Atomterrorismus

Eine Bewertung von Risiken, Motiven und Gegenstrategien



3. Die Gegenansichten


Beide genannten Annahmen der herrschenden Meinung sind allerdings nicht unbestritten, wenn auch jeweils mit gerade gegensätzlichen Schlussfolgerungen.
Zum einen gab es in der Vergangenheit immer wieder Stimmen, die einen nuklearen Terroranschlag in der Zukunft für durchaus wahrscheinlich hielten. Im Jahre 2005 bezifferte etwa ein Bericht des Ausschusses für internationale Beziehungen des US-Senats die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Terroranschlags in den kommenden zehn Jahren mit 29 % (vgl. Lugar (2005)). Im Jahre 2008 kam eine Kommission für den US-Präsidenten zu dem Ergebnis, dass ein biologischer oder nuklearer Terroranschlag in den nächsten fünf Jahren durchgeführt werden würde (vgl. Graham (2008), XV). Beide Vorhersagen haben sich glücklicherweise als falsch erwiesen. Insgesamt sind derart pessimistische Stimmen zumindest in der Wissenschaft in der Minderheit geblieben.
Hinsichtlich der zweiten herrschenden These – der Annahme hoher Gefährlichkeit trotz geringer Wahrscheinlichkeit – wird von einer beachtlichen Zahl von Wissenschaftlern argumentiert, dass die auch von der herrschenden Meinung behauptete Abstraktheit der Gefahr bei der Risikoabwägung zu berücksichtigen sei mit der Folge, dass Atomterrorismus eben wegen geringer Wahrscheinlichkeit nicht als ernste Gefahr anzusehen sei (vgl. Martin (2014), S. 194; Mueller (2010); Mueller (2012), S.235–240; Mueller (2014), S.387–388; Frost (2005), S. 7–10, 69–73; Arkin (2006), S.43; Sauer (2007a), S.21–22 und 26–30).3 Diese Ansicht unterscheidet sich von der herrschenden Ansicht methodisch im Wesentlichen dadurch, dass das Risiko nicht an der Summe aus Wahrscheinlichkeit und Folgen, sondern im Wesentlichen allein anhand der Wahrscheinlichkeit bemessen wird.
Dies hat gegenüber der herrschenden Lehre dabei durchaus auch auf die Praxis bezogene Implikationen: Wird das Risiko als äußerst gering angesehen, so stellen sich aufwendige Abwehrmaßnahmen womöglich als überzogen oder zumindest die bereits erfolgten als ausreichend dar, während dann, wenn das Risiko wegen der dramatischen Folgen für erheblich erachtet wird, auch (zusätzliche) aufwendige Abwehrmaßnahmen angemessen erscheinen.

