Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft

-Eine Entgegnung-


Von Bernd Walter, Königs Wusterhausen
Vorbemerkungen

Im Heft 3/2003 der „Kriminalpolizei" referiert Prof. Dr. Feltes, M.A. in einer fußnotenreichen Abhandlung unter dem allegorischen Titel „Frischer Wind und Aufbruch zu neuen Ufern ?" den derzeitigen Stand der Polizeiforschung und der Polizeiwissenschaft. Bekanntlich brach auch Columbus bei frischem Wind zu neuen Ufern auf. Statt - wie ursprünglich beabsichtigt- den Seeweg nach Indien zu finden, landete er in Amerika. Ein Umstand, über den die Ureinwohner selbst heute noch nicht so recht glücklich sind.

Feltes Bewertungen von Polizeiwissenschaft und Polizeiforschung kann man akzeptieren, teilen muss man sie nicht. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt sah Feltes sich veranlasst, meine Interpretation der Polizeipraxis (in der ich den Vorrang der Praxis vor der Theorie betonte) in einem zumindest bisher in der deutschen Polizei unüblichen Stil zu bewerten. Nachdem er nunmehr , - wohl wegen der

Bedeutung des Falles -, diese Wertungen unter FN 64 seines Beitrages wiederholt, nehme ich dies zum Anlass, auf einige Gesichtspunkte aus der Diskussion über die komplexen Problemfelder „Polizeiwissenschaft" und „Polizeiforschung" (und die damit zusammenhängende Frage einer möglichen Akademisierung des Polizeiberufs) kursorisch einzugehen, da sich Feltes Darstellung mehr auf den frischen Wind, weniger auf die Möglichkeit von Turbulenzen und Gegenwind konzentrierte.

Dabei geht es überhaupt nicht um die längst entschiedene Frage der Notwendigkeit von Polizeiforschung und die mögliche Konturierung einer Polizeiwissenschaft, sondern darum, was Polizeiforschung und Polizeiwissenschaft unter den gegebenen Umständen für eine beabsichtigte Akademisierung der Polizeiausbildung leisten können und in welcher Form bzw. welchem Umfang polizeiliche Arbeit durch wissenschaftliche Unterstützung optimiert werden kann. Wer anmahnt, bei dem sensiblen und nicht immer von Polemik freien Verhältnis von (Polizei) Wissenschaft und Polizeipraxis das „Ganze vor den Teilen" zu sehen (so immerhin im Kooperativen Führungssystem gelehrt), die Vor- und Nachteile eines Problems sorgfältig abzuwägen (so bei der polizeilichen Lagebeurteilung üblich), den volks- und betriebswirtschaftlichen Nutzen zu definieren (so bei der Kosten-Leis-tungs-Rechnung praktiziert) und vorhandene Konzepte auf Wirkungsweise und Effizienz zu überprüfen (so von der Implementations- und Evaluationsforschung gefordert), kann nicht immer damit rechnen, dass seine Meinung in einem auch von Partikular- und Standesinteressen bestimmten Prozess sachlich diskutiert wird.

Die Ausgangsbedingungen

Zunächst zu den Ausgangsbedingungen. Der Studienplan der Polizei-Führungsakademie für die einheitliche Ausbildung der Anwärter des höheren Polizeivollzugsdienstes definiert als vorrangiges Studienziel den Erwerb der Fähigkeit, größere Polizeidienststellen und Polizeieinheiten zu führen und in Führungsstellen den Einsatz der Polizei zu leiten. Besonderes Gewicht hat die Förderung der umfassenden Führungskompetenz und der sozialen Kompetenz. Die beruflichen Qualifikationen insbesondere im Führungsbereich führt die PDV 100 als die grundlegende Führungsvorschrift der deutschen Polizeien näher aus. Die IMK nannte in ihrem Beschluss vom 6.6.1997 als Essentialien für die Einrichtung einer internen Hochschule der Polizei neben Qualitätsverbesserung und Kostenneutralität ausdrücklich den Praxisbezug. Das „Programm Innere Sicherheit" stellt zur Fachhochschulausbildung der Polizei fest, dass einer „praxisbezogenen Ausbildung zu Lasten der Theorie mehr Raum gegeben werden (soll)". Die derzeitigen Evaluationen der Fachhochschulausbildung zielen in diese Richtung.



