Zur Interaktionsdynamik der sozialen Polarisierung und Gewaltradikalisierung in Sachsen

6 Grunderkenntnisse und Schlussfolgerungen


Der hier unternommene Versuch einer relationalen, konstruktivistischen und emergenten Interpretation der Radikalisierungsprozesse dürfte die lineare „Logik der Radikalisierung“ fraglich erscheinen lassen. Denn die sozialen Konfliktdynamiken, Werteerwartungen und Orientierungen sowie Interaktionen zwischen den an politischen Konflikten beteiligten Akteuren sind wirksame Faktoren, die sich monokausalen Erklärungsversuchen entziehen. Festzuhalten ist: In vielen Fällen waren es Ereignisse, die unmittelbar oder durch ihre mediale Präsentation Vorurteile bestätigten bzw. erzeugten und zu der Neuordnung subjektiver Präferenzen führten. „Fanaltaten liefern auf diese Weise immer wieder eine punktuelle ‚Evidenz‘ für raumgreifende Folgerungen“.34 Auch soziale und kulturelle Konflikte rund um relative Deprivationserfahrungen erwiesen sich als solche wirksamen Ereignisse.

Im Gegensatz zu deterministischen Erklärungsansätzen legt die relationale Konfliktsoziologie wirksame Aktions-Reaktions-Sequenzen bzw. Mechanismen offen, deren Berücksichtigung die soziale Polarisierung und Radikalisierung vermeiden bzw. entschärfen ließe. Zwar kann die globalisierungsbedingte Spiegelung bzw. Internalisierung der internationalen Konfliktlagen schwerlich vermieden werden. Dennoch sollte das Eintreffen großer Flüchtlingsgruppen in die Wirkungsanalyse einfließen, auch vor dem Hintergrund der medial präsenten internationalen Konfliktlagen (bspw. der Aufstieg des radikalen Islams und die Terrorgefahr in Europa, die Schreckensherrschaft des Islamischen Staates, die Gefahr durch Rückkehrer aus dem Irak/Syrien). Solche Entwicklungen im glokalisierten Deutschland sind als das zu sehen, was sie sind: potentiell konfliktträchtige Ereignisse, die sich als Chance für die Gemeinschaft erweisen, aber auch zu deren Polarisierung führen können.

Entscheidend ist eine effiziente Konfliktregulierung. Hier sind die lokalen deutungsmächtigen Akteure aus Politik und Verwaltung gefragt. Denn im Sinne der prozeduralen Gerechtigkeit ist es sinnvoll, dafür Sorge zu tragen, dass diejenigen, die von der sozialen Desintegration beziehungsweise der relativen Deprivation betroffen sein können, Mitspracherechte erhalten. Autoritativ legitimierte Entscheidungen bedürfen im lokalen Kontext einer Mediation und partizipativen Erörterung. Es sollten daher Maßnahmen vermieden werden, die zur reaktiven Mobilisierung führen und zur Aktivierung der Wir-Ihr-Grenzen beitragen. Denn die Kontrastverschärfung lässt die zur Konfliktbearbeitung notwendigen Grauzonen verschwinden. Die Strategie des stigmatisierenden Beschämens hält demgegenüber keine Überbrückungs- bzw. Reintegrationsmöglichkeiten offen.

Der politisch-diskursive Wettbewerb sichert in der Demokratie eine Kultur von Partizipation sowie Mediation und gewährleistet dergestalt (kommunikative) Konfliktbearbeitung. Im Sinne der prozeduralen Gerechtigkeit führt dies zur Entschärfung sozialer Spannungen. Auf diese Weise wird zugleich signalisiert, dass es keine unrevidierbaren Entscheidungen gibt und die gesellschaftliche Steuerung durch Politik kontrollierbar und nicht alternativlos bleibt. Neben den demokratischen Mediationsverfahren stellt das geltende Recht ein weiteres Medium der Revision dar.35

Es ist wenig förderlich, die Konfliktregulierung der sogenannten Politik der Straße zu überlassen. Denn oft gießen die eskalativen Dynamiken im Protestgeschehen das sprichwörtliche Öl ins Feuer sozialer Konflikte. So kam es vor allem in Leipzig, wo die konfrontative „Politik der Straße“ und „ihre eigenen Regeln als eine solche“ anerkannt wurden, zu hochgradigen Aufschaukelungsprozessen.36 Die asylfeindliche Mobilisierung und die Ausschreitungen in Bautzen, Freital und Heidenau sind überdies ein Beleg dafür, dass rechtsextreme und rechtspopulistische Netzwerke dort erfolgreich waren, wo die politische Konfliktlösung und Moderation anfangs fehlte bzw. nicht intensiv genug ausfiel und die konfrontativen Dynamiken an Oberhand gewonnen haben. Generell sind nicht die Akteure „auf der Straße“ für die Bearbeitung politischer Konflikte zuständig, sondern die demokratisch legitimierten Politiker vor Ort. Der „Aufstand der Anständigen“ muss aus diesem Grund mit dem „Aufstand der Zuständigen“ zusammenfallen. Besser noch: Die Zuständigen sollten den „Aufstand der Anständigen“ anführen, integrativ gestalten und die konfrontativen „Anständigen“ in die Schranken weisen. Denn erst das Ausbleiben politischer Lösungen macht es Extremisten möglich, ihre alternativen Problemdiagnosen und vermeintlich bessere, weil einfache, Lösungsvorschläge öffentlich wirksam zu bewerben, während die Populisten unter solchen Umständen ein leichtes Spiel haben.