4. Internationale und nationale Bemühungen gegen nuklearen Terrorismus


Die internationale Gemeinschaft, aber auch die meisten westlichen sowie bedeutende nichtwestliche Staaten folgen jedenfalls seit den Neunzigern und verstärkt seit 9/11 faktisch der herrschenden Lehre im Schrifttum, indem einerseits große Anstrengungen unternommen wurden und werden, Atomwaffen und atomwaffenfähiges Material zu sichern, und andererseits teils recht beachtliche polizeiliche und nachrichtendienstliche Strukturen aufgebaut wurden, welche sich speziell mit der Gefahr der Nutzung von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen befassen (vgl. Bunn (2016), S. 22).
Die internationalen Bemühungen sind dabei mittlerweile recht zahlreich. Im Jahre 2004 verabschiedete der Weltsicherheitsrat die Resolution 1540 (2004), welche sämtliche Staaten verpflichtet, keinerlei Maßnahmen zu unternehmen, die nichtstaatlichen Akteuren bei der Entwicklung, dem Erwerb, der Herstellung, dem Besitz, dem Transport und dem Überlassen von nuklearen, chemischen oder biologischen Waffen oder deren Verteilungssystemen Hilfe leisten könnten. Ferner werden sämtliche Staaten verpflichtet, Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu ergreifen. Mit der Resolution 1673 aus dem Jahre 2006 wurden die mit der Resolution 1540 aufgestellten Anforderungen noch einmal verschärft. Parallel zu den Pflichten der Einzelstaaten wurde schon mit der Resolution 1540 das „1540-Komitee“ gegründet, welches durch nachfolgende Resolutionen bestätigt und mit der Resolution 2055 (2012) im Jahre 2012 personell auf nunmehr neun Experten aufgestockt wurde. Das Komitee untersteht direkt dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und hat die Aufgabe, die Umsetzung der Resolution zu überwachen. Hierzu legt es regelmäßige Berichte vor (vgl. UN (2015)).
Ein Jahr nach der Resolution 1540, nämlich im Jahre 2005, verabschiedeten die Vereinten Nationen die „International Convention for the Suppression of Acts of Nuclear Terrorism“, welche als völkerrechtlicher Vertrag den Zweck hat, in den Unterzeichnerstaaten eine Kriminalisierung von auf Atomterrorismus bezogenen Handlungen sowie eine Förderung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zu erreichen. Im Dezember 2014 hatte die Konvention 115 Unterzeichner, darunter 99 Staaten. Von den fünf Nuklearmächten China, Frankreich, Russland, USA und Vereinigtes Königreich hatten alle Staaten unterzeichnet und alle außer den USA das Abkommen ratifiziert. Als weitere Atommacht hat bisher (allein) Indien den Vertrag unterzeichnet und ratifiziert (vgl. UN (2005)).
Eine weitere zwischenstaatliche Initiative im Kampf gegen Nuklearterrorismus ist die „Global Initiative to Combat Nuclear Terrorism“, welche die (damaligen) Präsidenten der USA und Russlands, George Bush und Wladimir Putin, im Juli 2006 ins Leben riefen. Sie deckt inhaltlich die Förderung aller relevanten Aspekte im Kampf gegen Nuklearterrorismus von dem Schutz radioaktiven Materials über die Verfolgung von im Zusammenhang mit dessen Erlangung stehenden Straftaten bis zur Schaffung notwendiger gesetzlicher Regelungen ab und ist mittlerweile auf 85 Staaten angewachsen. Unter diesen sind neben den USA und Russland sechs der sieben übrigen Atommächte, nämlich China, Indien, Israel, Frankreich, Pakistan sowie Großbritannien. Lediglich Nordkorea fehlt (vgl. GICNT (2015)).
Als jüngste große internationale Initiative ist schließlich der „Nuclear Security Summit“ zu nennen, welchen Präsident Obama nur ein Jahr nach Amtsantritt im Jahre 2010 ins Leben rief. Es geht dabei ausdrücklich auch um den Kampf gegen Atomterrorismus. Der „Nuclear Security Summit“ besteht aus Treffen von Staats- und Regierungschefs im Zwei-Jahres-Rhythmus; zuletzt im Jahre 2016 in Washington (vgl. NSS (2016)).
Dass Obama in diesem Bereich aktiv wurde, überraschte dabei nicht. Schon 2008 hatte er in scharfer Abgrenzung gegen die Anti-Terror-Politik seines Amtsvorgängers Bush geäußert:

“Wir hätten unsicheres nukleares Material in der Welt sichern und ein aus dem 20. Jahrhundert stammendes Nonproliferationssystem an die Anforderungen des 21. Jahrhunderts anpassen können. (…). Wir hätten das tun können. Stattdessen haben wir Tausende amerikanischer Leben geopfert, fast eine Billionen Dollar investiert, Verbündete verprellt und aufkommende Risiken vernachlässigt – um seit gut fünf Jahren in einem Land einen Krieg zu führen, das mit den Anschlägen vom 11. September nichts zu tun hat.”4 (New York Times (2008, 15. Juli))


Und zwei Jahre später – nun als Präsident – erklärte er: “Atomterrorismus ist die `größte singuläre Gefahr´ für die USA.”5 (USA Today (2010, 11. April)).
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel nahm diese Formulierung auf und vermeldete die deutsche Sicht auf den ersten Gipfel unter der Überschrift: „Nuklearterrorismus – größte Herausforderung für die Sicherheit der Welt“ (Bundeskanzlerin (2010)).
Bestrebungen gegen Proliferation und Atomterrorismus auf zwischenstaatlicher Ebene gibt es daneben auch im Rahmen der Europäischen Union. Deren „Joint Research Center“ (JRC) befasst sich als ein Forschungsschwerpunkt mit „Nuclear safeguards and security“, was ausdrücklich jede Verhinderung von Proliferation und Missbrauch radioaktiven Materials umfasst (vgl. EU (2015a)). Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Verhinderung illegalen Handels mit atomarem Material, und zwar gerade auch zur Unterbindung von atomarem Terrorismus (vgl. EU (2015b)). Hierzu betreibt die EU mit EUSECTRA ein eigenes Schulungsprogramm (vgl. EU (2015c)).