Gemeinsames Sorgerecht – Auslegungsfehler bei Gewalt gegen Kinder

Von PD a.D. Rainer Becker, Dana Zelck und Prof. Dr. Mirko Faber, Berlin/Güstrow

 

1 Einleitung

 

In Art. 51 der in Deutschland für Politik, Verwaltung und Justiz seit 2018 rechtlich verbindlichen Istanbul-Konvention heißt es unter der Überschrift Gefährdungsanalyse und Gefahrenmanagement in Abs. 1:2„Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass eine Analyse der Gefahr für Leib und Leben und der Schwere der Situation sowie der Gefahr von wiederholter Gewalt von allen einschlägigen Behörden vorgenommen wird, um die Gefahr unter Kontrolle zu bringen und erforderlichenfalls für koordinierte Sicherheit und Unterstützung zu sorgen.“


Vor diesem Hintergrund wurde die Einrichtung von sog. Kinderschutz- oder Opferambulanzen oder vergleichbaren Einrichtungen mit einer anderen Bezeichnung in den Ländern zu einem sehr gut angenommenen, niedrigschwelligen Angebot. Dort können sich von Gewalt Betroffene ihre Verletzungen auf Wunsch vertraulich dokumentieren lassen, ohne gleich die Polizei einschalten zu müssen. Die Ambulanzen sind gewöhnlich organisatorisch an einem Institut für Rechtsmedizin einer Universitätsklinik angebunden. Dass Kinder in aller Regel in Begleitung eines Elternteils oder einer sonst autorisierten Begleitung zu den angebotenen Untersuchungen kommen, ist selbstverständlich.

 

 

2 Das Problem

 

Und hier beginnt ein gelegentliches Problem, das nach Eindruck der Verfasser seit Einführung der grundsätzlichen gemeinsamen elterlichen Sorge zugenommen hat und weiter zuzunehmen scheint. Das Land Berlin hat dies sogar verschriftet, indem festgelegt wurde, dass die Untersuchungen in den Kinderschutzambulanzen die Zustimmung der Personensorgeberechtigten bzw. eine Schweigepflichtentbindung für die Ärztinnen und Ärzte gegenüber dem zuständigen Jugendamt voraussetzt, falls sie nicht im Rahmen einer Inobhutnahme oder auf familiengerichtlichen Beschluss veranlasst wurde.


Hier stellt sich nun die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn ein Elternteil mit einem Kind mit Gewaltspuren in eine Kinderschutzambulanz kommt und das andere Elternteil verdächtig ist, das Kind misshandelt zu haben? Laut der benannten Vorgabe darf das Kind nicht ohne sein Einverständnis untersucht werden, und seine Bereitschaft hierzu dürfte vor dem Hintergrund der drohenden Strafverfolgungsmaßnahmen gegen null gehen.


Anders sähe es bei einer Notfallbehandlung aus, in der sofort gehandelt werden muss und bei der die Diagnose pp. schriftlich dokumentiert und festgehalten wird. Wenn die Ermittlungsbehörden hiervon Kenntnis erhalten, können sie gemäß § 94 StPO die Herausgabe derartiger Beweismittel für das weitere Verfahren verlangen. Doch dazu muss natürlich erst einmal das Jugendamt oder eine Ermittlungsbehörde Kenntnis vom Tatverdacht haben und diesen dem Gericht mitteilen. In anderen nicht ganz so akuten Fällen wird dann nicht selten versucht, das ablehnende Elternteil doch noch von der Notwendigkeit seiner Zustimmung zu Untersuchung seines Kindes zu überzeugen.


Das Land Berlin löst das Problem, indem in allen derartigen Fällen Untersuchungen von Kindern nur über das Jugendamt erfolgen dürfen. Dies bedeutetet, dass sich das Elternteil, welches das Kind vorstellen möchte, sich immer erst an das Jugendamt zu wenden hat. Ist das andere Elternteil nicht mit der Untersuchung einverstanden, erfolgt in der Regel eine vorläufige Inobhutnahme des Kindes gemäß § 42 SGB VIII. Erfahrungsgemäß dauert das beschriebene Prozedere 1 bis 1,5 Tage, so das Spuren am kindlichen Körper zumindest nicht mehr frisch sein dürften.


