Kollaboration gegen den „Kapitalismus“ – Über die Kooperation, Kumpanei und Komplizenschaft von RAF und SED

Von Dr. Harald Bergsdorf, Dümpelfeld¹

 

5 Zehn Festnahmen im Sommer 1990


Erst zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung verhafteten Beamte des Zentralen Kriminalamtes der DDR im Sommer 1990 in Kooperation mit westdeutschen Sicherheitsbehörden die zehn demobilisierten RAF-Terroristen in der DDR, darunter Susanne Albrecht, deren ostdeutscher Ehemann und Vater ihres kleinen Sohnes damals „aus allen Wolken gefallen sein soll“.17 Er hatte offenbar weder eine Ahnung noch gar Kenntnisse vom Vorleben seiner Ehefrau. Neben Albrecht gehörte Werner Lotze zu den Festgenommen.18 Auch ihn hatten bundesdeutsche Zielfahnder lange Jahre vergeblich gesucht. Gegen Lotze bestand damals lediglich ein Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts, 1979 an zwei Banküberfällen der RAF beteiligt gewesen zu sein.


Nachdem die Polizei ihn am 12. Juli 1990 per Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen hatte, gestand er seinem Vernehmer in der Generalbundesanwaltschaft, Klaus Pflieger, unter Tränen rasch vor allem einen Mord, den die zuständigen Behörden ihm bis dahin gar nicht zugeordnet hatten: So hatte Lotze, wie er erklärte, am 24. September 1978 den Polizeibeamten Hans-Wilhelm Hansen bei einem Schusswechsel in einem Wald bei Dortmund von hinten erschossen – nur einer von insgesamt zehn durch die RAF getöteten Polizeibeamten. Weil die Debatte über die RAF vor allem deren weniger prominente Opfer gerade auch aus der Polizei oft vernachlässigt, ist es besonders bedeutsam, immer wieder an sie zu erinnern: Norbert Schmid, Herbert Schoner, Hans Eckhardt, Fritz Sippel, Reinhold Brändle, Helmut Schoner, Roland Pieler, Arie Kranenburg, Hans-Wilhelm Hansen und Michael Newrzella.


Im deutlichen Unterschied zur großen Mehrheit der RAF-Terroristen, die bis heute eine omertà praktiziert, wollte Lotze, Vater einer damals kleinen Tochter, offenbar eine Lebensbeichte ablegen. Seine umfassenden Aussagen gegenüber den Behörden begründete er mit dem Hinweis, er sei „davon ausgegangen, über kurz oder lang mit meiner Tochter reden zu müssen […] Das ist eine Frage des Verhältnisses untereinander, von mir zu meiner Frau, zu meiner Tochter. Es kann da keine Ecken und Nischen geben, wo noch irgendwas zurückgehalten wird“.19 Er habe sich vor allem auf Fragen seiner Tochter einstellen wollen, ob bzw. warum er einen Polizeibeamten ermordet habe.20 Außerdem berichtete er über seine Mitwirkung an weiteren RAF-Verbrechen und über Tatbeteiligungen anderer RAF-Mitglieder.


Dadurch profitierte er von der Kronzeugenregel (§ 46b StGB21). Deren zentrales Ziel bestand und besteht darin, sowohl konkretes Insiderwissen über begangene oder geplante Verbrechen zu erlangen als auch terroristische oder kriminelle Gruppierungen durch „Verräter“ in ihrem Innern zu verunsichern und zu erschüttern. Die Regelung bot und bietet Straftätern die Chance, umfassend mit zuständigen Behörden zu kooperieren, um die eigene Lage zu verbessern, erheblichen Strafnachlass zu erlangen und um möglicherweise auch das eigene Gewissen zu erleichtern. Wenn „Verräter“ von der zumindest damals hoch umstrittenen Regelung („Sündenfall des demokratischen Rechtsstaates“; “schreiendes Unrecht“) profitieren wollen, müssen sie zwingend nicht nur über ihre eigenen Tatbeiträge aussagen, sondern eben auch über jene ihrer Mittäter.


