Atomterrorismus

Eine Bewertung von Risiken, Motiven und Gegenstrategien

5. Atomterroristische Bestrebungen


Die relative Unwahrscheinlichkeit bedeutet auch nicht, dass Terroristen sich zu keinem Zeitpunkt für Atomwaffen interessiert oder um deren Erlangung bemüht hätten.
Jedenfalls für drei Terrororganisationen, nämlich die japanische Sekte Aum Shinrikyo, Al Kaida und jüngst den sogenannten IS, ist belegt, dass diese den Einsatz von Atomwaffen als Ziel erklärt bzw. gerechtfertigt haben. Jedenfalls zwei von ihnen – Aum und Al Kaida – haben ihn bisher auch praktisch zu erreichen versucht (vgl. Bunn (2010), S. 13–15; Bunn (2014), S. 176–177; Mowat-Larssen (2010), S. 5; Allison (2006), S. 37–38; The Independent (2015, 23. Mai)).
Al Kaida erklärte den Einsatz etwa durch eine Erklärung von Osama bin Laden im Jahre 1998 und eine seines Stellvertreters Ayman Zawahiri im Jahre 2001 zum Ziel (vgl. Allison (2010), S. 2). Für Al Kaida sind auch beständige Bemühungen zur Erlangung von atomaren, chemischen und biologischen Waffen bekannt (vgl. Mowat-Larssen (2010), S. 11–28); darunter jedenfalls ein Fall, in dem Al Kaida sich tatsächlich um die Erlangung atomwaffenfähigen Materials bemüht hat – und zwar offenbar unter Mitwirkung eines bis heute nicht identifizierten Experten aus dem pakistanischen Atomprogramm –, auch wenn die Bemühungen über ein Anfangsstadium nie hinausgekommen zu sein scheinen. Auch Aum Shinrikyo hat praktische Versuche unternommen, atomwaffenfähiges Material zu erwerben, wenn auch ebenfalls erfolglos (vgl. Bunn (2014), S. 176).
Die IS-Milizen erklärten Anfang 2015 in einem Propagandamedium, an Atomwaffen interessiert zu sein (vgl. The Independent (2015, 23. Mai)). Sie verkündeten dabei zugleich, dieses Ziel durch den Kauf der Bombe bei ihnen loyalen bzw. korrupten pakistanischen Beamten innerhalb eines Jahres verwirklichen zu werden. Tatsächlich feststellbare Aktivitäten des IS in Richtung von nuklearen Waffen beziehen sich freilich nicht darauf, sondern allein auf den Diebstahl radioaktiven Materials aus eroberten Orten mit entsprechenden zivilen Beständen – ein Vorgehen, das zumindest nach jüngster Einschätzung des australischen Geheimdienstes mittlerweile zu hinreichend großen Beständen solchen Materials in den Händen des IS für eine „schmutzige Bombe“ geführt haben könnte (vgl. The Independent (2015, 10. Juni)). Einzige auf eine Atombombe gerichtete bekannt gewordene Aktivitäten des IS sind eher theoretisch wirkende Pläne, das (vermutete) Atomwaffen-Know-how des schon aus konfessionellen Gründen mit dem IS tief verfeindeten Iran zu „stehlen“ (vgl. The Sunday Times (2014, 05. Oktober)). Daneben findet sich alleine die Videoaufzeichnung eines Mitarbeiters eines belgischen nuklearen Forschungscenters durch IS-inspirierte Täter als tatsächlich entfaltete Aktivität, bei der freilich der genaue Grund der Aufnahmen nie sicher geklärt werden konnte (vgl. Bunn (2016), S. 18). Vereinzelte Zeitungsmeldungen über ein aktives und finanziell bestens ausgestattetes Kaufprogramm für Atomwaffen (vgl. WELT (2016), 07.07.) haben insoweit bisher keine Bestätigung aus Sicherheitskreisen erhalten. Atomterroristische Ambitionen werden dem IS aber auch von Sicherheitsexperten durchaus zugetraut (vgl. Luxembourg-Forum (2016)). Trotz des Fehlens von eindeutig auf Atomterrorismus gerichteten Aktivitäten wird man den IS aufgrund seiner Größe und seiner Ziele daher als derzeit wahrscheinlichsten Kandidaten für atomterroristische Bestrebungen anzusehen haben (vgl. Bunn (2016), S. 17).
Diese Einschätzung wird dabei im politischen Bereich von der Staatengemeinschaft, insbesondere aber den USA geteilt (vgl. The Independent (2016), 1.4.).
Für eine vierte Organisation schließlich, nämlich tschetschenische Terroristen, sind atomare Ambitionen oder Bemühungen zumindest wiederholt berichtet worden (vgl. Bunn (2014), S. 177).
Bedenkt man, wie viele Terrororganisationen in den letzten 25 Jahren international aktiv waren und wie viele Terroranschläge mit konventionellen Waffen und Sprengstoff durch diese weltweit verübt wurden, erscheint die Zahl der dokumentierten Versuche, Atomterrorismus zu betreiben, tatsächlich überschaubar. Dies stützt die genannte zusammenfassende Einschätzung der dänischen Geheimpolizei sowie die Beachtung des Risikos als lediglich abstrakt durch die herrschende Lehre.