Gemeinhin soll nicht nur polizeiliche Planung zielorientiert sein. Tatsächlich gibt es aber keine „explizit formulierte und begründete" Berufsbilder für die deutschen Polizeien (z.B. im Gegensatz zur niederländischen Polizei); das Anforderungsprofil für den höheren Polizeivollzugsdienst orientiert sich weniger an „empirisch ermittelten tatsächlichen Aufgaben und Belas-tungen als vielmehr an jeweils ad hoc aufgestellten Kriterien und Zielvorstellungen." Liebl führt die Fächervielfalt im Fachhoch-schulstudium darauf zurück, dass es „an einer Definition eines polizeinotwendigen Wissens mit Schwerpunktsetzung fehlt." Von Experten wird beklagt, dass „es nach wie vor an einem wissenschaftlich fundierten und tragfähigen Anforderungsprofil für den Polizeibeamten der Zukunft mit allen daraus folgenden Unsicherheiten für die Gestaltung der Bildungsarbeit fehle." Allenfalls existieren einige heuristische Näherungswerte, die allesamt noch nicht durchgreifend evaluiert wurden.Und im übrigen gibt es kein einheitliches Berufsbild des Polizisten, denn „Polizisten haben viele verschiedene Berufe." Daraus ergibt sich zwangsläufig die Tatsache, dass es über die Faktoren der beruflichen Sozialisation eines Polizeibeamten keine empirischen Untersuchungen gibt.Allerdings zeichnen sich gerade in diesem Bereich Umorientierungstendenzen an.

Die Polizeiwissenschaft

Das Konstrukt „Polizeiwissenschaft" ist trotz jahrzehntelanger Diskussionen nicht verbindlich definiert. „Ein verbindliches wissenschaftliches Paradigma ist noch nicht zu erkennen und es existiert - zumindest in Deutschland - keine akademische Tradition." Selbst Experten ist unklar, ob es sich hierbei „um spezialisierte Kriminologie oder eine eigenständige Disziplin handelt." Die Unschärfe beginnt bereits bei der Wahl der Bezeichnungen. Sie reichen von Polizeiwissenschaft, Polizeiwissenschaften (Plural), angewandte Polizeiwissenschaft, Police Science, Polizeiwissenschaft i.e.S., Polizeiwissenschaft i.w.S. über polizeiliche Handlungslehre bis zur Sicherheitswissenschaft. Teils wird Polizei als Institution (Police), teils ihr Verhalten (Policing), manchmal auch beides diskutiert. Die theoretische und deskriptive Polizeiwissenschaft sowie die polizeiliche Handlungslehre stehen unverbunden nebeneinander. Neidhardt und Schulte weisen zwar zutreffend darauf hin, dass sich „die Definitionsversuche [...] in der Weite des Gegenstandsbereiches und der Einbeziehung von Anteilen anderer Disziplinen [...] erheblich unterscheiden." Wenn sie allerdings den Gegenstandsbereich der Polizeiwissenschaft als eine „interdisziplinäre, multi-methodische, theoretische und praktisch-angewandte, empirische und normative Wissenschaft" definieren, induzieren sie wegen der Unbestimmtheit und Weite ihres Ansatzes allenfalls zusätzliche Diskussionen.

Polizeiwissenschaftlichen Abhandlungen in den Kernbereichen polizeilicher Führung, nämlich Einsatzlehre, Führungslehre, Verkehrslehre und

Kriminalistik, sind Mangelware. Hier veröffentlichen nahezu ausnahmslos „Polizeipraktiker", was allerdings der Qualität keinen Abbruch tut. Die Praxis benötigt mehr Veröffentlichungen wie z.B. die bemerkenswerte Studie der FHS Villingen-Schwenningen über Simulationstechnik, in der als individuelle Erfahrung der Teilnehmer festgestellt wird, dass sie im realen wie auch im simulationsfiktiven Einsatz vieles richtig tun, dies aber nicht begründen können.

