bei der Aufklärung von Todesfällen auf ebende Beweise konzentrieren. Ihre Spezialdisziplin findet in Ermittlungs- und Strafverfahren zunehmend Anerkennung.



Nicht Polizei und Spurensicherung, es sind fast immer die Kerbtiere, die als erste an der Stätte des Verbrechens eintreffen. Vom Leichenduft angelockt schwärmen zunächst die Schmeißfliegen herbei. Sie registrieren die mit dem Tod einhergehenden Veränderungen des Körpers lange bevor diese für den Menschen wahrnehmbar sind. Oft schon nach wenigen Minuten legen sie ihre winzigen Eier in Augenhöhlen, Nasenlöcher und Mund, besiedeln Stichwunden oder Schusskanäle. Die schlüpfenden Maden fressen sich durch Haut und Organe.Den Schmeißfliegen folgen in festgelegten Zyklen Käse- und Latrinenfliegen, verschiedene Käfer, Milben und andere Gliedertiere. 522 verschiedene Tierarten haben Forscher auf einem Schweinekadaver gezählt, den sie zum Verwesen in den Wald gelegt haben. Zu den „letzten Gästen“ gehören Pelz- und Speckkäfer. Sie leben von Haut und Haaren.


Das Studium der krabbelnden Zeugen scheint unappetitlich, ist aus kriminalistischer Sicht aber sehr effektiv. Denn diese Abfolge, Sukzession genannt, lässt sich von denen, die die Botschaften der Insekten verstehen, lesen wie eine biologische Uhr.

Eine Tagung in Italien hat den Biologen vor 10 Jahren auf den Geschmack gebracht. Die Mikrowelt der Insekten fasziniert ihn und er hat Respekt vor den Leistungen, die sie erbringen. Richtigen Ekel empfindet er bei seiner Arbeit nicht, obwohl er sich bei manchen Dingen durchaus überwinden muss. Überhaupt ist für Emotionen in diesem Job nicht viel Platz. Leichen sind für ihn keine Menschen mehr, sondern nur noch deren Hüllen. Nur wenn es Kinder sind hat er manchmal Probleme.
Er habe eine kriminalistische Ader, sagt er – und ihn interessiert die Geschichte, die hinter einem Fall steckt. Wer war der Täter und was war sein Motiv? Als Gutachter allerdings muss er neutral sein, was seiner Neugier Grenzen setzt.


Die Koordinaten der Natur – sie sind die Grundlage einer aufstrebenden Wissenschaft, die in den letzten Jahren schon so manchen Mörder hinter Gitter gebracht hat. Die forensische Entomologie greift dort, wo herkömmliche Methoden nicht mehr weiterhelfen.
Um das Alter einer Leiche zu ermitteln, drücken Gerichtsmediziner normalerweise auf Totenflecke, ertasten die Leichenstarre und messen die Körperkerntemperatur. In den ersten Stunden erlaubt das präzise Angaben. Doch spätestens nach zwei bis drei Tagen lassen sich die Flecken nicht mehr wegdrücken, der Körper ist ausgekühlt, die Starre gelöst.

Nun schlägt die Stunde der Kriminalbiologen.


Ihre winzigen Helfer sind überall. Selbst verschlossene Fenster oder Kofferraumdeckel halten sie nicht fern. Die krabbelnden Zeugen können den Tatzeitpunkt verraten, und auch, ob der Fundort mit dem Tatort übereinstimmt. Denn Insekten haben verschiedene Lebensräume. Die blaue Schmeißfliege etwa bevorzugt die Großstadt. Die Güllefliege mag es warm und trocken, und Salzfliegen kommen vor allem an Meeresküsten vor.

„Wenn die insektenkundliche Datenaufnahme gründlich durchgeführt wurde“, sagt Amendt, „ist die Liegezeit der Leiche drei bis vier Wochen lang noch auf den Tag genau einzugrenzen“.
In besonderen Fällen bekommt man sogar noch nach Jahren brauchbare Ergebnisse.
Dazu studiert der Kriminalbiologe nicht nur die örtliche Insektenfauna. Er braucht exakte Daten über Wetterverhältnisse im fraglichen Zeitraum, Temperatur, Feuchtigkeit und Besonderheiten des Fundorts. Dessen Beschattung etwa, und der Zustand des Körpers. War er zugedeckt oder unter Blättern verscharrt? Jedes Detail kann von Bedeutung sein. Verletzungen wie Schuss- oder Stichwunden laden manche Kerbtiere ein und entscheiden mit, wie schnell sich der Körper zersetzt. Er weiß genau, nach wie vielen Tagen welche Fliegenart normalerweise ihre Eier ablegt, welche Insekten auf „Wohnungsleichen“ siedeln und welche auf „Waldleichen“, oder dass Schmeißfliegen-Maden an Begrabenen für ein nachträgliches Verscharren des Opfers sprechen.

