Die „Muhajirat“:

Warum reisen Frauen ins Herrschaftsgebiet des IS?



Opferetikettierung


Neben dieser Rollenzuweisung, die den Aktionsraum der Frau innerhalb der Familie und für unterstützende Tätigkeiten im Jihad abdeckt, erfolgt in den Publikationen eine Rollenzuweisung der Frau als Opfer. Sie sei ein Opfer der „Ungläubigen“. Die Opferetikettierung ist durchaus wichtig für die Jihad-Ideologie des IS, denn sie erfolgt zumeist als Legitimation für den Kampf gegen die „Ungläubigen“. So steht in einem Artikel, der den Titel „Ratschläge an die Soldaten des Islamischen Staates“ trägt: „Erinnere dich daran, dass der Feind deine Mutter und deine Schwester vergewaltigt hat […].“19 In einem anderen Kontext schreiben zwei Kämpfer in ihrem Testament, das in „Dabiq“ veröffentlicht wird: „Die Keuschheit unserer Schwestern wurde verletzt.“ Dies ist Teil eines Appells an die Muslime, gegen die „Ungläubigen“ zu kämpfen: „Zieht los zum Dschihad und verteidigt euren Islam, wo auch immer ihr euch befinden möget.“20

Fazit


Zusammenfassend lassen sich verschiedene Punkte der IS-Geschlechterideologie nennen, die dazu beitragen, dass sich Frauen dem IS als „Muhajirat“ anschließen. Das betrifft zum Beispiel die klaren Strukturen, die im Rahmen der Ideologie insgesamt und der Geschlechterideologie im Speziellen vorgegeben werden.
In einer komplexen unübersichtlichen Welt kann die Orientierung an solchen Strukturen Halt geben, das gilt gleichermaßen für Frauen und Männer. Dieser Punkt hat jedoch eine besondere geschlechtsspezifische Bedeutung, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Mädchen und junge Frauen nicht selten Rollenkonflikte aushalten müssen: Es gibt Erwartungen von der eigenen Familie, es gibt in Teilen der Gesellschaft verbreitete konservative Rollenmodelle und es werden emanzipatorische Rollenmodelle propagiert. Das Rollenmodell des IS gibt klare, stark vereinfachte und objektiv betrachtet äußerst naive Antworten auf einen höchst komplexen Lebensbereich. Der IS-Geschlechterideologie folgend, weichen die Selbstzweifel den klaren Rollenbildern.
Verbunden mit der binären Rollenaufteilung ist ferner der Glaube, dass eine harmonische und liebevolle Beziehung mit dem Ehemann möglich ist, wenn entsprechend der propagierten IS-Geschlechterideologie gelebt wird. Das vom IS propagierte Bild eines Ehemanns spricht romantische Vorstellungen der Frauen an, die überzeugt sind, in Syrien oder im Irak ihren Märchenprinzen zu finden.
Eine besondere geschlechtsspezifische Bedeutung hat zudem die Heroisierung der weiblichen Rollenangebote. Während das Kämpfen der Männer per se heldenhaft erscheint, erfährt das Hausfrauendasein erst durch den IS eine Aufwertung. Es wird als genauso wichtig angesehen, wie der bewaffnete Kampf des Mannes. Das stellt vor allem für Frauen aus patriarchal geprägten Familien mit Migrationshintergrund eine Befreiung dar, die einen Großteil der ausgereisten Frauen stellen. Es sind Frauen die vielleicht erlebt haben, dass die Mutter in ihrer Funktion als Hausfrau in ihrem Sein und Handeln keine Wertschätzung erfahren hat. Für diesen Personenkreis sind auch die minutiösen Vorgaben der propagierten Geschlechterrollen eine neue Erfahrung: Diese Mädchen und jungen Frauen haben vielleicht erlebt, dass der Bruder ihnen den Kontakt mit gleichaltrigen Jungs untersagte, sich selbst jedoch sexuell auslebte. Die Propaganda suggeriert ihnen, dass sich auch die Männer im IS-Herrschaftsgebiet an Regeln halten müssen.
Schließlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Reiz und der Opferetikettierung, welche die Gerechtigkeitsutopie der Frauen in einer höchst persönlichen Weise anspricht. Die Frauen können sich in besonderer Weise von den Bildern der verletzten und getöteten Kinder und Frauen in Syrien angesprochen fühlen, die in der IS-Propaganda ausnahmslos als Opfer der westlichen Koalition oder des syrischen Regimes dargestellt werden. Die Propaganda-Bilder wecken den Wunsch nach Gerechtigkeit für diese Gesellschaftsgruppen und die Frauen glauben, dass nur der IS sich für die Gerechtigkeit einsetzt.
Die Analyse der vom IS propagierten Geschlechterideologie stellt wiederum einen wichtigen Baustein für Präventiv- und Deradikalisierungsmaßnahmen dar. Nur wenn wir wissen, was der IS propagiert, können wir Gegennarrative schaffen. Sei es durch das Aufgreifen von Widersprüchen zwischen propagierter Geschlechterideologie und der gelebten Praxis im IS-Herrschaftsgebiet. Oder durch sachliche Argumente, die die naiven Antworten der IS-Propaganda in Hinblick auf komplexe Lebensbereiche auseinandernehmen.