In Sachsen, dessen politische Eliten teils ein hierarchisches Verständnis von Politik und Demokratie aufweisen, würde das argumentative Ringen um politische Lösungen und deren Unterstützung in den Gemeinden für mehr Zuspruch sorgen und die rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Mobilisierungserfolge eindämmen. Es biete sich nach Expertenmeinungen etwa das Format der Großgruppenmoderation an. Elaborierte Ansätze des Community-Coachings können hier Abhilfe schaffen.37 Eine effektive und proaktive Politik und Verwaltung sind wesentliche Gelingensbedingungen bei der Herbeiführung von tragfähigen Mehrheitsentscheidungen und der Eindämmung der Polarisierungspotentiale.38 Sächsische Präventionsexperten betonen überdies die Notwendigkeit, in die demokratische Infrastruktur des Freistaates vermehrt nach definierten Wirksamkeitskriterien zu investieren.

Was kann mit Blick auf die Gefahrenabwehr durch die Instanzen der formellen Sozialkontrolle unternommen werden? Obwohl einige Forscher das Kontrollparadigma der Kriminalprävention zugunsten des Entstehungsparadigmas kritisieren, sind die Kontrollmöglichkeiten unter spezifischen Bedingungen der sozialen Polarisierung eher eingeschränkt. Vor allem dann, wenn die Grenzen der Milieus erodieren, wobei lokale „Bürgerwehren“, asylfeindliche Mobilisierungsakteure und regionale Protestgruppen zunehmend vernetzt agieren und mitunter Straftaten begehen. Nichtsdestotrotz sind einige relevante Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Gewaltradikalisierung möglich.

Es bleibt nach wie vor richtig, dass die Radikalisierung der Gewalt bis hin zu schwerwiegenden Straftaten – trotz der Zunahme der „Gelegenheitstäter“ – eine Domäne der rechten Kampfbünde bzw. Akteure ist. Die Annahme eines terroristischen Täters aus der „Mitte der Gesellschaft“ erwies sich als korrekturbedürftig. Daher sind Personenzusammenschlüsse unter die Lupe zu nehmen, die eine „Vollstrecker-Identität“ erkennen lassen: „Bürgerwehren“, „Divisionen“, „Widerstandsgruppen“ und andere „Kampfsekten“, die im Internet und/oder im sozialen Nahraum für Sympathiegewinne werben und/oder sich an – vordergründig rechtsextremen – Protestaktionen beteilig(t)en, bei denen es zu (tätlichen) Auseinandersetzungen zwischen den politischen Flügeln oder zwischen den Aktivisten und Polizeibeamten kam.

Es ist auch sinnvoll, dreierlei im Blick zu behalten: Die „Bewegungshistorie“ der in Erscheinung getretenen „politischen Soldaten“ und/oder deren allgemeine Gewaltkarriere, ihre Kontakte zu den Subkulturen der Gewalt sowie Freizeitgestaltung im Hinblick auf Treffen mit (radikalen) Gleichgesinnten. Denn die frühere Mitgliedschaft in Gewaltgruppen oder die Kontaktanbahnung zu solchen sind nicht zu ignorierende Risikofaktoren aktuell. Trifft ein früherer Aktivist mit Charisma auf einen „Macher“ mit Gewalterfahrung bzw. -kompetenzen, erhöht sich das Risiko deutlich (die Konstellation der „Gruppe Freital“). Der gemeinsame Alkoholkonsum mit radikalen Mitstreitern birgt Risiken gruppendynamischer Prozesse und „spontaner“ Tatausführung. Die Nähe solcher Gruppen zu potentiellen Anschlagszielen (bspw. Flüchtlingsunterkünfte) erhöht das Risiko der Gewaltanwendung. Die empirischen Befunde legen den Schluss nahe, dass die meisten Anschläge einen örtlichen Bezug hatten. Daher könnte eine risikobasierte Regionalanalyse die Identifizierung potentieller Täter bzw. Gefährder ermöglichen.

Planhaftes Vorgehen setzt demgegenüber das Ausspähen der exponierten Zielobjekte und -personen voraus. Die Maßnahmen der Gefahrenabwehr können hier ansetzen. Es verdienen auch Meldungen bzw. Ereignisse Aufmerksamkeit, die die vigilantistischen Reaktionen bzw. Racheaktionen nach sich ziehen können: vermeintliche oder tatsächliche Übergriffe linker Aktivisten sowie vermeintliches oder tatsächliches delinquentes Verhalten von Asylsuchenden, die eine mobilisierende Wirkung entfalten. Überdies verdient der linksextreme Vigilantismus erhöhte Aufmerksamkeit. Bekannte Maßnahmen der situativen Prävention an „exponierten“ Objekten mit Asylbezug erschweren den Taterfolg. Die Polizeipräsenz kann zwar abschreckend wirken, infolge der Zielgruppenverschiebung befinden sich jedoch Beamte selbst im Fadenkreuz der „Volkskontrollinstanzen“.

Abschließend sei hervorgehoben, dass nur die Instanzen der formellen Sozialkontrolle imstande und legitimiert sind, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen. Aus diesem Grund braucht auch die Polizei problemorientierte Präventionsansätze, die aufgrund der Evaluation ergriffener Maßnahmen sowie ihrer Wirksamkeit und unter Berücksichtigung der Radikalisierungsdynamiken kriminalstrategische Eckpunkte definieren.

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