Amok, Selbstmordattentat oder terroristischer Amoklauf?

Realität löst Trennschärfe der Begriffe auf


Medienberichte über psychisch kranke „lone actors“ und „Turboradikalisierung“ friedlicher Schutzsuchender in Deutschland suchen nach einfachen und allseits einleuchtenden Erklärung für diese Art krimineller Phänomene. Denn gerade Personen, die als Einzeltäter auftreten, hatten nach hiesigem Kenntnisstand kaum direkten Kontakt zum IS, noch waren sie in deren Ausbildungscamps. Entsprechend werden Medienberichte, wonach Messerangriffe von Einzeltätern vom IS als deren Taten propagiert werden, nicht selten angezweifelt. Am 16. Oktober 2016 wurde ein 16-jähriger Junge von einem unbekannten Täter in Hamburg direkt an der Alster erstochen. Der Angriff erfolgte in Sekundenschnelle, er wurde nicht von einem Raub begleitet und es gibt nach Ermittlungen der Polizei keinerlei Beziehung zwischen Täter und Opfer. Die 15-jährige Begleiterin beschrieb den Täter laut Medienangaben mit „südländischem Erscheinungsbild“. Wenige Tage später reklamierte der Islamische Staat den Mord für sich.5 In der Tat hatten sie zuvor wiederholt zum „Straßen-Jihad“ aufgerufen, dennoch äußerte die Hamburger Polizei Zweifel. Vorfälle unvermittelter Gewalt durch einzelne auf ihnen fremde Personen ereigneten sich in weiteren deutschen Städten, so zum Beispiel in Aschaffenburg im September 2016, als ein Radfahrer einem Fußgänger im Vorbeifahren ein Messer in den Rücken gestoßen hat.6 Zu der Tat gab es keinerlei Bekenntnis, das Motiv des als dunkelhäutig beschriebenen Täters ist unklar. Gleichzeitig scheint er bislang nicht erneut in Erscheinung getreten zu sein.
Die Zugehörigkeit von Tätern, die alleine auftreten, ist schwierig einzuordnen. Und fehlt die terroristische Organisation, fällt es zuweilen schwer, die Täter als Terroristen einzuordnen. Dies gilt sowohl für die Täter von Würzburg und Ansbach, aber beispielsweise auch für den terroristischen Attentäter Arid Uka.7
Zuweilen geraten die Begriffe Amok und Terrorattentat durcheinander. Und in der Tat sind die Übergänge fließend. Bereits 2011 verwischte die Schreckenstat des Norwegers Anders Behring Breivik die Trennlinie zwischen Amok und Terror. Breivik zündete am 22. Juli 2011 in Oslo eine Bombe im Regierungsviertel, bei dem acht Menschen starben und richtete kurz darauf auf der Ferieninsel Utøya ein Massaker an, indem der 69 Menschen binnen 90 Minuten erschoss. War dies nun ein Amoklauf oder ein terroristisches Attentat? Vor allem seine erklärte Absicht, Norwegen u.a. gegen Islam und „Kulturmarxismus“ verteidigen und für alle Fehlentscheidungen die regierenden Sozialdemokraten bestrafen zu wollen, spricht für ein terroristisches Motiv. Sein Manifest, dass er vor der Tat versendete, ist ein Potpourri zusammengewürfelter Texte und Blogs, durch ihn zum Teil verändert. Somit handelt es sich weniger um eine Erklärung im Sinne einer Propaganda der Tat, denn die Einschätzung der europäischen Verhältnisse und insbesondere seine Selbstwahrnehmung und seine wahrgenommene geschichtliche Rolle waren völlig verzerrt. Es gab kein konsensfähiges Leitbild, das von mehreren Personen geteilt wurde. Die Einschätzung seiner Person durch die bestellten Gerichtsgutachter wies gravierende Persönlichkeitsstörungen auf. Auch wenn er im zweiten rechtspsychiatrischen Gutachten schließlich für zurechnungsfähig erklärt wurde, blieb seine psychische Disposition, die das Bild eines irrationalen Amokläufers stützt und nicht das eines rational agierenden Terroristen, der mit seinen Taten eine gesellschaftliche Änderung herbeiführen möchte. Er war keiner Gruppe zuzuordnen, gehörte keiner terroristischen Organisation an. Er hat zwar versucht, bei Rechtspopulisten Fuß zu fassen, jedoch schaffte er es auch dort nicht, sich zu etablieren. Als einzelner Krieger wollte er eine ausgedachte Elite anführen, die es gar nicht gibt, als Kommandant einer Fantasiearmee, für die er sich eine eigene Uniform kreiert hat. Breivik hat sich eine neue Identität gesucht, was typisch für Amokläufer ist.8 So unterschiedlich die Gutachten im Gerichtsprozess um die Schuldfähigkeit Breiviks waren: Sie alle attestierten ihm eine psychische Konstitution jenseits geistiger Gesundheit in seinen Toleranzen. Terrorismus aber ist kein Ausdruck von Geisteskrankheit, sondern Terror durch Gewalt ist Mittel und Kalkül. Die Frage, die jeder beantworten muss, der Breivik als einen Terroristen betrachtet, ist, ob er dieses Attentat auch verübt hätte, wenn er geistig gesund gewesen wäre.
