Megatrends und aktuelle Herausforderungen an die Kriminalistik

Von LKD Ralph Berthel, Frankenberg

7 Kriminalstrategie mit wichtiger Scharnierfunktion


Ohne Zweifel kommt im Wechselverhältnis zwischen Kriminalpolitik und Kriminalistik der Kriminalstrategie eine wichtige Scharnierfunktion zu. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen, insbesondere der mit der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der Entwicklungen von Cybercrime und nicht zuletzt der sich auch auf die Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen und die Tatbegehung im Besonderen auswirkenden Globalisierungs-, Vernetzungs- und Digitalisierungstendenzen verbundenen Herausforderungen, erscheint eine Ausdehnung dieser Wechselwirkungen und Bezüge auf die Justiz-, Außen- und Sicherheitspolitik zwingend. Kaestner stellte bereits auf der Herbsttagung 2004 des Bundeskriminalamtes zum Thema „Netzwerke des Terrors – Netzwerke gegen den Terror“ die These auf, dass die strikte Trennung von „Innerer“ und „Äußerer“ Sicherheit nicht mehr zeitgemäß sei.29

8 Kriminalistik in der Hochschullandschaft


Der Charakter einer Wissenschaft manifestiert sich, wie bereits dargestellt, in ihrer Einheit von Forschung, Lehre und Praxis. Erforderlich dazu ist eine adäquate Verankerung in der Hochschullandschaft. Hier bestand in der Bundesrepublik nach der kontrovers diskutierten Auflösung der Sektion Kriminalistik an der Humboldt-Universität zu Berlin30 ein Vakuum, das durch die Verankerung der Kriminalistik in den Lehrplänen der Polizeifachhochschulen sowie der Polizei-Führungsakademie bzw. später der Deutschen Hochschule der Polizei nur bedingt ausgefüllt wurde.31 Mittlerweile hat sich u.a. auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik und des Bundes Deutscher Kriminalbeamter zumindest etwas bewegt.
Der seit dem Wintersemester 2012 angebotene erste Masterstudiengang an der Steinbeis-Hochschule Berlin wurde im Jahr 2016 akkreditiert.32 Damit gibt es erstmals in Deutschland einen akkreditierten Studiengang „Kriminalistik“.

Seit Anfang 2016 besteht die Möglichkeit, den Schwerpunkt „Kriminalistik“ im Rahmen des seit 2005 an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum bestehenden weiterbildenden Masterstudienganges „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“ zu wählen.33

Die übrigen Bemühungen, einen grundständigen Studiengang Kriminalistik an einer deutschen Universität oder Hochschule zu etablieren, waren leider bisher nicht erfolgreich. Und auch die Aussichten erscheinen nicht rosig.

Die überschaubare Verankerung der Kriminalistik in der deutschen Hochschullandschaft dürfte auch Folge des als überaus ängstlich zu bezeichnenden Umganges des Hauptbedarfsträgers Polizei mit Abschlüssen, die außerhalb der polizeilichen Bildungslandschaft erworben wurden, sein. Zwar erlauben die meisten Laufbahnbestimmungen der Länder, dass ein Zugang zum Polizeidienst für Absolventen mit einem „für die Fachrichtung Polizei förderliches Studienfach“ möglich ist34, schränken diese allerdings unverständlicherweise gleichzeitig ein. So sieht etwa die Sächsische Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Fachrichtung Polizei vor, lediglich solchen Absolventen den Zugang zu ermöglichen, die über den Abschluss in einem Fach mit zweitem Staatsexamen verfügen. Das sind in Deutschland gegenwärtig folgende Fachrichtungen: Lehrerstudium, Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin, Rechtswissenschaften, Lebensmittelchemie und Pharmazie. Dabei dürften die Einsatzmöglichkeiten für Tiermediziner und Pharmazeuten in den Polizeien von Bund und Ländern überschaubar sein; die von Absolventen von Studiengängen, die kriminalistisch-kriminologische Inhalte aufweisen hingegen wohl eher. Betrachtet man z.B. die curricularen Inhalte etwa des Masterstudienganges an der Ruhr-Universität Bochum35, so dürfte deutlich werden, dass ähnlich wie bei Bewerbern, die ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert haben, zweifellos auch bei Absolventen dieses Studienganges die Voraussetzungen für die Laufbahn des Polizeidienstes vorliegen. Das Laufbahnrecht und die geübte Praxis erschweren aber eher einen solchen Berufseinstieg bzw. behindern den Fortbildungswillen einzelner Kolleginnen und Kollegen eher, als dass sie diesen befördern. Die Zeit für die Überwindung antiquierter laufbahnrechtlicher Bestimmungen und Denkweisen ist überreif, ein politischer Wille gleichwohlgegenwärtig nicht erkennbar.

