Antizionismus und Antisemitismus im Linksextremismus

Von Dr. Udo Baron, Hannover¹

 

7 Postkoloniale Linke


Der Postkolonialismus ist eine geistige und politische Strömung, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus entwickelte. Postkoloniale Linke gehen davon aus, dass die früheren Kolonien nur politisch befreit seien, jedoch weiterhin durch die Hegemonie eurozentrischer Sichtweisen beherrscht würden. Der Postkolonialismus setzt der Vorstellung einer westlichen Zivilisation, die der Welt Demokratie und Menschenrechte, Fortschritt und Wohlstand gebracht hat, die koloniale Erfahrung vieler Weltregionen entgegen, die den Westen vor allem in Form von Fremdherrschaft und Ausbeutung erlebt hatten. Das westliche Gesellschafsmodell, basierend auf der Grundlage individueller Freiheit, Pluralismus, Marktwirtschaft und Wettbewerb, gilt Postkolonialisten als strukturell zerstörerisch und diskriminierend.20


Die postkoloniale Migrationscommunity lehnt eine Assimilation von Migranten als rassistisch ab. Postkoloniale ergreifen für alle vermeintlich Unterdrückten gleichermaßen unkritisch Partei und verklären sie. Israel ist für sie vor diesem Hintergrund nur eine „weiße Siedlerkolonie Nichtindigener“.21 Ähnlich wie bei den antiimperialistisch ausgerichteten Linksextremisten gilt ihr Mitgefühl ausschließlich den vertriebenen Palästinensern und den Opfern israelischer Vergeltungsschläge. Jüdische Opfer sind ihnen dagegen keine Erwähnung wert. Mit ihnen gibt es keine Solidarisierung. Vielmehr wird die permanente Bedrohung jüdischen Lebens kategorisch ausgeblendet. Nicht mehr der Arbeiter, so scheint es, sondern der Palästinenser ist zum neuen revolutionären Subjekt der postkolonialen Linken geworden und die Hamas ihr Heros. Aus diesem Grunde haben Postkoloniale auch keine Probleme, gemeinsame Sache mit Antisemiten zu machen. So kursieren in diesen Kreisen Darstellungen Palästinas, auf denen der Staat Israel gemäß der Parole „From the river to the sea, Palastine will be free“ zu Gunsten eines palästinensischen Staates aufgehört hat zu existieren.22


Vor allem an Hochschulen, bundesweit und international, hat der postkoloniale Ansatz zurzeit Hochkonjunktur. Dass es dabei nicht nur bei Parolen bleibt, zeigen zahlreiche antisemitische Vorkommnisse der jüngsten Zeit. So demonstrierten am 13.11.2023 etwa 100 Studenten der Berliner Universität der Künste in der Eingangshalle mit den Parolen „Stop colonialism“ oder „Condem genocide“. Die Innenflächen ihrer Hände hatten sie rot bemalt, angeblich um zu zeigen, dass Israel Blut an seinen Händen habe. Die blutverschmierten Hände sollten aber zugleich auch an die Bluttat eines palästinensischen Mobs vom Oktober 2000 im Westjordanland an zwei Israelis erinnern. Nach der Tat zeigte einer der Mörder am Fenster seine mit dem Blut der Opfer verschmierten Hände.23 An der Freien Universität Berlin besetzten Studierende Mitte Dezember 2023 einen Hörsaal. Dabei kam es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit jüdischen und proisraelischen Studierenden. In der Nacht auf den 3.2.2024 hat ein 23-jähriger Student einen 30 Jahre alten Kommilitonen jüdischen Glaubens in Berlin-Mitte mehrmals ins Gesicht geschlagen und schließlich auf den am Boden liegenden Mann eingetreten, weil dieser gegen israelfeindliche Demonstrationen protestiert hatte.24 Immer wieder werden zudem auf Demonstrationen von Palästinensern und linken Studenten Parolen wie „Stoppt den Mord, stoppt den Krieg, stoppt den Gaza-Genozid“ skandiert.25 Postkoloniale Linke schufen somit in der letzten Zeit an Universitäten bzw. im studentischen Milieu ein weitgehendes Klima der Angst mit der Folge, dass sich viele jüdische Studenten kaum mehr in Lehrveranstaltungen trauten.