Es gibt keine grundlegende konsistente und ausgereifte Polizeitheorie, wiewohl es zweifelhaft ist, ob sie gerade bei diesem komplexen Untersuchungsgegenstand erwarten werden kann.

Zurzeit fehlen abgesicherte grundsätzliche Aussagen zu Anforderungen, Bedingungen, Erwartungen, Normen, Wertvorstellungen, sozialen Verhaltensweisen und Attitüden, die das System Polizei bestimmen. Es fehlt ferner der immer wieder beschworene interdisziplinäre Ansatz. Bereits 1983 wies Fijnaut darauf hin, dass es den westeuropäischen Polizeien nicht nur an generellen durchdachten Konzepten für die Ausübung der polizeilichen Funktionen, sondern auch an schlüssigen Vorstellungen über die Polizeiorganisation selbst und ihre Rolle im Staat und in der Gesellschaft fehlt.

Das System Polizei wird stark von der jeweiligen „Sicherheitskultur" (und den jeweiligen politischen Kräften) bestimmt, die bisher kaum untersucht wurden; im Bereich der Schutzpolizei, Bereitschaftspolizei, Verkehrspolizei, Kriminalpolizei existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Organisations- und Motivationskulturen. Die Gründe für das Fehlen einer allgemein akzeptierten Theorie der Polizei liegen tief. Es fehlen nämlich bereits das geeignete Instrumentarium und die Institutionen zur Erfassung des Systems der deutschen Polizeien, das sich immerhin aus 16 Länderpolizeien und 2 Bundespolizeien zusammensetzt. So wird auch bedauert, dass es „in der deutschen Forschungs-

tradition noch keine eingearbeitete Verfahren gibt, solch große und hochkomplexe Handlungseinheiten auch nur annähernd adäquat zu erfassen und zu analysieren: qualitative Verfahren verbleiben leicht in einer detailreichen Mikroanalyse, ohne diese wegen der Fülle der zu berücksichtigenden Variablen zu Aussagen mit mittlerer oder größerer Reichweite kondensieren zu können [...]." Polizeipraxis variiert nicht nur zwischen den einzelnen Bundesländern und unter verschiedenen Innenministern, sondern auch zwischen den polizeilichen Verwendungsbereichen, zwischen verschiedenen Polizeidienststellen einer Behörde und selbst innerhalb einer Behörde. Der Begriff „Polizei" ist inhaltlich uneindeutig.

Die Reichweite bestimmter Positionen sollte stets berücksichtigt werden. Beispielhaft hierfür ist die Bestandsaufnahme von Stock, wonach es zur Erkenntnissteigerung zunächst erforderlich wäre, „gegenwärtig noch verstreut in den verschiedenen Disziplinen [...] verborgenes Wissen zur Polizei zu erheben und zu systematisieren".

Das Polizeistudium

Für jedwede Art der beruflichen Qualifizierung hat sich der Grundsatz bewährt, dass das Berufsfeld die Rahmenbedingungen der Ausbildung bestimmt und nicht umgekehrt („form follows function"). Dabei hat Lange für den Bereich einer akademischen Polizeiausbildung als einer der ersten zutreffend auf die Frage hingewiesen, ob das „legitime Ziel einer höheren Qualifizierung der Ausbildung notwendigerweise damit einhergehen muss, hieraus die Notwendigkeit einer eigenen Wissenschafts- und Forschungsdisziplin begründen zu wollen." Ähnlich dezidiert äußerten sich Reichertz/ Schröer zur Eigenständigkeit von Polizeiforschung. Kaube hat unter dem bezeichnenden Titel „Jodeldiplom" den Drang deutscher Universitäten, neue Fächer zu erfinden, trefflich ironisiert. „Zuerst wird unter Absingen von Hymnen auf die Interdisziplinarität ein altes Gebiet aufgespalten [..] Dann werden die Spaltprodukte [...] wieder angereichert, um schließlich als Ausbildungsgänge für phantastische Karrieren offeriert zu werden [...]. Gemeinsam ist jenen Studiengängen [...], dass niemand von denen, die sie unterrichten, sie je studiert hat. Nicht selten handelt es sich um Leute, die in den Disziplinen, in denen sie sich allenfalls auskennen - etwa in der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften oder den Philologien -, selber nicht zum Zug gekommen sind." Dessen ungeachtet befinden sich die jahrzehntelangen Diskussionen um die Umwandlung der Polizei-Führungsakdemie in eine Polizeihochschule offensichtlich in der Schlussphase.