6. Mögliche Motive für Atomterrorismus und deren Bedeutung


Warum genau aber ist das Risiko eher gering? Was genau hindert Terroristen an dem Einsatz von Atomwaffen bzw. hält sie schon von derartigen Versuchen ab?
Ohne Zweifel werden die bereits benannten hohen technischen Hürden hier ein wesentlicher Aspekt sein. Was nur sehr schwer und durch sehr wenige erreicht werden kann, ist selten oben auf der Agenda.
Es werden freilich noch andere Gründe für dieses eher überschaubare Interesse diskutiert. Und Gegner und Verfechter der „Gefährlichkeitsthese“ geben gerade auf diese Frage dabei ganz unterschiedliche Antworten:
Die Gegner meinen, Terroristen hätten an Atomwaffen wahrscheinlich gar kein Interesse, da diese ihnen bei der Erreichung ihrer Ziele mehr schaden als nützen würden.
Unterstellt, dass auch Terroristen zumindest insoweit rational handeln, als sie wie jeder andere auch abwägen, ob bestimmte Mittel zur Erreichung ihrer Ziele geeignet sind, ist das Vorhandensein von Motiven für Atomterrorismus mit diesem Argument in der Literatur wiederholt bestritten worden. Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass ein atomarer Terroranschlag sowohl mit Blick auf die im Zweifel massiven Reaktionen der Staatengemeinschaft als auch mit Blick auf den auch für Terroristen wichtigen Zuspruch zu ihren Aktionen von Anhängern und Sympathisanten gänzlich kontraproduktiv wäre. Atomterrorismus würde die politischen Ziele von Terroristen nicht fördern, sondern wegen massiver Erhöhung der Verfolgungsintensität und breiter Ablehnung auch unter möglichen Sympathisanten vielmehr gefährden (vgl. Martin (2014), S. 196–198; Frost (2005), S. 45–62).Die Befürworter der „Gefährlichkeitsthese“ hingegen sehen einen wesentlichen Grund für das offenbar geringe Interesse in der kontinuierlichen Verbesserung der Sicherheitsstandards für Atomwaffen und atomwaffenfähiges Material sowie in dem andauernd hohen Verfolgungsdruck, dem gerade diejenigen Terrorgruppen ausgesetzt sind, die überhaupt als Kandidaten für Atomterrorismus infrage kommen (vgl. Bunn (2014), S. 184–185; Mowat-Larssen (2010), S. 7; Allison (2004), S. 123–210).
Die Frage nach den Motiven ist dabei für Handlungsempfehlungen an die Politik entscheidend. Falls Terroristen Atomwaffen gar nicht haben wollen, dürfte dies zusammen mit schon bestehenden technischen Hürden zur Sicherung gegen Atomterrorismus ausreichen (vgl. Martin (2014), S. 198–199). Falls Atomwaffen von Terroristen jedoch tatsächlich erstrebt werden oder jedenfalls erstrebt werden würden, wenn sie auch nur von ferne erreichbar wären, und nur hohe Sicherheitsstandards und Verfolgungsdruck sie davon abhalten, ist die Politik aufgerufen, Sicherheitsstandards und Verfolgungsdruck nicht nur kontinuierlich hochzuhalten, sondern auch kontinuierlich zu erhöhen (vgl. Bunn (2014), S. 187; Allison (2006), S. 39–42).
Die Annahme fehlenden Interesses ist dabei wenig überzeugend. Dass Terroristen stets aus politischen Motiven agieren und an diesen zu messen ist, was sie nützlich finden und was schädlich – und auf dieser Annahme basiert die Annahme fehlenden Interesses ja –, trifft die Realität nicht: Tatsächlich erreichten nach einer Studie von Abrahams 99 % aller weltweit verübten Selbstmordanschläge ihr angebliches politisches Ziel nicht (vgl. Abrahams (2014), S. 152–165). Dass sie trotzdem ausgeführt wurden, hatte oft nichtpolitische Gründe. Diese können vielfältig sein, angefangen bei den emotionalen Vorzügen fester Gruppen und einfacher Weltbilder über die Erlangung von Respekt bis hin zu simplen monetären Vorteilen für einen selbst oder Angehörige (vgl. Abrahams (2014), S. 164). Zur Erreichung all dieser Motive taugt Atomterrorismus zumindest nicht weniger als anderer Terrorismus – und ist damit zweckrational betrachtet eben nicht unvernünftig.
Freilich gibt es noch eine weitere Triebfeder hinter Terrorismus, die gerade für hiesiges Thema von besonderer Bedeutung ist: das Ausagieren von Hass. Rechtfertigungen terroristischer Taten leben immer von der Überzeugung der Planer und Täter, Opfer schwersten Unrechts und größter Demütigung von durch und durch dämonischen Gegnern geworden zu sein – sei es das „Schweinesystem BRD“, gegen das die RAF kämpfte, oder der „Satan Amerika“ als ewiges Feindbild aller Islamisten. Und diesen Gegner gilt es nicht mit Terrorismus zu beseitigen – weil dies schlicht unmöglich ist –, sondern mit Terrorismus zu bestrafen (vgl. Anet (2001)). Für Rache und Strafe aber wären Atomwaffen durchaus nützlich.
Zu glauben, Terroristen würden keine Atomwaffen haben wollen, ist schon mit Blick darauf, dass die gefährlichsten der letzten Jahre ihre dahin gehenden Ambitionen expressis verbis erklärt haben, wenig einleuchtend. Ganz allgemein zu postulieren, Terroristen würden generell an Atomwaffen nicht interessiert sein, da diese für ihre „politischen Ziele“ nutzlos oder gar kontraproduktiv wären, ist aber schlicht naiv. Darauf Politik zu stützen, ist daher der schlechteste Rat, den man Entscheidungsträgern geben kann. Motive für Atomterrorismus bestehen durchaus.