Das Oberlandesgericht München verurteilte Lotze aufgrund der Kronzeugenregel trotz vollendeten und versuchten Mordes sowie weiterer Straftaten letztlich lediglich zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren. Tatsächlich gelangte Lotze – trotz des vollendeten Mordes am Polizeibeamten Hansen – u.a. wegen seiner günstigen Sozialprognose bereits nach fünfeinhalb Jahren auf Bewährung aus der Haft in die Freiheit. Das empörte viele Beobachter. Ohne die Kooperation Lotzes mit den Ermittlungsbehörden hätte er höchstwahrscheinlich eine lebenslängliche Strafe erhalten. Stattdessen profitierte Lotze als langjähriger Feind des demokratischen Rechtsstaates von ihm. Ende 1990 appellierte er an seine RAF-Gesinnungsgenossen, sie sollten und müssten ebenfalls aufhören, zu morden und andere Straftaten zu begehen.22


Der Aussagebereitschaft Lotzes folgten später weitere RAF-Aussteiger aus der DDR. Durch ihre Angaben aufgrund innerer Überzeugung und/oder reinem Pragmatismus bzw. Opportunismus gelang es, weitere RAF-Straftaten aufzuklären und die daran beteiligten Terroristen zu verurteilen.23 So fand die Polizei durch Aussagen von RAF-Aussteigern aus der DDR u.a. ein RAF-Depot in den Niederlanden. Keine Belege, sondern lediglich vage Indizien gibt es bislang für die These, das MfS habe bereits 1977 durch seine Zuträger im Westen einen wertigen Hinweis auf jene Wohnung in Erftstadt bei Köln verschwinden lassen, in der die RAF Hanns Martin Schleyer zuerst versteckt hatte, um ihn später nach Den Haag und dann nach Brüssel zu verschleppen. In ihrer Tatbekennung hatte die RAF damals in besonders menschenverachtender Art geschrieben, sie habe Schleyers „klägliche, korrupte Existenz beendet“.24


Am 5. September 1977 hatte die RAF in Köln die vier Begleiter Hanns Martin Schleyers erschossen, um den damaligen Arbeitgeberpräsidenten zu entführen, bevor sie auch ihn ermordeten. Bereits wenige Tage nach Schleyers Entführung lieferte ein Polizeibeamter aus Erftstadt bei Köln einen handfesten Hinweis auf das Versteck, in das die RAF ihr Opfer verschleppt hatte. Doch das entsprechende Fernschreiben 827 versackte und versandete bei der Polizei, ohne dass die Beamten die große Chance hätten nutzen können, Schleyer lebend zu befreien und zu retten. Im Kern untersucht das neue Buch von Georg Bönisch und Sven Röbel, warum der wertige Hinweis auf das Versteck („Volksgefängnis“) in Erftstadt verschwand, ob keine schnöde Schlamperei, keine Überforderung oder kein Unvermögen, sondern eher MfS-Agenten die Nadel im Heuhaufen verschwinden ließen, weil die SED fürchtete, durch die Großfahndung nach den RAF-Tätern könnten auch gut platzierte MfS-Agenten (SED-Jargon: „Kundschafter des Friedens“) in infiltrierten Behörden der Bundesrepublik (SED-Jargon: „Operationsgebiet“) auffliegen.