Doch muss diese Frage unbedingt von der ethischen Schuldfrage gelöst werden. Es geht nicht darum, einen Mehrfachmörder seiner Tat zu entschuldigen, wenn er als irrationaler Amokläufer kategorisiert wird. In der gesellschaftlichen Debatte wird Schuldunfähigkeit noch immer als eine unerträgliche Entschuldigung für Leid und Schrecken betrachtet. Darum geht es aber nicht, sondern darum, nüchtern Tatantrieb und Motivation zu klären.
Genau das fällt auch in Deutschland schwer, gerade wenn es um terroristische Einzeltäter oder Amokläufer geht. Die Täter von Würzburg und Ansbach waren Asylbewerber. Sie wurden in Deutschland als Schutzbedürftige aufgenommen und versorgt. Gerade dieser Umstand erschwert das Verstehen der Taten, die islamistisch motiviert waren. In diesem Zusammenhang machte der Begriff „Turboradikalisierung“ Furore, der das Phänomen benennen soll, wenn Menschen sich im Aufnahmeland binnen kürzester Zeit radikalisieren und direkt zu terroristischen Attentätern werden. Denn tatsächlich treibt auch hier vor allem die Schuldfrage die Diskussion an: Wer hat Schuld daran, dass sich diese jungen Menschen, die nach Deutschland für eine neue Chance in ihrem Leben kamen, zu islamistischen Terroristen zu werden? Politiker äußerten den Verdacht, dass die späteren Täter aufgrund erlebter Traumata plus negativer Erfahrungen zu Extremisten wurden. Natürlich ist eine, vor allem junge Person, die nicht stabil im Leben steht, bereits Aggressionsproblematiken und dergleichen besitzt generell eher für extremistische Ansätze zu begeistern. Allerdings ist Radikalisierung ein Prozess, der mehrerer Faktoren und psychischer Dispositionen der Person bedarf, damit diese Faktoren greifen können. Dabei geht es zwar nicht um eine bestimmte Mindestzeit, jedoch bedarf sie einer Entwicklung. Ein solcher Prozess steht eben dem Gedanken einer Turboradikalisierung diametral entgegen und zeugt von wenig Kenntnis der Materie.9 Vor allem wird der Begriff mit eher passivem Verhalten der Täter verbunden, denn solche sei das Ergebnis einer Gehirnwäsche. Den eigenen Beitrag, das ewige Empfinden, in der Opferrolle zu sein, Hass, eine Überhöhung eigener Werte, was jegliche Gewalt rechtfertigt, übersehen die Verfechter solcher Ansätze bevorzugt.
Ob sie gezielt und von IS-Funktionären nach Europa respektive Deutschland geschickt und explizit beauftragt wurden oder ob sie sich freiwillig mit den Zielen des IS identifizierten, ist bislang nicht abschließend geklärt. Für die Zuordnung der Taten ist das relativ unerheblich. Solche Anschläge funktionieren zur Not auch ohne vorherigen persönlichen Bezug zu Akteuren der Gruppe, solange die Gewalttat unter deren Banner ausgeführt wird. Wer als Muslim „Allahu Akbar“ brüllt, noch den IS in einen Kampfruf einbaut und dieser den Täter im Nachhinein zu einem ihrer Kämpfer, einem ihrer Löwen, erklärt, der ist IS-Kämpfer. Wer bei solchen Attentätern auf eine Art Mitgliedsausweis oder einen schriftlichen Marschbefehl zur konkreten Tat hofft, verkennt das Rekrutierungsprinzip und das Konzept des Islamischen Staates. Der Zweck des Anschlages bestimmt die Zurechnung, auch für das Terrornetzwerk selbst: Die Zugehörigkeit konstatiert sich beispielsweise durch virtuellen Kontakt, Facebook-Gruppen – oder eben auch erst durch einen Anschlag.