Durch das Jugendamt oder die Staatsanwaltschaft muss bei Gericht die Einsetzung eines Ergänzungspflegers gemäß § 1809 BGB beantragt werden, der dann wegen der „Befangenheit“ des Elternteils oder sogar beider Elternteile an seiner/ihrer Stelle die Entscheidung über die Durchführung der Untersuchung trifft – was nicht bedeutet, dass der Untersuchung in jedem Fall zugestimmt wird. Während dieser Zeit ist vorbehaltlich der Zustimmung des Ergänzungspflegers nicht auszuschließen, dass sich einige wichtige Verletzungsspuren am Körper eines Kindes bis dahin verändert haben können oder nicht mehr eindeutig zu diagnostizieren sind. Problematisch ist darüber hinaus, dass Elternteile, die (noch) Zweifel haben, ihren Verdacht zu melden, lieber erst nach Vorliegen einer rechtsmedizinischen Einschätzung entscheiden wollen, ob sie überhaupt das Jugendamt oder sogar die Polizei einschalten oder auch nicht. Dies gilt auch in Hinblick auf die Tatsache, dass Elternteilen, die den anderen Elternteil wegen des Verdachts auf Misshandlung oder sexuellen Missbrauch anzeigen, wenn sich der Verdacht nicht beweisen lässt, nicht selten vom Jugendamt oder Familiengericht eine „Bindungsintoleranz“ vorgehalten bekommen und u.U. sogar ihr Sorgerecht für ihr Kind, das sie doch schützen wollten, verlieren können.


In Anknüpfung an die Istanbul Konvention ist zu konstatieren, dass von Gewalt betroffene Frauen durch das Vorhalten von Opfer- oder Gewaltschutzambulanzen in der Tat niedrigschwellig Hilfe angeboten bekommen. Bei betroffenen Kindern kann daher bei gemeinsam ausgeübter Sorge, was mittlerweile der Regelfall ist, jedoch nicht mehr von einem niedrigschwelligen Hilfeangebot gesprochen werden.

 

 

3 Die Argumentation hinter dem Problem


Die Verfasser vermögen dabei dem Gedanken, dass es in derartigen Fällen überhaupt um das schützenswerte Sorgerecht des Tatverdächtigen für sein Kind geht, nicht zu folgen. Die elterliche Sorge ist nicht nur ein aus Art. 6 GG abgeleitetes Recht der Elternteile „an ihrem Kind“, sondern zunächst einmal eine Verpflichtung der Eltern, für ihr Kind bestmöglich zu sorgen, seine Entwicklung zu fördern und es vor allen Gefahren zu schützen. Die Weigerung, einer medizinischen Untersuchung zuzustimmen, in der es u.a. darum geht festzustellen, um welche Art von Verletzungen es sich handelt und was ihre Ursachen sein könnten, hat jedoch nichts mit der Abwehr von dem Kind drohenden Gesundheitsgefahren, also elterlicher Sorge zu tun. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der oder die Tatverdächtige sich auf sein/ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß den Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG zurückzieht, um sich nicht selbst zu belasten. Daher passen Anweisungen oder auch Interpretationen von Medizinern, dass ausnahmslos immer beide Sorgeberechtigten ihr Einverständnis geben müssen, um ein Kind in einer Kinderschutzambulanz medizinisch untersuchen zu lassen, nicht, wenn es Grund zu der Annahme gibt, dass ein oder sogar beide Elternteile befangen sein dürften, weil sie im Verdacht stehen, schwere Straftaten gegen ihr Kind begangen zu haben.



Ähnlich erfolgt die Argumentation von Kritikern des sog. interkollegialen Austausches von Kinderärzten bei Anhaltspunkten auf eine Kindeswohlgefährdung. Auch hier wird verlangt, dass bei gemeinsamer Sorge beide Elternteile nur gemeinsam darüber entscheiden können, ob sich der Kinderarzt ihres Kindes mit einem Kollegen über zurückliegende Diagnosen austauschen darf. Auch hier wird nicht selten – sogar von Datenschutzbeauftragten – das Sorgerecht mit angeführt, obwohl das aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleitete Recht eines Verdächtigen, sich nicht selber belasten zu müssen, hiermit überhaupt nichts zu tun hat.


Und die unverzügliche Einbeziehung des Jugendamtes und das Berufen eines Ergänzungspflegers mag zwar auf Grund der sich abzeichnenden familiären Konflikte der Erziehungspersonen untereinander und mit ihren Kindern geboten erscheinen, aber eben nicht unter Bezugnahme auf das Sorgerecht.


Die Verfasser fragen sich, warum es auch unter Richtern so oft zu begrifflichen Fehlauslegungen oder Überdehnungen kommt, die insbesondere für betroffenen Kinder fatale Folgen haben können.

 

 

4 Nur ein Problem?


Es beginnt bereits bei dem Begriff Kindeswohlgefährdung. So reicht es Familienrichtern – logisch nachvollziehbar – grundsätzlich nicht aus, nach häuslicher Gewalt gegen den anderen Elternteil abstrakt anzuführen, dass dadurch wahrscheinlich auch die Kinder des betroffenen Paares gefährdet sein könnten. In aller Regel verlangen sie konkrete an Tatsachen festzumachende Hinweise auf die dem Kind bei Umgängen drohenden Gefahren. Und so verlangen sie völlig zu Recht belastbarere Berichte von Polizei und Jugendamt.