Warum befindet sich die bisherige Polizeiausbildung im permanenten Erklärungsnotstand? Aufgrund langjähriger internationaler Kontakte im Rahmen der Zusammenarbeit mit Sicherheitsexperten der EU sowie während eines längeren Aufenthaltes im Sicherheitsbereich eines EU-Beitrittsstaates habe ich nie Zweifel gleich welcher Art an der Qualität der deutschen Polizeien gehört. Bundesinnenminister Schily preist deutsche Polizeiarbeit gar als „Exportschlager" und ein sonst eher als polizeikritisch bekanntes Nachrichtenmagazin schließt sich dem enthusiastisch an.

Ob gerade in komplexen Lagen, in denen sich die Ausgangsbedingungen, die Entscheidungsregeln und die damit verbundenen Entscheidungsrisiken laufend ändern, Erfahrung, Automatismen und Intuition stets durch wissenschaftliche Methoden ersetzt werden können, ist zumindest in einigen interessanten Abhandlungen über Risikoabschätzung und Prozesssteuerung mit deutlich negativem Ergebnis untersucht worden. Obwohl die Polizei Bestandteil der inneren Verwaltung ist, übt sie nicht den typischen Gesetzesvollzug aus, der überwiegend auf programmstrukurellen sowie verfahrensmäßigen und organisatorischen Entscheidungsprämissen beruht. Die Besonderheiten polizeilicher Tätigkeit sind vielmehr differenzierte Aufgabenfelder, starke Konflikt- und Kritikbelastung, Handeln unter hoher physischer und psychischer Belastung, überraschende Veränderungen der Rahmenbedingungen im Einsatz, Konfrontation mit dem Nichtplanbaren, Sofortentscheidungen unter Zeitdruck oder bei unsicherer Information sowie Handeln in (irreversiblen) Krisensituationen.

Wer über Polizei redet oder schreibt, sollte deren Handlungsbedingungen „als eine eigene sinnkonstituierte und sinnkonstituierende Praxis" anerkennen. Einigen ist dies beispielhaft gelungen. „Wissenschaft und Polizei sind [...] zwei eigene und unabhängige Bereiche gesellschaftlichen Lebens. Wissenschaft und Polizei haben nicht nur andere Aufgaben und Ziele, sie verfügen zudem über andere Bewertungsstandards und Handlungslogiken. Die Wissenschaft kann z.B. oft ohne allzu großen Zeitdruck mit enormen Einsatz bestimmte Dinge ansehen und genau prüfen, die Polizei muss dagegen in der Regel unter enormen Zeitdruck und begrenzten Ressourcen anstehende Probleme lösen." In vielen Fällen muss der Polizist das natürliche Spannungsverhältnis zwischen der theoretischen Lösung und der realistischen Verwertungschance zu Ungunsten einer ausreichenden wissenschaftlichen Absicherung (so es diese überhaupt gibt) auflösen und mit einem Rest von Unsicherheit leben.

