Amok, Selbstmordattentat oder terroristischer Amoklauf?

Motivlagen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede


Die vier genannten Gewalttaten besitzen neben der zeitlichen Nähe zueinander einige Gemeinsamkeiten, aufgrund dessen sie im Zusammenhang diskutiert wurden, jedoch deutlich mehr Unterscheidungsmerkmale. Die vier Täter sind junge Männer zwischen 17 und 27 Jahren. Die drei Täter aus Würzburg, Reutlingen und Ansbach kamen als Flüchtlinge nach Deutschland, zwei aus Syrien, der in Würzburg getötete Angreifer nach ersten Angaben aus Afghanistan, wobei sowohl die Herkunft als auch das Alter angezweifelt wurden. Der Amoklauf in München und die Terroranschläge in Würzburg und Ansbach wurden jeweils geplant, der Mord in Reutlingen war nach Würdigung aller Umstände eine spontane Tat von einem als bereits als hochgradig aggressiv auffälligen Menschen. Die Angreifer von München und Ansbach waren jeweils wegen psychischer Probleme in Behandlung.
Fraglich ist, ob die zeitliche Nähe der Gewalttaten zueinander zufällig oder möglicherweise ein bestimmender Faktor ist. Denn tatsächlich steigt das Risiko für Nachahmungstaten durch Personen, die sich schon lange mit der Planung einer Gewalttat herumtragen, durch ein großes öffentliche Echo, das in den Medien durch eine Schreckenstat hervorgerufen wurde, an. Die vier dargestellten Gewalttaten folgten sehr dicht aufeinander und sehr dicht nach dem Anschlag von Nizza. Nun muss man jedoch die Beweggründe voneinander trennen.
Der Anschlag des Muhammad R. muss als terroristischer Akt verstanden werden. Bezüge zum Islamischen Staat (IS) konnten festgestellt werden. Die Beanspruchung der Tat durch den IS kann in diesem Zusammenhang eher als Formalie betrachtet werden: Es geht nicht darum, ob und inwiefern tatsächlich Kontakt zwischen dem Attentäter und Organisationsmitgliedern bestand, sondern ob die Ziele dieselben sind. R. sah sich als Krieger, als Löwe und Zugehöriger einer Armee, der eine Mission auszuführen hatte. In einem nach dem Tod des Jugendlichen veröffentlichten Video bezeichnete er sich selbst als Soldat des IS, der Ungläubige töten wird, eine von ihm selbst gemalte IS-Flagge wurde in seinem Zimmer gefunden, dass er bei einer bayrischen Familie bewohnte, die ihn aufgenommen hatten. Mit seiner Tat geht sein Name in die Geschichte ein – im Schrecken der westlichen Welt und als Märtyrer für gleichgesinnte Terroristen.
Der Anschlag von Ansbach besitzt einen sichtbaren Bezug zu dem in Würzburg: Beide Täter handeln in terroristischer Absicht, beide Täter handelten mit islamistischem Hintergrund und im Sinne der Zielsetzung des Islamischen Staates. In den persönlichen Sachen des Täters Muhammad D. wurden entsprechende Handyvideos von IS-Akteuren gefunden, aber auch eines von ihm, auf welchem er die Tat ankündigt. Eine anknüpfende Tat an Würzburg wird somit wahrscheinlicher, denn so wird aus einzelnen Anschlägen eine Serie. Terroristisches Trittbrettfahren ist eine Kriegsstrategie, um den bereits verwundeten Gegner weiter zu schwächen. Zudem sollte D. abgeschoben werden, möglicherweise empfand er Druck zu Handeln.
Die Tat von Reutlingen ist zunächst eine Beziehungstat, die in als aggressiver Impuls aus einem Streit heraus betrachtet werden kann. Der Täter tötete mit dem Messer eine 45-jährige Polin, mit der er wohl eine Beziehung führen wollte, die sie jedoch verweigerte. In dem Gewaltrausch verlagerte der Täter nach der Ermordung der Frau die Gewalt auf die Umgebung. Dass der als aggressiv bekannte und bereits wegen körperlichen Übergriffen auffällig gewordene Mann der ein Messer mit sich führte, verstärkte zunächst den Eindruck einer möglichen geplanten Tat. Deswegen musste auch ein sogenannter „Ehr-Hintergrund“ als Motiv für die Tötung berücksichtigt werden. Jedoch tritt selbiges aufgrund der Spontanität und den eingesetzten Gewaltrausch, der sich noch gegen andere Personen in der Folge richtete, in den Hintergrund. Hier kann man von einem regelrecht „klassischen“ Amoklauf ausgehen, der in einem völligen Wutanfall im engen sozialen Umfeld (gewünschte Partnerin, von der der Täter abgewiesen wurde) begann und den der Täter in blinder Wut auf das Umfeld übertrug.
Die mutmaßliche und geplante Gewalttat von München war ebenfalls keine direkte Reaktion auf den Anschlag von Würzburg. Hier erscheint eher das Datum, nämlich der fünfte Jahrestag des Massenmordes durch Anders Breivik maßgeblich.