Anmerkungen

  1. Insgesamt sollen etwa 4000 Frauen aus westlichen Ländern nach Syrien und Irak migriert sein. Siehe hierzu die Studie von Erin Marie Saltman und Melanie Smith: Saltman/Smith 2015: ‘Till Martyrdom Do Us Part’. Gender and the ISIS Phenomenon, S. 4.
  2. Die BKA-Studie mit dem Titel „Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind“ ist hier zu finden: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/Forschungsergebnisse/2016AnalyseRadikalisierungsgruendeSyrienIrakAusreisende.pdf
  3. Nicht zu all den Frauen, die ausgereist sind, liegen Hinweise vor, dass sie sich islamistisch-jihadistischen Gruppen angeschlossen haben. Doch für die meisten Frauen, für die es keine entsprechenden Belege gibt, ist dies anzunehmen. Der IS erhielt in den vergangenen Jahren wiederum den größten Zulauf von ausgereisten Männern und Frauen.
  4. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Ausreisemotive vielfältig und komplex sind. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die Einfluss auf die Ausreise nehmen. Viele Motive und Faktoren gelten sowohl für Männer als auch für Frauen.
  5. Vgl. Dabiq Nr. 7, S. 50
  6. Vgl. al-Naba Nr. 49, S. 14
  7. „Bleibt in euren Häusern“ ist ein Zitat aus dem Koran (Sure 33/33). Zugleich stellt diese Aufforderung den Titel eines IS-Artikels, der sowohl in Rumiyah (Ausgabe 3, S. 43), als auch in al-Naba (Aushabe 50, S. 10) erschienen ist.
  8. Vgl. Rumiyah 3, S. 43, al-Naba 50, S. 10
  9. Vgl. Rumiyah 3, S. 43, al-Naba 50, S. 10
  10. Vgl. al-Naba 49, S. 10
  11. Vgl. Dabiq 7, S. 51
  12. Vgl. Dabiq 13, S. 24f.
  13. Vgl. Rumiyah 3, S. 35 und Rumiyah 1, S. 18ff. und al-Naba 45, S. 14
  14. Vgl. Rumiyah 3, S. 35
  15. Vgl. Al-Naba 45, S. 14
  16. Vgl. Rumiyah 3, S. 34
  17. Vgl. Al-Naba 46, S. 9
  18. Vgl. Rumiyah 2, S. 52f.
  19. Vgl. Dabiq 13, S. 3f.
  20. Vgl. Dabiq 6, S. 11
  21. Vgl. Dabiq 7, S. 75
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