Selbst Wissenschaftler vermuten, dass „sich die `naive' Annahme, dass sie (die Wissenschaft, B.W.) ein per se überlegenes, weil objektiv-eindeutiges Wissen repräsentiere, nicht mehr halten (lässt). Stattdessen mehren sich Thesen [...] zur Relativität wissenschaftlicher Deutungs-muster." Nach Mayntz sind die „methodologischen Regeln der analytischen Wissenschaftstheorie sowohl deskriptiv als präskriptiv unzulänglich"; aus ihnen ist „wenig praktischer Nutzen zu ziehen". Auch empirische Sozialforschung hat „ihre Grenzen und Defizite."

Polizeiforschung

Dass Polizeiforschung insbesondere im Bereich der Kriminalwissenschaften viel geleistet hat, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Erste Ansätze zur Polizeiforschung etablierten sich erst in den sechziger Jahren in Deutschland und waren - dem Zeitgeist entsprechend - durch Fundamentalkritik an dem herrschaftsfunktionalen Charakter der Polizei gekennzeichnet. Aus einer vermeintlichen Frontstellung zwischen Polizei und Gesellschaftsveränderung entstand „das Gesinnungsspektrum der radikalen akademischen Kritik", das Polizisten „als Schinderknechte des Kapitals und des Faschismus identifiziert." Ungeachtet des Scheitern der Herrschaftsinstrumentthesen der reformerischen Polizeisoziologen wirken in Teilbereichen die Spannungen zwischen den Beforschten und Forschern, die durch eine tendenziell kritische Polizeiforschung ausgelöst wurden, bis in die heutigen Tage nach, obgleich sich durch die (qualitativ-)empirische Polizeiforschung ein Klimawechsel vollzogen hat. Gleichwohl scheint aber die Vermutung Behrs zuzutreffen, „dass Polizisten Wissenschaftlern nicht zutrauen, ihre Wirklichkeitsperzeption adäquat zu erfassen bzw. wiederzugeben."

Zurzeit gibt es „Forschung in, für und über die Polizei." Dass daran die Hoffnung geknüpft wird, dass „die Kämpfe zwischen `für' vs. `über' gekämpft sind" und es nunmehr um „die integrative Forschung" geht, ist zwar verständlich, allerdings sind selbst die Konturen eines interdisziplinären Ansatzes (noch) nicht zu erkennen. Zur Polizeiforschung in Deutschland vermerkt Ohlemacher zwar eine erstaunliche Fülle an Untersuchungen, charakterisiert die Fülle der Einzelbefunde ansonsten aber als „disparat" und zu wenig „theoriegeleitet"; auch vermisst er die „kumulative Absicht". Forschungsfragen der Polizei sind „nie konsequent diskutiert worden." Stock vermisst in der Soziologie der Polizei den disziplinenübergreifenden Blickwinkel sowie die anschließende disziplinenübergreifende Rezeption. Es wächst der Eindruck, dass die empirische Polizeiforschung in Deutschland außerhalb der Polizei zur Forschung von Kriminologen und Soziologen für Kriminologen und Soziologen geworden ist. Ackermann stellt kurz und bündig fest: „Die kriminologische Forschung ist kopflastig, die kriminalistische Forschung unterentwickelt."

