Megatrends und aktuelle Herausforderungen an die Kriminalistik

Von LKD Ralph Berthel, Frankenberg

3 Kriminalistik ist mehr als nur Strafuntersuchungskunde


Einige Autoren, so Ackermann, betrachten Kriminalistik insbesondere als Strafuntersuchungskunde.18 Später relativiert er diese Aussage zwar, indem er feststellt, dass die Kriminalistik zwar auf den Einzelfall ausgerichtet sei, aber gleichzeitig jede kriminalistische Untersuchung mehr Erkenntnisse über „Verbrechen, Täter und die Umstände, unter denen sich Verbrechen entwickeln konnten“ generiere. Damit leiste sie sowohl Voraussetzungen für kriminologische Untersuchungen als auch Maßnahmen der Kriminalpolitik.
Die analytische und konzeptionelle Komponente der Kriminalistik, die die Organisation der Kriminalitätsbekämpfung auf der Makro-, also der gesellschaftlichen Ebene zum Gegenstand hat, unterschlägt er leider trotzdem. Er beraubt die Kriminalistik damit ihres strategischen Elements. Und dieses erlangt, wie eingangs geschildert, zunehmend gesellschaftliche Relevanz. Wie praktisch diese Feststellung ist, erlebe ich fast wöchentlich. Als für Ermittlungen und Auswertung zuständiger Abteilungsleiter eines Landeskriminalamtes sehe ich uns regelmäßig konzeptionell gefordert, etwa bei der Bekämpfung des Wohnungseinbruchdiebstahls, von BtM-Delikten, insbesondere der Droge Crystal oder der internationalen Kfz-Verschiebung. Auch die Prüfung auf Wirksamkeit, also die Evaluation derartiger Konzepte gehört mittlerweile zu den Standards. Das ist höchst praktische Kriminalistik, ist Kriminalstrategie und keine Kriminalpolitik! Und es ist mehr und etwas ganz anderes, als das von Ackermann beschriebene Sammeln und Aneinanderreihen von Erkenntnissen über den Einzelfall.