Amok als Überbegriff und Randphänomen


Ali David S., der mit 18 Jahren darauf bestand, nur noch seinen zweiten Vornamen David zu führen, beschäftigte sich bereits ein Jahr vor der Tat intensiv mit Amok allgemein, vor allem aber mit Breiviks Schreckenstat in Norwegen. Zwar wurden Aufzeichnungen gefunden, wonach der Täter stolz auf den gemeinsamen Geburtstag mit Adolf Hitler und sein Herkunftsland, dem Iran (Land der Arier) gewesen sei. Dennoch war die Tat wahrscheinlich nicht extremistisch motiviert. Der 18-Jährige Münchner war der Polizei zuvor nicht als Täter, sondern als Opfer von Mobbing und Diebstahl bekannt. Seine Tat kann entsprechend als individueller Racheakt bewertet werden. Es ist von einem Amoklauf auszugehen.
Amoktaten werden von religiös motivierten Selbstmordattentaten unterschieden. Der Begriff bezeichnet zunächst „nicht materiell-kriminell motivierte, tateinheitliche, mindestens in selbstmörderischer Absicht durchgeführte, auf den unfreiwilligen Tod mehrerer Menschen zielende plötzliche Angriffe“.1 Häufig geht es dabei um eine psychische Extremsituation, aus der heraus es zu einer „willkürlichen, anscheinend nicht provozierten Episode mörderischen oder erheblich (fremd-) zerstörerischen Verhaltens kommt.“2 Dies passt zur Gewalttat in Reutlingen. Die Tat von München war geplant. Und mittlerweile wird Amok nicht ausschließlich für spontane, sondern auch geplante Taten verwandt. Studien widersprechen sich, ob die Mehrzahl der Täter unter einer psychischen Erkrankung leiden. Die Angaben schwanken in diese Frage zwischen 8% und 68%.3 Übereinstimmung herrscht dahingehend, dass die Täter überwiegend männlich und zwischen 21-35 Jahren alt sind. In Fällen von School Shootings sind die Täter deutlich jünger; der jüngste Amokläufer an einer Schule ist elf Jahre alt. Gemäß der verschiedenen Studien zu Amokläufen in Deutschland sind 40-60% der Täter zum Tatzeitpunkt ledig und gehören unterschiedlichen sozialen Schichten an. Häufig beginnt der Amoklauf im engen sozialen Nahbereich und weitet sich dann auf Unbeteiligte aus, wie in dies in Reutlingen zu beobachten war. Die Opferzahlen völlig Unbeteiligter liegen bei 36-50%. Der Tatort liegt vornehmlich im öffentlichen Raum (über 50%), die Schule ist mit 13% betroffen. Der Mittelwert der verletzten Personen liegt bei 3,2 Personen, der Mittelwert der Todesopfer bei 2,7 Personen pro Tat. Auffallend ist, dass in 63% der Fälle Schusswaffen verwendet wurden, die zweitgrößte Gruppe bilden Fahrzeuge mit 12%. Die Tat endet in 26-46% mit dem Suizid des Täters. Lediglich etwa 10% der Amokläufer seien mit Alkohol, Medikamenten und / oder Drogen intoxikiert.4 Inwiefern Amokläufer zuvor Opfer von physischer und / oder psychischer Gewalt waren, kann nicht einheitlich beantwortet werden, da zum Teil die notwendigen Informationen in den Studien fehlten.