Das Buch basiert eher auf bereits ausgewertetem Schriftgut als auf neuem Material. Immerhin haben die Autoren, wie sie erklären, erstmals u.a. ehemalige MfS-Zuträger aus dem Großraum der damaligen Bundeshauptstadt ausführlich interviewt, um Hintergründe der schweren Fahndungspanne im „Fall Schleyer“ auszuleuchten und aufzuhellen. Offen bilanzieren die Autoren, sie hätten keine „smoking gun“ entdeckt: „Konkrete Belege, dass nachrichtendienstliche Aktivitäten Ost-Berlins die westdeutschen Ermittlungen damals direkt beeinflussten, ließen sich keine finden“. Für ihre Hauptthese liefern die Autoren tatsächlich keine Belege bzw. Fakten, sondern lediglich Spekulationen und sehr vage Indizien, darunter Wohnungen von MfS-Zuträgern in der Nähe des Verstecks in Erftstadt. Dennoch hegten die SED und ihr MfS – als dem Hauptherrschaftsinstrument der Diktaturpartei – grundsätzlich ein hohes Interesse, die Bundesrepublik u.a. durch Unterstützung der RAF zu destabilisieren, wie sich auch vor und nach 1977 zeigte.

 

6 Andere Formen der Kooperation


Bereits Anfang der 1980er-Jahre hatte das MfS außerdem sogar aktive RAF-Terroristen wie Christian Klar protegiert, der in der DDR eine medizinische Behandlung erhalten und im sicheren Hinterland des SED-Staates u.a. den Einsatz einer Panzerfaust geübt hatte (MfS-Operativfall „Stern 1“). Inwieweit solche Übungen der direkten, konkreten Vorbereitung von Anschlägen dienten und ob das MfS zum Beispiel noch 1989 an der technisch elaborierten Ermordung Alfred Herrhausens mitgewirkt hat, scheint bislang unklar. Neben Klar erhielt Inge Viett („Maria“) in der DDR durch das MfS eine militärische Ausbildung.25 Viett rangierte auf den damaligen Fahndungslisten weit oben, weil sie 1981 den Polizisten Francis Violleau in Paris durch Pistolenschüsse für den Rest seines Lebens zum Pflegefall gemacht hatte.


Nach der Verhaftung der zehn demobilisierten RAF-Mitglieder 1990 verklärten ehemals zuständige MfS-Verantwortliche die SED-Komplizenschaft mit der RAF als einen Beitrag zur Terrorbekämpfung. Letztlich verurteilte kein Gericht auch nur eine Person aus der SED oder ihrer Geheimpolizei für die Kollaboration mit der RAF zu einer Haftstrafe.26 Im Ergebnis leisteten sowohl das Ende der SED-Diktatur, weil die RAF damit einen wichtigen Helfer verlor, als auch die Praxis der Kronzeugenregel, die RAF-internes Vertrauen zerstörte, einen wichtigen Beitrag zur späteren Selbstauflösung der RAF 1998. Hinzu kommt: Im Kontrast zur RAF-Propaganda regierten in der Wahrnehmung der übergroßen Mehrheit der Bundesbürger in der „BRD“ vor allem weder ein „faschistisch-repressives“ Regime noch „Massenverelendung“.27 Solche Verhältnisse existierten eher in RAF-Köpfen als in der bundesdeutschen Realität. Uwe Backes prägte daher die überspitzte Formel vom RAF-„Terror im Schlaraffenland“. Letztlich mangelte es in der bundesdeutschen Bevölkerung massiv an der Bereitschaft, der RAF und ihren Umsturzphantasien zu folgen.

 

7 Ausblick


Grundsätzlich ist auch künftig eine Mischung aus Härte und Besonnenheit in Auseinandersetzungen mit Extremismus und Terrorismus gefragt. Weiterhin sind Demokratiegegner und -feinde jeglicher Couleur mit Maß und Mitte möglichst konsequent ohne Über- oder Unterreaktionen zu bekämpfen. Diese Gratwanderung bleibt für die rechtsstaatliche Demokratie stetige Herausforderung für die Zukunft. Hierbei geht es u.a. darum, Agitation und Propaganda von Extremisten und Terroristen sachlich und sachdienlich zu widerlegen – in einer gleichermaßen differenzierten und deutlichen Diktion.