Die Ausbildung für den höheren Polizeivollzugsdienst ist Führungsausbildung. Gerade aber Führung ist ein komplexes und abstraktes Konstrukt, und keine Führungstheorie konnte bisher die von ihr vertretenen Hypothesen eindeutig beweisen. Uhlendorff und Weiß resümieren unter Berufung auf Witt, dass „die Rolle der Wissenschaft zur Unterstützung praktischen Verhaltens zu überschätzen hieße, wollte man erwarten, dass zu allen Problemen der Führungsprozess geprüfte theoretische Systeme anzubieten seien. Nach wie vor werden weite Problemfelder der Realität durch persönliche Intuition, durch heuristisches Vorgehen und durch ad-hoc-Maßnahmen gelöst. Und selbst in denjenigen Punkten, in denen die Wissenschaft Unterstützung anzubieten vermag, handelt es sich nicht durchweg um eine empirische Theorie." Diese Defizite gelten auch für die Möglichkeit und Grenzen exakter Analyse- und Prognosemethoden im Bereich polizeilicher Konzeptionen und Strategien, für die modellhafte Untersuchung inexakter Methoden und Heuristiken auf der Grundlage von Erfahrung, Intuition und Kreativität sowie für die Generierung von Handlungsoptionen in den unter schiedlichen polizeilichen Lagen. Polizeiliche Planungstheorien, die komplexe und zumindest mittelfristige Prognosen jenseits der Spekulation ermöglichen, sind nicht erkennbar. So stellt dann auch Kube zur Vorhersageeffizenz von Kriminalitätsprognosen unter Hinweis auf die unbefriedigenden Ergebnisse der volkswirtschaftlichen Prognostik eher ernüchternd fest, dass „Prognoseverfahren in der Vergangenheit in Wissenschaft und Technik maßlos überschätzt wurden" und dass „Fehlschläge in Wirtschaft und Technik inzwischen zu einer realistischen Neubesinnung und kritischeren Ansätzen führten."



Schneider konstatiert bei Polizeiwissenschaft und Polizeiforschung „Fehler, die ihre Ergebnisse in Zweifel ziehen: ideologische Einseitigkeit, polemischer Eifer und methodologische Unzulänglichkeiten. Der deutschen Polizei-Wissenschaft stehen deshalb Selbstkritik und Bescheidenheit wohl an. Wissenschafts-Feindlichkeit auf seiten der Polizei ist ebenso wie Wissenschafts-Gläubigkeit fehl am Platze." Unverändert ist jede Auseinandersetzung mit der Polizei „interessengeleitet". Überdies werden in der Polizeiforschung zum Teil „immer noch die alten Schlachten des Positivismusstreites geschlagen." Wenn Feltes die Urgründe meines diesbezüglichen Ideologievorwurfes in der über 4o Jahre zurückliegenden Forschung vermutet, geht er vermutlich von einem anderen Ideologiebegriff aus. Laut Großem Duden-Fremdwörterbuch ist Ideologie eine weltanschauliche Konzeption, in der Ideen u.a. dem Erreichen politischer Ziele dienen. Derartige „Weltanschauungen" über die Polizei finden sich auch in zeitgenössischen Veröffentlichungem zuhauf. Das von Feltes zitierte Buch „Die Polizei als Organisation mit Gewaltlizenz" geht z.B. auf eine von Angehörigen der Bundesarbeits-gemeinschaft kritischer Polizisten initiierte Tagung zurück und hält im Inhalt, was es im Titel verspricht. Abgesehen davon, dass Polizei Zwang und nicht Gewalt ausübt (so bereits Max Weber), befasst sich das Werk in unangemessener Breite mit der Kontrolle der Polizei, da es sich bei dieser „um eine inhärent problematische Organisation" handelt (so der Hinweis auf der Rückseite des Buches). Immerhin ist dem Werk zu entnehmen, dass sich die GdP bereits in der Vergangenheit dezidiert gegen den u.a. von den „Kritischen Polizisten" geforderten Polizeibeauftragten und andere Kontrollorgane ausgesprochen hat. An anderer Stelle stellt Feltes fest (allerdings ohne Beleg und Hinweis, welche Polizei gemeint ist): „Die Polizei wird oft als Handlanger der Politik begriffen. Sie wird ihr quasi überlassen, und die Polizei übernimmt (manchmal zu eifrig) solche Erwartungen und gibt den gefügigen Büttel der Herrschenden." Älteren Polizisten ist die Diktion bekannt; bereits Vordenker der Polizei wie Dietel und Gintzel haben in ihren Veröffentlichungen die interessierte Öffentlichkeit von einer anderen Sichtweise überzeugt.