 

8 Ausblick


Kritik an der Politik Israels und seiner Repräsentanten muss möglich sein und ist möglich. Im Gegensatz zu dem gängigen Narrativ, dass durch Antisemitismusvorwürfe Kritik an Israel delegimitiert und propalästinensische Stimmen zum Schweigen gebracht werden sollen, haben seit dem 7.10.2023 unzählige propalästinensische Veranstaltungen stattgefunden – oftmals mit antisemitischen Anklängen und Vorfällen wie die Ereignisse insbesondere an Berliner Hochschulen gezeigt haben. Dort, wo die Kritik als Feindschaft gegenüber Juden als Juden erkennbar wurde, haben staatliche Stellen eingegriffen. Dabei wurde deutlich, dass antizionistische und antisemitische Einstellungen nicht nur im Rechtsextremismus und Islamismus vorhanden sind, sondern auch innerhalb der linksextremistischen Szene. Zwar werden entsprechende Haltungen offiziell verurteilt, da sich Linkextremisten formell als antirassistisch verstehen. Dennoch trifft man auch in diesem Spektrum auf eine gewisse „Tradition“ von Antisemitismus, die bereits bei den marxistischen und anarchistischen Klassikern anzutreffen ist und immer wieder reflexartige Reaktionen nach sich zieht. Unter einigen linksextremistischen Gruppierungen lassen sich auch heutzutage deutliche antizionistische bis hin zu antisemitischen Grundeinstellungen feststellen. Vor allem antiimperialistisch und postkolonial ausgerichtete Linksextremisten stehen dem jüdischen Staat kritisch bis ablehnend gegenüber. Sie schweigen zu den Verbrechen von Palästinensern und Muslimen und wollen das Leid der Israeli nicht sehen. Sie nehmen Israel in erster Linie als den Repräsentanten des westlichen Kapitalismus und Imperialismus im Nahen Osten wahr, der die arabische bzw. palästinensische Welt ausbeutet und unterdrückt. Aus diesem Grunde solidarisieren sie sich mit den Palästinensern und nehmen eine einseitig pro-arabische bzw. pro-palästinensische Grundposition ein.


Nicht jede Kritik am jüdischen Staat ist aber zugleich auch antisemitisch. Vielmehr gilt die Feststellung des Politikwissenschaftler Pfahl-Traugbher, dass jede Aussage, die eine israelfeindliche Grundposition hat, auch durch eine judenfeindliche Grundposition motiviert sein muss, um sie als antisemitisch zu bezeichnen.26 Antisemitistische Einstellungen innerhalb der linksextremistischen Szene werden deutlich, wenn angebliche jüdische Prägungen für das israelische Vorgehen verantwortlich gemacht werden. Dies gilt etwa für die Behauptung, der „jüdische Rachegeist“ erkläre die Palästinenserpolitik. Auch Anspielungen auf Konspirationsvorstellungen können dabei eine Rolle spielen, wenn „die Juden“ als eine „gefährliche Lobby“ oder „geheime Macht“ charakterisiert werden, die im Hintergrund unsichtbar die Strippen ziehen. Derartige Behauptungen übertragen „klassische“ Formen der Judenfeindschaft nur auf die gegenwärtige Situation. Wird dann noch mit den antisemitischen Feinden von Israel sympathisiert oder gar zusammengearbeitet, sind Grenzen zur Judenfeindschaft in der Praxis bereits überschritten.


Der Antisemitismus ist kein konstitutives Element im bundesrepublikanischen Linksextremismus. Antisemitische Einstellungen, gar antiisraelische Vernichtungsphantasien, werden innerhalb der linksextremistischen Szene kaum diskutiert. Es lässt sich daher bislang keine allgemeine Feindschaft gegenüber Juden als Juden im Linksextremismus feststellen. Vor dem Hintergrund des Terrorangriffs der Hamas auf Israel und den daraufhin erfolgten Krieg in Gaza ist – ausgenommen sind die antideutsch und proisraelisch ausgerichteten Linksextremisten – aber eine zunehmende Radikalisierung vor allem im antiimperialistisch und antikolonial ausgerichteten Linksextremismus gegenüber Juden nicht zu übersehen. Zumindest so lange die Konflikte im Nahen Osten andauern, muss daher auch weiterhin mit gewalttätigen Übergriffen auch von Linksextremisten auf Menschen jüdischen Glaubens gerechnet werden.