Die Sachbearbeitung von Sexualdelikten in Schleswig-Holstein

Von KHK Uwe Keller, LKA Schleswig-Holstein, Geschäftsführer AG Sexualdelikte

Der Artikel „Vortäuschung von Sexualdelikten“ in „Die Kriminalpolizei“, Ausgabe 2/2015, hat bei uns – den Mitgliedern einer Arbeitsgruppe zur Bearbeitung von Sexualdelikten in Schleswig-Holstein – Befremden ausgelöst. Die Grundannahme, dass ein großer Teil der Taten vorgetäuscht sei und ein erheblicher Prozentsatz von zu Unrecht verurteilten Männern in Gefängnissen sitzt, wird weder durch wissenschaftliche Aussagen belegt noch entspricht es unseren Erfahrungen.

Zu den im Artikel beschriebenen Ermittlungshandlungen ist festzustellen, dass sie vielfach nicht den geltenden Standards entsprechen. Beispielhaft sind hier insbesondere die vorgestellten Vernehmungstechniken genannt. Zudem werden von den Autorinnen Behauptungen aufgestellt, die wissenschaftlich nicht belegt sind.
Eindeutige Körpersignale, die auf Lügen hinweisen, gibt es nicht! Die im Artikel beschriebenen Symptome können ebenso gut eine Erklärung für andere Ursachen sein. Es ist schlicht unseriös, den Leserinnen und Lesern des Artikels zu vermitteln, dass das Achten auf eindeutige Lügensignale hilft, die Aussage eines zu Vernehmenden zu beurteilen.
Wir möchten im Folgenden das wichtige und sensible Thema der Bearbeitung von Sexualdelikten bei Polizei und Justiz aufgreifen und den seit vielen Jahren in Schleswig-Holstein gelebten Standard bei Polizei und Staatsanwaltschaft in diesem Deliktsfeld darstellen.
Schon Anfang der 90er Jahre gab es im nördlichsten Bundesland Bestrebungen, die Polizeiarbeit in diesem Themenfeld durch entsprechende Weiterbildungen zu professionalisieren. Gleichzeitig wurde die Bedeutung der Vernehmungen in diesem Deliktsfeld erkannt und Vernehmungsmethoden durch Hinzuziehung von Fachleuten in den Fokus genommen. Ein wichtiges Ergebnis war die Erkenntnis, dass bei Sexualdelikten videodokumentierte Vernehmungen die beste Methode sind, um authentische, unverfälschte und überprüfbare Aussagen zu erlangen und zu konservieren. Allein 2015 wurden ca. 900 solcher Vernehmungen durchgeführt.
Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen entstand die Idee einer Leitlinie, in der die erarbeiteten Standards zusammengefasst und erläutert wurden.

Berichtigung


In unserer Dezember-Ausgabe hatten wir im Bericht der Autorin Sigrid Hermann-Marschall unter dem Titel "Die Unsichtbaren – Über die Strategie der Gülen – Bewegung in Deutschland" verbreitet, dass Herr Enver Yücel und die BAU International Berlin University of Applied Sciences, Berlin der Gülen-Bewegung nahestehen und Herr Enver bereits 130 Gülen-nahe
sogenannte "Charter Schools" in den USA verwaltet hatte.
Hierzu stellen wir fest: Eine solche Nähe zur "Gülen-Bewegung" besteht nicht. Auch hat Herr Enver Yücel niemals Gülen-nahe "Charter Schools" in den USA verwaltet.

Der Verlag


Vor dem Hintergrund der langjährigen und umfassenden Erfahrungen mit der Arbeit in diesem Deliktsbereich soll die zentrale Aussage des Artikels, es handele sich bei diesen Straftaten überdurchschnittlich häufig um bewusste Falschbelastungen unschuldiger Männer, nicht unkommentiert stehen bleiben.
Selbstverständlich gibt es auch im Bereich der Sexualdelikte – wie in anderen Deliktsbereichen auch – falsche Verdächtigungen. Bisherige Untersuchungen, einschließlich der in dem Artikel zitierten Polizeistudie des Bayerischen LKA geben allerdings keinen Anlass, jeder Strafanzeige mit Sexualbezug mit Misstrauen zu begegnen. „Gefühlte“ Falschbeschuldigungen deuten auf eine unprofessionelle Haltung hin. Dementsprechend wird auch in der Leitlinie der polizeiliche Auftrag formuliert, die Sachbearbeitung vorurteilsfrei, neutral und sachlich zu führen. Nur durch eine solche Haltung wird vermieden, dass die Ermittlungen unbewusst in eine gewünschte Richtung gesteuert werden. Das schließt nicht aus, Widersprüche aufzuzeigen, wenn sie mit Fakten unterlegt werden können. Eine endgültige Bewertung des Ermittlungsergebnisses ist der Staatsanwaltschaft vorbehalten.