Nach Feltes bündelt die Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei „kritische Beiträge und Stellungnahmen zur Institution Polizei und zur Polizeiarbeit und veröffentlicht wichtige Daten." Bezeichnend für den unbekümmerten und agitatorischen Stil dieser Broschüre ist u.a. ein Beitrag von Stolle, der unter der bezeichnenden Überschrift „Kämpfer, die wir nicht brauchen" feststellt, dass die GSG 9 „in der Polizei ein Fremdkörper bleibt, der für die Wahrung der Sicherheit im Alltag nicht geeignet ist und dessen längst fällige Abschaffung kaum jemand bemerken würde". Und weiter: „Ein auf Frieden verpflichtetes Land hat für derartige `Kampfgemeinschaften' (gemeint sind Kommando Spezialstreitkräfte und Grenzschutzgruppe 9, B.W.) keinen Bedarf." Narr stellt in der gleichen Zeitschrift in seinen „Vierzehn Thesen zur Inneren Sicherheit" u.a. fest, dass „der deutsche Begriff des Rechtsstaats bis heute weithin darunter leidet, dass er immer noch in seiner wilhelminischen Prägung verstanden und gebraucht wird." Auch fordert er, das Feld demokratische Beteiligung, angefangen beim Demonstrationsrecht, auszudehnen, denn „sonst kann es geschehen, wie dies gegenwärtig vielfach der Fall ist, dass die Polizei als Büttel der herrschenden Politik und ihres repräsentativen Absolutismus permanent missbraucht wird."

Es gibt repräsentative Stimmen, die sich dezidiert gegen das verzerrende Bild der Polizei als Inkarnation des investigativen Schreckens wenden. So stellt Ahlf fest, dass „das Bild der Polizei als übermächtiger Leviathan" ersichtlich nicht mehr trägt und die „zentralen Bedrohungen der Inneren Sicherheit von der Gesellschaft selbst ausgehen." Die Polizei ist die einzige Institution dieser Gesellschaft, die unter Totalkontrolle steht. Ein Umstand, aus dem Hapkemeyer ein griffiges Fazit gezogen hat: „Angesichts dieser Kontrolldichte die Gefährdung der Grundrechte der Bürger primär bei der Polizei zu verorten [...] heißt schlicht einen Popanz aufzeichnen." „Das alte Bild von der Polizei als kasernierte und rechtliche gezähmte Gewaltreserve des Staates, als Knüppel, der notfalls aus dem Sack springt" verblasst angesichts der heutigen vielfältigen Aufgaben der Polizeien in Deutschland, die mit den hergebrachten Begriffen wie „Gefahrenabwehr" und „Strafverfolgung" schon längst nicht mehr zureichend umschrieben werden.

Schlussbemerkung

Vorstehende - aus Platzmangel nur kursorische Ausführungen - waren kein Plädoyer für oder gegen eine Verwissenschaftlichung des Polizeiberufes. Sie waren vielmehr die indirekte Aufforderung, das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis selbst zur Wissenschaft zu machen, um Möglichkeiten und Grenzen des Konstruktes „Polizeiwissenschaft" zutreffend beurteilen zu können. Umfassende Initiativen, das bisher vorhandene Handlungs- und Erfahrungswissen der Polizei im fruchtbaren Dialog zwischen Wissenschaft und Polizeipraxis konstruktiv-argumentativ und ganzheitlich zu bearbeiten, stehen noch aus, denn es bedarf „der systema-

tischen Erforschung aller wesentlichen Aspekte des polizeilichen Berufsfeldes, weil nur auf der Basis von Erfahrungswissen und wissenschaftlicher Erkenntnisse eine stetige Optimierung polizeilicher Arbeit möglich ist."69 Und letztlich „lässt sich für die deutschsprachige Forschungslandschaft bis heute kein konsistentes Wissen über die Polizei erkennen."70 Bei der gewünschten Systematisierung sind im Übrigen jene Verhaltensweisen herzlich unproduktiv, bei denen die trotzige Verbissenheit, mit der sich Praktiker auf ihr Erfahrungswissen berufen, allenfalls von der Hochfahrenheit jener übertroffen wird, die sich auf ein Wissenschaftsmonopol berufen.