Nicht nachvollziehbar ist, dass oftmals und zu oft Gewalt gegen das andere Elternteil nicht als Kindeswohlgefährdung angesehen wird, wenn die Gewalt nur gegen das andere Elternteil und nicht (auch) gegen das Kind ausgeübt wurde. Mitarbeiter der Jugendämter und auch Familienrichter lassen hierbei außer Acht, dass § 10b JSG unter der Überschrift „Entwicklungsbeeinträchtigende Medien“ festlegt, dass hierzu bereits übermäßig ängstigende, Gewalt befürwortende oder das sozialethische Wertebild beeinträchtigende Medien zählen. Warum erkennt niemand, dass das hilflose Miterleben psychischer oder physischer Gewalt eines körperlich überlegenen Elternteils gegen das andere Elternteil doch wohl mindestens ebenso entwicklungsbeeinträchtigend sein dürfte wie das Konsumieren von in der Regel gespielten Darstellungen von Gewalt in Bild und Ton in Medien?


Wenn es jedoch darum geht, zu entscheiden, ob eine zumindest zeitweilige Kontaktaussetzung oder -reduzierung zum schlagenden Elternteil erfolgen soll, wird dagegen in aller Regel möglicherweise eigenen Erziehungsklischees oder pädagogischen Ideologien gefolgt und abstrakt festgestellt, dass ein (zeitweiliger) Kontaktabbruch das Kindeswohl gefährden würde, weil ein Kind beide Eltern braucht und liebt – und dies ohne die sonst geforderten konkreten an Tatsachen festzumachenden Hinweise. Dies ist wiederum nicht nur logisch nicht nachvollziehbar, dies stellt sogar einen logischen Bruch dar. Selbst Gutachter scheinen nicht selten derartigen Narrativen zu folgen, warum auch immer.

 

5 Schluss


Unsere Sprache ist bei dem Versuch, Recht zu finden und zu sprechen ein besonders wichtiges Hilfsmittel. Alle die als Richter, Jugendamtsmitarbeiter oder Polizeibeamte mit Sachverhalten zu tun haben, in denen es um das Beschreiben und Bewerten menschlichen Verhaltens und Erlebens geht, sollten sich dies immer wieder neu bewusst machen und besonders sorgfältig und bewusst mit unserer Sprache umgehen.


Es ist gut, dass auch in Berufszweigen, die nur gelegentlich mit psychischen Störungen und Erkrankungen zu tun haben, Grundwissen hierüber vermittelt wird. Es bleibt aber Grundwissen und vermag andere nicht selten unbewusst zu manipulieren. Es dürfte selbstverständlich sein, dass auch Richter, Jugendamtsmitarbeiter und Polizeibeamte manipulierbar sind.


Dabei ist es erschreckend, wenn einem Elternteil, das häusliche Gewalt durch das andere Elternteil anzeigt, hieraus abgeleitet nicht selten eine vorsätzliche Eltern-Kind-Entfremdung vorgehalten wird, weil sie/er Probleme damit hat, das Kind zu Umgängen oder Besuchen einem Schläger bzw. einer Schlägerin anzuvertrauen. Noch erschreckender ist es, dass man nicht einmal auf den Gedanken zu kommen scheint, dass doch zuvor und gerade das schlagende Elternteil die Autorität des geschlagenen Elternteils dem gemeinsamen Kind gegenüber untergräbt und so seine eigene Eltern-Kind-Entfremdung betrieben und bewiesen hat.


Die Verfasser könnten weitere Beispiele für gefährliche sprachliche Umdeutungen oder Missverständnisse durch einen inflationären Gebrauch von Fachtermini anführen wie symbiotische Beziehung, Münchhausen by Proxy und vieles mehr, alles zweifellos mögliche Störungen/Erkrankungen, aber ist es dabei realistisch, dass dies neuerdings „Massenphänomäne“ zu sein scheinen?


Und die berechtigte oder zumindest nachvollziehbare Empörung der davon Betroffenen, derartige Störungen oder Erkrankungen vorgehalten zu bekommen dann ebenfalls als Bestätigung des Vorhaltes zu bewerten, ist skandalös.

 

Anmerkungen

 

  1. Rainer Becker ist ehemaliger Polizeidirektor und Fachbereichsleiter sowie Dozent an der heutigen Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes Mecklenburg-Vorpommern (FHöVPR) sowie von 2013 bis 2020 Vorsitzender, seither Ehrenvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe – die ständige Kindervertretung e.V.; Dana Zelck ist Journalistin und seit 2005 als freie Redakteurin beim NDR-Fernsehen und -Hörfunk tätig. Sie arbeitet seit 2022 im Bereich PR und Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Kinderhilfe gemeinsam mit Rainer Becker in den Projektbereichen Justiz, Polizei, Jugendämter und Kinderrechte; Prof. Dr. Mirko Faber ist Dozent an der FHöVPR und lehrt u.a. Eingriffsrecht.
  2. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) am 12.10.2017 ratifiziert. Das Übereinkommen trat am 1.2.2018 in Kraft (BGBl 2017 II, 1026).