Die Leitlinie


Die in Schleswig-Holstein entwickelte und im Juni 1998 eingeführte „Leitlinie für die Bearbeitung von Sexualdelikten“ ist bundesweit bekannt und hat die entsprechenden Regelungen anderer Bundesländer maßgeblich beeinflusst. Sie wurde auf entsprechende Anfragen mehrfach ins europäische Ausland verschickt. Grundlage war seinerzeit in Schleswig-Holstein ein Schwerpunktprogramm zur Verfolgung von Gewaltdelikten gegen Frauen und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Die Leitlinie hat Erlasscharakter, so dass ihre Umsetzung für alle Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in Schleswig-Holstein bindend ist.
Einen inhaltlichen Schwerpunkt der Leitlinie bilden die in Zusammenarbeit mit Aussagepsychologen entwickelten Standards bei der Opfervernehmung, weil dieser für die weiteren Ermittlungen und auch für das gesamte Strafverfahren eine zentrale Bedeutung zukommt.
In Schleswig-Holstein werden grundsätzlich audiovisuelle Vernehmungen durchgeführt wenn es sich um Sexualdelikte oder Misshandlung von Schutzbefohlenen handelt (§ 58a StPO).
In der Leitlinie wird ausführlich beschrieben, sowie durch einen Ablaufvorschlag konkret dargestellt, wie eine solche Vernehmung aus rechtlichen sowie aussagepsychologischen Gründen ablaufen soll. Ziel ist es dabei, eine vom Vernehmungsbeamten unbeeinflusste, umfangreiche und für die weiteren Ermittlungen vollständige sowie nachvollziehbar dokumentierte Aussage des Opfers für alle Prozessbeteiligten zu erhalten. Es soll, insbesondere bei kindlichen Zeugen, eine einmalige polizeiliche Anhörung/Vernehmung angestrebt werden. Zentrales Element dabei ist der freie Bericht des Opfers. Weitere notwendige Inhalte, Nachfragen etc., werden mit Hilfe offener sowie anderer, nicht suggestiver Fragetechniken, erlangt.
Auf die Besonderheiten bei der Anhörung von kindlichen Opfern, die besonders anfällig für Suggestion sind, wird in der Leitlinie u.a. mit einem speziellen Ablaufvorschlag eingegangen. Diesen, unter Mitwirkung von Fachleuten erarbeiteten Vernehmungsstandards, entsprechen die in dem genannten Artikel vorgeschlagenen Vorgehensweisen nicht annähernd.
Sie sind als überholt abzulehnen!

Zur Fortbildung:


Die Einführung der „Leitlinie“ legt als Erlass einheitliche Standards für polizeiliches Handeln in diesem Deliktsbereich fest und setzt vor allem für Ermittlungstätigkeiten in der Phase nach dem polizeilichen Sicherungsangriff spezialisierte Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter voraus.
Deren Fortbildung wurde den drei „Säulen“ polizeilicher Ermittlungen angepasst, nämlich dem Opfer, dem Tatort und dem Tatverdächtigen, mit dem Ziel, in jedem der drei Bereiche zu einem objektiven Ermittlungsergebnis zu gelangen.
Jede neue Sachbearbeiterin und jeder Sachbearbeiter in dem Deliktsfeld absolviert ein zweiwöchiges „Basismodul Sexualsachbearbeitung“ und im zeitlichen Abstand von ca. sechs Monaten ein einwöchiges „Aufbaumodul Sexualsachbearbeitung“. Zusätzlich findet einmal jährlich als regelmäßige Fortbildung für alle Sexualsachbearbeiter des Landes eine „Fachkonferenz Sexualsachbearbeitung“ statt, es werden aktuelle Themen des Deliktsbereiches angesprochen. Neben Sexualsachbearbeiterinnen und Sexualsachbearbeitern nehmen auch Sexualdezernentinnen und Sexualdezernenten der Staatsanwaltschaften sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von spezialisierten Dienststellen der Landespolizei (KSKS, OFA/VICLAS, KTU pp.) teil.
Im Basismodul liegt der Schwerpunkt neben speziellen Rechtsthemen und Fragen des Sachbeweises auf dem Personalbeweis in Form der videodokumentierten Vernehmung bzw. Anhörung von Opfern sexueller Gewalt, die auf allen Kriminalpolizeidienststellen des Landes Standard ist und im Seminar in Theorie und Praxis behandelt wird. Regelmäßig wird durch eine Aussagepsychologin über Vernehmungsmethoden referiert, wobei der Umgang mit Kindern und Jugendlichen einen besonderen Schwerpunkt darstellt.
Weiterhin sind alle sonstigen Institutionen vertreten, die im langwierigen Prozess des Strafverfahrens und auch danach bei der individuellen Verarbeitung des Erlebten eine Rolle spielen. Beispielhaft: Opferhilfeeinrichtungen wie der „Notruf“, Vertreterinnen der psychosozialen Prozessbegleitung sowie des Kinderschutz-Zentrums und des Jugendamtes.
Nach dem Basismodul haben die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter Zeit und Gelegenheit, das Erlernte in der Praxis anzuwenden.
Das Aufbaumodul bietet sodann nach einer Phase der Sachbearbeitung die Möglichkeit zur Reflektion und Diskussion von Sachverhalten und Maßnahmen im geschützten Raum der Gruppe. Ein weiterer, wesentlicher Inhalt des Aufbaumoduls ist der Umgang mit dem Tatverdächtigen der aus kriminalistischer, kriminologischer und psychologischer Sicht thematisiert wird.
Zur Kompensation dienstlicher Belastungen durch die Bearbeitung von Sexualdelikten sind Angebote im Bereich Betreuung/Beratung/Supervision für jede Sachbearbeiterin und jeden Sachbearbeiter kurzfristig verfügbar.
Unabhängig von der persönlichen Einschätzung des Sachverhaltes durch die Sachbearbeiterin und den Sachbearbeiter werden Opferschutzbelange beachtet und Geschädigte auf die Opferschutzrechte hingewiesen.
Regelmäßig sind Staatsanwältinnen und Staatsanwälte als Teilnehmer und Referenten an der Fortbildung beteiligt. Das hat sich als überaus konstruktiv und bereichernd für die Zusammenarbeit erwiesen.

Arbeitsgruppe Sexualdelikte beim LKA Schleswig-Holstein:


Nach Fertigstellung der Leitlinie und Implementierung der Fortbildung erwies es sich als notwendig, ein landesweites, interdisziplinäres Gremium einzurichten, um die Qualitätssicherung zu gewährleisten und die Kolleginnen und Kollegen regelmäßig im Wege eines Newsletters über aktuelle Entwicklungen zeitnah zu informieren.
Die Arbeitsgruppe setzt sich aus fünf Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamten sowie zwei Staatsanwältinnen zusammen. Sie legt seit über 10 Jahren Standards für die Bearbeitung von Sexualdelikten in Schleswig-Holstein fest. Die Mitglieder sind sämtlich nebenamtlich in der AG tätig und in ihrem Hauptamt in unterschiedlichen Funktionen mit diesem Deliktsbereich befasst.
Alle polizeilichen Mitarbeiter der AG sind ausgebildete spezialisierte Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter von Sexualdelikten und wirken/haben an der Fortbildung von Kolleginnen und Kollegen mitgewirkt.
Organisatorisch ist die AG beim LKA Schleswig-Holstein angebunden und wird nach außen in erster Linie von ihrem Geschäftsführer vertreten. Seit Gründung der AG ist die Aktualisierung der Leitlinie in Zusammenarbeit mit den spezialisierten Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter der Kriminalpolizei fester Bestandteil ihrer Arbeit.

Fazit


Die Bearbeitung von Sexualdelikten gehört für Polizei und Staatsanwaltschaft mit zu den anspruchsvollsten Tätigkeiten. Es handelt sich in aller Regel um komplexe Sachverhalte, für die objektive Beweismittel nicht vorhanden sind. Zudem stehen die Delikte im Fokus der Öffentlichkeit und werden hoch emotional behandelt. Umso wichtiger ist es, dass die Strafverfolgungsbehörden mit großem Sachverstand, unter Anwendung neuester Vernehmungsformen und mit einer professionellen, neutralen und unvoreingenommenen Haltung vorgehen.

AG Sexualdelikte beim LKA Schleswig-Holstein


KHK Uwe Keller LKA SH, Geschäftsführer
Oberstaatsanwältin Ulrike Stahlmann-Liebelt, StA Flensburg
Staatsanwältin Barbara Gradl-Matusek, StA Kiel
KHK Michael Haubrich, Polizeidirektion für Aus- und Fortbildung KHK’in Heide von Petersdorff, LKA SH
KHK’in Maike Bünning, KPSt Rendsburg EKHK Michael Schildt, BKI Lübeck