9 Welchen Herausforderungen hat sich die Kriminalistik aktuell zu stellen?


Die wesentlichen Anwender von kriminalistischem Wissen sind die Polizeien, die anderen Strafverfolgungsbehörden sowie die privaten Sicherheitsakteure bzw. -dienstleister. Einige Problemfelder, denen sich die Akteure der inneren Sicherheit zu stellen haben, sollen hier exemplarisch genannt werden:

  • Straftatenbegehung unter Ausnutzung der Digitalisierung; hier sind etwa Elemente der digitalen Welt wie Industrie 4.0, smart home bzw. Smart-City-Anwendungen, Gesellschaft 5.0 sowie Roboterisierung, Kryptierung relevant.
  • Weltweite Migrationsströme mit Folgen wie etwa „Export“ ethnisch, wirtschaftlich oder religiös motivierter Konflikte in Staaten bzw. Regionen, die ursprünglich keine bzw. geringe Bezüge zu den Ausgangskonflikten aufweisen
  • Verwischen von Konflikten zwischen Staaten mit solchen zwischen Staaten und PersonengruppenGefährdung der gesellschaftlichen Balance durch die Verknüpfung von allgemeiner, organisierter und staatsgefährdender Kriminalität
  • Radikalisierungstendenzen mit der Gefahr der „Gewöhnung“ und damit gesellschaftlichen Akzeptanz von Gewalt- und Hassdelikten
  • Kämpfe um Ressourcen
  • Nutzung von Anwendungen Künstlicher Intelligenz zur Straftatenaufklärung36


Wie gesagt, das sind nur einige Problemfelder, die sich aus den o.g. Megatrends als ganz praktische Probleme für die Kriminalistik ableiten. Folgt man den Feststellungen der Trendforschung, ergeben sich zwangsläufig sowohl für die Kriminalistik insbesondere folgende zwei Herausforderungen:
Erstens dürfte es für eine entwickelte Gesellschaft unverzichtbar sein, auf kriminalistische, insbesondere kriminalstrategische Erkenntnisse zurückzugreifen, um den Gefahren etwa durch Angriffe auf kritische Infrastrukturen, Terrorismus, die Nutzung der Digitalisierung zur Straftatenbegehung im globalen Kontext Hacking usw. begegnen zu können und Sicherheit als Garant für eine freie und offene Gesellschaft zu gewährleisten.37 Hier werden künftig mehr als bisher Antworten von der Kriminalistik gefordert sein; Antworten, die zwar oft im Verbund mit der „Schwesterwissenschaft“ Kriminologie zu entwickeln sein dürften, allerdings nicht dieser oder allein Sicherheits- bzw. Kriminalpolitikern überlassen werden sollten.
Zweitens erscheint es unumgänglich, die Entwicklung der Megatrends wissenschaftlich, d.h. hier kriminalwissenschaftlich, zu beobachten und Schlüsse abzuleiten. Dazu bedarf es eines institutionellen Unterbaus, etwa in Form von kriminalwissenschaftlichen Think Tanks.38 Bezogen auf die Kriminalitätsentwicklung im deutschen wie auch im globalen Kontext lassen sich diese Entwicklungen insbesondere mit den folgenden Charakteristika darstellen:
Digitalisierung und Vernetzung öffnen qualitativ und quantitativ neue und komplexere Möglichkeiten der Tatbegehung.
Die Steigerung der Speicherkapazitäten von IT- Systemen und der Übertragungsraten bei der Telekommunikation stellen die Strafverfolgungsbehörden vor gewaltige Probleme sowohl bei der Sicherung als auch der Auswertung der Datenmengen.
Verschlüsselungen erschweren den Zugriff auf beweiserhebliche Daten für die Strafverfolgungsbehörden erheblich.
Staatenübergreifendes Handeln von Tätern bzw. Tätergruppen ist zur Alltäglichkeit geworden.
Politisch motivierte Straftäter handeln zunehmend mehr unter Bezugnahme auf religiöse Überzeugungen; islamitische Straftaten stellen dabei den Kern der aktuellen Bedrohungslage dar.
Der Ort an dem der oder die Täter handeln und der Ort, an dem das schädigende Ereignis stattfindet, fallen immer häufiger auseinander.
Die sicherheitsrelevanten Herausforderungen nehmen an Komplexität und Internationalität zu. Einzelne Akteure der inneren Sicherheit werden künftig noch weniger als bereits heute in der Lage sein, allein erfolgversprechende Lösungen zu generieren. Neue Formen der Kooperation sind damit zu erschließen.
Aufbau- und Ablauforganisation der Strafverfolgungsbehörden entsprechen nicht immer der Dynamik der Straftatenbegehung und der Flexibilität der Täter. Aus kriminalistischer Perspektive diese Entwicklungen zu beobachten und zu analysieren, muss mehr denn je einschließen, daraus auch Vorschläge für aufbau- und ablauforganisatorische Veränderungen zu entwickeln.
Die IT-Strukturen müssen so gestaltet sein, dass sie mit den Herausforderungen mit wachsen können. Regionale bzw. föderale Strukturen müssen effizienten Verfolgungslogiken folgen und dürfen diese nicht behindern.

