Kollaboration gegen den „Kapitalismus“ – Über die Kooperation, Kumpanei und Komplizenschaft von RAF und SED

Von Dr. Harald Bergsdorf, Dümpelfeld¹

 

4 Praxis der SED-RAF-Kooperation


Gerade nach dem Ende der Schleyer-Entführung und nach der „Stammheimer Todesnacht“ grassierten in Teilen der RAF sowohl Resignation als auch Ausstiegswille. In der DDR schienen die demobilisierten „Kämpfer“, ohne hohen Fahndungsdruck durch das Bundeskriminalamt, vor dessen Zugriff weitgehend sicher. Denn fast selbstverständlich verzichtete das MfS konsequent darauf, die gesuchten RAF-Mitglieder bundesdeutschen Sicherheitsbehörden zu übergeben. Die demobilisierten RAF-Terroristen selbst wollten offenbar lieber im „Realsozialismus“ leben als in bundesdeutschen Gefängnissen landen.


Nur kurzzeitig hatten SED und RAF zuvor erwogen, die demobilisierten „Kämpfer“ in einem afrikanischen Land anzusiedeln, z.B. Angola, Mosambique oder Kap Verden, mit denen die SED enge Beziehungen pflegte. Doch eine solche Lösung in Afrika für die westdeutschen RAF-Aussteiger bewertete die SED bald als zu auffällig, zu gefährlich und zu wenig praktikabel, u.a. deshalb, weil es den ausrangierten Terroristen an Kenntnissen des Portugiesischen als der Landessprache in Angola, in Mosambique und auf den Kap Verden mangelte. Auch litten die drei Länder aus SED-Sicht, u.a. wegen der Aktivitäten „konterrevolutionärer Kräfte“, an politischer Labilität – im Kontrast zur damals eher stabilen DDR. Um möglichst wenig aufzufallen, mussten die neuen DDR-Bürger freilich später auch in der DDR erst die Alltagssprache erlernen, wie Inge Viett schreibt.12 Ohnehin beäugten auch in der DDR manche Bürger die Neuankömmlinge aus dem Westen besonders aufmerksam, weil eine Einwanderung aus der Bundesrepublik in den SED-Staat natürlich sehr ungewöhnlich schien – in der Regel verlief die Migration eben in umgekehrte Richtung.


Auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf und Rückzugsraum für kampfesmüde Terroristen, die für ihre Genossen zunehmend eine Belastung und Gefahr bedeuteten, einigten sich RAF und MfS im SED-Auftrag daher 1980 darauf, zehn RAF-Mitglieder (Susanne Albrecht; Silke Maier-Witt; Werner Lotze und Christine Dümlein; Ekkehard von Seckendorff und Monika Helbing; Ralf Baptist Friedrich und Sigrid Sternebeck; Inge Viett; Henning Beer) im SED-Staat, im ganz nahen Osten, legendiert mit neuer Identität und neuen Ausweispapieren unterzubringen und zu beherbergen (MfS-Operativfall „Stern 2“). Hierfür mussten die RAF-Aussteiger weitgehend fingierte Lebensläufe vorlegen. Darin nannten sie gemeinhin ausländische Städte faktenwidrig als ihren Geburtsort und deklarieren die eigenen Eltern realitätsfern als verstorben, um Nachfragen und -forschungen zu erschweren.


In ihrem handschriftlich verfassten, erhalten gebliebenen „Lebenslauf“ bekundete zum Beispiel Monika Helbing 1980, sie sei in die DDR eingewandert, weil sie in einem Land leben wolle, das „an der Seite der befreiten Länder und Befreiungsbewegungen der 3. Welt gegen den Imperialismus kämpft“.13 Silke Maier-Witt erbat 1980 ebenfalls Aufnahme in die DDR, „um mich auf diese Weise am Kampf für den Frieden, für den Aufbau des Sozialismus gegen den Imperialismus zu beteiligen“.14 Später ließ die SED die reale Integration der RAF-Aussteiger in die DDR regelmäßig untersuchen. Demgemäß hielt das MfS die RAF-Aussteigerin Monika Helbing („Elke Köhler“) für „loyal gegenüber unserem Staat“,15 wie nicht vernichtete Aktenfunde in insgesamt weit über 100 Regalkilometern MfS-Schriftgut zeigen – Helbing hatte 1977 die Wohnung in Erftstadt-Liblar („Volksgefängnis“) unter einem Falschnamen angemietet, in der die RAF ihr Entführungsopfer Hanns Martin Schleyer zuerst versteckte.


In der DDR unterstützte das MfS die RAF-Aussteiger einerseits finanziell, aber auch durch Arbeitsplätze („RAF in die Produktion“) und Wohnungen – möglichst unauffällig in eher unpersönlich-anonymen Gegenden und weit entfernt sowohl von Transitstrecken als auch der Westgrenze. Andererseits kontrollierte die Stasi die westdeutschen Neubürger, indem sie u.a. ihre Post überwachte, ihre Telefone abhörte und ihre Wohnungen verwanzte. Durch die Beobachtung und Bearbeitung der RAF-Aussteiger wollte das MfS u.a. möglichst frühzeitig mitbekommen, wenn westdeutsche Zielfahnder auf die DDR-Spuren der RAF gelangen sollten. Daher überwachten bis zu 20 „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM) die RAF-Aussteiger. Weil die SED eine Dekonspiration ihrer Liaison mit der RAF fürchtete, überwachte das MfS die RAF-Ruheständler und ihre persönlichen Kontakte in der DDR.16 Dadurch erfuhr das MfS, wie einige RAF-Aussteiger u.a. eine ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit und einen massiven Materialismus mancher DDR-Bürger bemerkten, die aus SED-Sicht eher Untertanen waren.


Zugleich arbeiteten einige der demobilisierten RAF-Kader selbst als IM für das MfS, u.a. Silke Maier-Witt („Anja Weber“), die an der Entführung und Ermordung Schleyers und seiner Begleiter beteiligt gewesen war, und Susanne Albrecht („Ernst Berger“), die als „Türöffnerin“ an der Ermordung Jürgens Pontos, eines engen Freundes ihrer Eltern, mitgewirkt hatte. So lieferten die IM u.a. Stimmungsberichte aus „volkseigenen“ Betrieben und denunzierten DDR-Bürger, denen es an politischer Linientreue mangele. Später gab das MfS einigen der RAF-Aussteiger, weil deren Enttarnung bzw. Dekonspiration durch Westbesucher und durch Fahndungs-Hinweise aus dem „BRD“-Fernsehen drohte, nochmal eine neue Identität, zum Beispiel Silke Maier-Witt, die damals als Krankenschwester in Erfurt lebte, also mitten in Deutschland.