Die Bestimmung der Insekten ist oft kompliziert. Allein in Mitteleuropa gibt es 8000 verschiedene Fliegenarten. Ihre Maden sind noch schwieriger zu identifizieren. Sie sind oft nur Millimeter groß oder hauchdünn.
Molekularbiologen haben deshalb DNA-Tests entwickelt, mit denen sie die Larven der 25 forensisch wichtigsten Arten auseinanderhalten.

Ein Großteil seines Wissens beruhe auf Erfahrung, sagt Jens Amendt. Seit Jahren begutachtet er jede „Madenleiche“, wie er selbst seine Studienobjekte nennt, die im Rechtsmedizinischen Institut Frankfurt obduziert wird.
Die meisten sind keine Verbrechensopfer – es sind Todesfälle von einsamen alten Menschen, die allein in ihrer Wohnung starben, von Junkies, die im Park lagen oder von Joggern, die im Wald einen Herzinfarkt erlitten.


An Tatorte, meint er bedauernd, wird er viel zu selten gerufen. Der Grund: Berührungsängste der Polizei, obwohl sich diesbezüglich in den letzten Jahren manches verändert hat. Oft scheuen die Beamten den zusätzlichen Zeitaufwand. Denn wenn er mit der Tatortarbeit beginnt, kann es Stunden dauern bis er fertig ist.
Ob seine Hilfe gefragt ist, komme ganz auf den Bearbeiter an, sagt er. Manche sind dankbar, andere scheuen entstehende Kosten und möchten die Leiche so schnell wie möglich dort haben, wo sie letztendlich hingehört: zur Obduktion in die Rechtsmedizin. Wichtige Beweise gehen dabei verloren – Insekten zum Beispiel, die sich am Tatort verpuppt haben, und die nur der Kundige findet.

Mit Hilfe von Kerbtieren werden Selbsttötungen enttarnt und zu Unrecht Beschuldigte entlastet. Sogar über Medikamente und Drogen liefert der Fliegennachwuchs Informationen. Wenn kein Gewebe mehr für toxikologischen Untersuchungen vorhanden ist kommt man mit herkömmlichen Methoden nicht weiter – mit Hilfe der Maden und verlassenen Fliegenpuparien hingegen schon, denn sie speichern die Gifte. So gelang es sogar, Beruhigungsmittel aus dem Kot und den Häuten von Speckkäfern nachzuweisen, die neben einer skelettierten Toten gefunden wurden.
Selbst ein Mord ohne Leiche könnte aufgeklärt werden. Wenn man etwa im Kofferraum des Verdächtigen eine Made entdeckt, in deren Magen sich Erbgut des Opfers befindet.

Die forensische Entomologie hat noch ein enormes Potential, das bei uns – im Gegensatz zu den USA – kaum ausgeschöpft wird. Allerdings hat sie auch ihre Grenzen: ihre Saison ist temperaturabhängig. Ein Mord bei grimmiger Kälte hinterlässt weniger Spuren – denn dann ist insektenfreie Zeit !

Quellen:
1. Jens Amendt, Roman Krettek, Constanze Niess, Richard Zehner, Hansjürgen Bratzke: Made in Frankfurt. Mit Insekten dem Täter auf der Spur. In: Forschung Frankfurt 2/2000
2. Jens Amendt, Roman Krettek, Richard Zehner, Hansjürgen Bratzke: Praxis der forensischen Insektenkunde – zur Verwertbarkeit von Insektenfragmenten bei der Eingrenzung der Todeszeit. In: Archiv für Krimnologie, Band 214, August 2004
3. Jens Amendt, Richard Zehner, Hansjürgen Bratzke: Forensische Insektenkunde In: Deutsches Ärzteblatt, Heft 51-52, Dezember 2003
Jens Amendt et al.: Forensische Entomologie. In: Rechtsmedizin 2004.14

Alle Bilder von Jens Amendt angefertigt
3, 4, 9 unveröffentlicht
1, 2 aus 2004: Amendt J., Klotzbach H., Benecke M., Krettek R., Zehner R.: Weiterbildung: Forensische Entomologie. Rechtsmedizin 2: 127-140.
2, 5, 6, 7, 8 aus 2005: Amendt J., Krettek R., Zehner R: Insekten auf Leichen. Biologie in unserer Zeit 4: 232-240.