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollten beispielhaft einige Herausforderungen dargestellt werden, die ihrerseits die vorn genannten sicherheitsrelevanten Megatrends widerspiegeln. Der Präsident des Bundeskriminalamtes charakterisierte die sich aus den o.g. gesellschaftlichen Entwicklungen ergebenden Herausforderungen mit fünf sog. Leitsätzen.

Erstens: Entsprechend den skizzierten Entwicklungen in den einzelnen Kriminalitätsbereichen muss auch Kriminalitätsbekämpfung zunehmend in intelligenten und flexiblen Netzwerken angelegt sein – sowohl analog als auch digital. Effektive Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung erfordern immer häufiger phänomenologisches und technologisches Fachwissen, also eine Spezialisierung der Ermittler, die schon in der Ausbildung angelegt sein muss.

Zweitens:Rein auf die lokale oder nationale Ebene ausgerichtete Bekämpfungsstrategien sind in nahezu keinem Kriminalitätsbereich mehr zukunftsträchtig. Um international organisierte Kriminalität zu bekämpfen, brauchen wir international abgestimmte Ansätze.

Drittens:Polizei muss schneller und flexibler werden. In einer globalisierten und vernetzten Welt unterliegen die Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, einer solchen Dynamik, dass Früherkennung und gute Strategie und Planungsprozesse alleine nicht mehr ausreichen. Im BKA stellen wir uns darauf ein, Kriminalität künftig stärker in flexiblen, projektorientierten Strukturen zu bekämpfen. Bspw. haben wir angesichts der skizzierten Entwicklungen im Bereich OK unsere Bekämpfungsstrategie entsprechend angepasst.

Viertens: Wir müssen unsere Zentralstellenrolle weiterentwickeln. Polizei und somit auch die Zentralstellenfunktion des BKA müssen dreidimensional gedacht werden – auf Länderebene, auf Bundesebene und international. Den globalen Veränderungsprozessen kann nachhaltig nur im Rahmen einer stärkeren internationalen Kooperation und vor allem einer starken Europäischen Union begegnet werden. Auf polizeilicher Ebene bedeutet dies, die bereits etablierte Europolkooperation zu vertiefen. Als Europol National Unit fällt dem Bundeskriminalamt hierbei eine Schlüsselrolle zu.

Fünftens: Wir müssen uns als Behörde intern modernisieren und automatisieren. Wir müssen einerseits Schwerpunkte setzen und Fachkräfte gewinnen und ausbilden für Tätigkeitsfelder, die einen immer höheren Grad an Fachwissen und Spezialisierung erfordern.39