4 Kriminalistik im Dreiklang von Taktik, Technik und Strategie


An dieser Stelle wird deutlich, dass eine auf die taktische und technische Komponente reduzierte Kriminalistik den aktuellen Anforderungen der Sicherheitslage nicht gerecht werden kann. Die Fragen, wie nämlich Verbrechensbekämpfung organisiert wird, welche rechtlichen, wirtschaftlichen, kulturellen, historischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen sie zu berücksichtigen hat und wie das Bindeglied einer wissenschaftlichen Kriminalistik zu Kriminalpolitik aussehen soll, würden überhaupt nicht beantwortet; sie würden noch nicht einmal gestellt werden, klammerte man die Kriminalstrategie aus. Kein Mensch würde wohl anzweifeln, dass die Herbsttagungen des Bundeskriminalamtes, die alljährlich das Who’s Who des deutschen Sicherheitsmanagements, nicht nur der Kriminalpolizei versammelt, gelebte Kriminalistik sind. Diese Tagungen verfolgen aber natürlich nicht das Ziel, irgendwelche gesammelten Erkenntnisse aus Ermittlungsfahren, seien sie auch noch so bedeutsam, darzustellen und mit ihrer Hilfe die Kriminalpolitik zu beraten. Vielmehr sind diese Tagungen, wie im Übrigen auch die bereits erwähnten kriminalstrategischen Konzepte der Beweis, dass Kriminalstrategie nicht nur eine Worthülse ist. Sie ist fester und wichtiger Bestandteil der Kriminalistik. Nur im Dreiklang von Taktik, Technik und Strategie ist die Kriminalistik zu begreifen und kann sie ihrem zurecht eingeforderten gesellschaftlichen Auftrag, nämlich mehr zu sein, als nur Straftatenuntersuchungskunde gerecht werden. Kriminalistik muss kriminalistisch relevante Entwicklungen beobachten, analysieren und Vorschläge zu deren Bekämpfung unterbreiten, und zwar ggf. im Zusammenwirken mit anderen Wissenschaften, etwa der Kriminologie, aber auch Natur-, Rechts-, Sozial oder Geisteswissenschaften. Es ist daher Forker zuzustimmen, der Kriminalistik als „die Wissenschaft von der Strategie und Methodik der Aufdeckung und Aufklärung, derTäterermittlung und -überführung, vom taktischen und technischen Vorgehen bei derKriminalitätsbekämpfung bezeichnet.In diesem Kontext umfasst sie das Wissen um die Methoden und Mittel der Verhütung, Aufdeckung und Aufklärung von Straftaten, einschließlich der Fahndung nach Personen und Sachen sowie der Erlangung gerichtlicher Beweise“ bezeichnet.“19 In dem Maße, wie sich die Kriminalistik in Deutschland ihres strategischen Markenkerns selbst beraubte und noch beraubt, wird sie nicht in der Lage sein, im gesamtgesellschaftliche Kontext agieren zu können, etwa Politikberatung vornehmen zu können. Ja sie wird nicht einmal in der Lage sein, angemessen zu reagieren, wenn sie ihre Aufgabe nur als taktisch-technischen Vollstrecken bzw. Umsetzen eines kriminal-, justiz- oder sicherheitspolitischen Willens betrachtet.
Betrachtet man die Elemente und das Wesen der Kriminalistik, wird deutlich, dass sie nicht allein als Handlungslehre zu begreifen ist, die lediglich Strafrecht anwendet und dazu technische Mittel einsetzt. Kriminalistik leistet mithin nicht etwa nur fallbezogen Reaktives zur Aufklärung von Straftaten im Einzelfall, also auf der Mikroebene. Sie trägt vielmehr auch wichtige Verantwortung für die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse und liefert Methode und Struktur für die Entwicklung von Strategien zur Vorbeugung und Bekämpfung von Straftaten, also Kriminalität auf der Makroebene.
Und genau hier sieht der Autor mit Blick auf die eingangs geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungen neue und herausfordernde Handlungsfelder für die wissenschaftliche Kriminalistik. Kriminalistik und dabei insbesondere Kriminalstrategie muss sich an den Schnittstellen zur Kriminal-, Innen-, Justiz- oder Sicherheitspolitik klar konturiert, unabhängig und nur der wissenschaftlich belegten Erkenntnis verpflichtet, zeigen. Hier wurde in der Vergangenheit leider schon zu viel Terrain an andere Institutionen bzw. Personen abgegeben. So ist es mittlerweile üblich geworden, dass sich insbesondere medienaffine Kriminologen öffentlich zu kriminalistischen Themen äußern. Zudem nehmen es manche Medien begrifflich auch nicht so genau, was sie der Öffentlichkeit so präsentieren. So las ich neulich, dass ein Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter als Chefkriminologe bezeichnet wurde. Ich kenne und schätze diesen Kollegen sehr, weiß aber, dass er sich ganz sicher nicht als Kriminologe und auch nicht als deren Chef sieht. Und wenngleich manche Stimme aus den Reihen von polizeilichen Berufsvertretungen durchaus im Sinne der Kriminalistik nach Seriosität und Nachweisbarkeit als Gegenstück zu weit verbreitetem postfaktischem Agieren politisch Verantwortlicher ruft, reicht das nicht aus. Die Frage ist, wer kriminalistisches Fachwissen in die öffentliche Debatte trägt bzw. tragen kann.
Hier könnte die unabhängige Deutsche Gesellschaft für Kriminalistik20 künftig eine noch wichtigere Rolle als bisher spielen. Und selbst wenn es heute vielleicht vermessen und utopisch klingen mag, diese Gesellschaft braucht einen Think Tank Kriminalistik; vielleicht als Institut an einer Universität. Zur Verankerung der Kriminalistik in der deutschen Bildungslandschaft werde ich später zu sprechen kommen.