Vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch den Einsatz von automatischen Kennzeichenlesesystemen

2.3 BVerfG und Strafverfolgungs-/Straftatenvorsorge

An der rechtlich zulässigen Strafverfolgungs- bzw. Straftatenvorsorge mit dem Regelungsstandort des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ändert auch die Entscheidung des BVerfG zum verfassungswidrigen § 33a Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Nds. SOG grundsätzlich nichts. Das Gericht entschied zwar, dass der niedersächsische Gesetzgeber seine Gesetzgebungskompetenz durch die Regelung über die Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten überschritten hatte, traf damit aber keine endgültige Entscheidung dem Grunde nach betreffend die Zulässigkeit der Strafverfolgungs- bzw. Straftatenvorsorge im Regelungspaket der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten als solche. Denn die Telekommunikationsüberwachung war nicht nur auf die Verhütung von Straftaten beschränkt, sondern sah in § 33a Abs. 1 Nrn. 2 und 3 Nds. SOG auch die „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ als eigenständiges Tatbestandsmerkmal vor. Damit stellte der Landesgesetzgeber nicht auf die zulässige „Verhütungsvorsorge“, sondern einzig auf die „Verfolgungsvorsorge“ ab. Für die Regelung der Strafverfolgung steht allein dem Bund die konkurrierende Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 4 GG – im Sinne des gerichtlichen Verfahrens – und nach Art. 72 GG zu.45 Zu dieser gehört es auch, festzulegen, welche Maßnahmen die Polizei zur Aufklärung von Straftaten sowie zur Fahndung nach Personen und Sachen ergreifen darf.46 Erfasst ist damit nicht nur die Verfolgung bereits begangener Straftaten, sondern auch die präventive Vorsorge für die potenzielle Verfolgung künftiger Straftaten.47 Intendiert wird infolgedessen der so genannte „Verfolgungsvorsorgezweck“,48 der dem Grunde nach auf die antizipierte Strafverfolgung abzielt. Der „Verhütungsvorsorgezweck“49 mit seiner kriminalstrategischen Dimension präventiver Kriminalitätsbekämpfung bleibt davon jedoch völlig unberührt;50 dieser fällt – nach wie vor – in die Gesetzgebungskompetenz der Länder im Sinne der Art. 30, 70 GG und ist demzufolge dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht zuzuordnen.51
Auch wenn Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für „das gerichtliche Verfahren“ zuweist und diese Kompetenz in ihrem Wortlaut keine Einschränkung dahin enthält, dass Maßnahmen, die sich auf künftige Strafverfahren beziehen, von der Zuweisung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nicht erfasst sein sollen, ist dennoch zu berücksichtigen, dass die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im Sinne des § 1 Abs. 3 ASOG Bln in erster Linie vom Verhütungsaspekt bei späterer Verfolgung von Straftaten bzw. gefährlichen Straftätern beherrscht wird.52 Insoweit stehen die in § 1 Abs. 1 Satz 2 VE ME PolG 1986 geregelten Unterfälle der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten – die Verhütung derselben und die Vorsorge für die spätere Strafverfolgung – tatsächlich und unverbrüchlich in einem untrennbaren Zusammenhang.53 Dies kommt klarer denn je mit dem Aspekt der „Verhütungsvorsorge“ zum Ausdruck. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass nach Auffassung des BVerfG zu §§ 81g StPO, 2 DNA-IDF54 für die Zuordnung eines Gesetzes zu einer Kompetenzregel nur der Gegenstand des Gesetzes maßgeblich ist, nicht sein Anknüpfungspunkt und auch nicht die Frage seiner inhaltlichen Rechtmäßigkeit.55 Vorschriften, die ausschließlich der Beschaffung von Daten zur Verwendung in Strafverfahren dienen, sind dem Strafverfahrensrecht zuzuordnen.56 Auch in diesem Fall ging es allein um die Zwecke der (künftigen) Strafverfolgung; die Vorschriften waren nicht zugleich auch auf die Gefahrenabwehr ausgerichtet und demzufolge auch nicht auf den Verhütungsvorsorgezweck.57 Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten ist rechtlich stets als ein Unterfall der Gefahrenabwehr zu qualifizieren.58 Nicht umsonst wird im ASOG Bln der § 1 Abs. 3, der in toto die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten in dieser speziellen Aufgaben-Zuweisungsnorm regelt, im Vorspann mit den Worten „im Rahmen der Gefahrenabwehr“ eingeleitet.59 Anmerkung: Soweit von der hier befehdeten Meinung überhaupt verfassungsrechtlich argumentiert wird, läuft der Hinweis auf Art. 31 GG, die grundgesetzliche Kompetenzverteilung lasse die StPO als Bundesrecht dem landesrechtlichen Polizeirecht vorgehen,60 schlechthin ins Leere laufen. Denn Art. 31 GG ist keine Kompetenznorm, sondern eine Kollisionsnorm.61 Der Verstoß gegen die Kompetenzvorschriften macht die Norm bereits nichtig und schließt einen Rückgriff auf Art. 31 GG aus.62

3 Fahndung und Gesetzgebungskompetenz


3.1 Fahndung


Fahndung ist ein polizeilicher Grundbegriff63 zur Bezeichnung der planmäßigen allgemeinen oder gezielten Suche nach Personen oder Sachen im Rahmen der Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung sowie der Strafvollstreckung. Zur Fahndung bedarf es stets der Kenntnis und Weitergabe bestimmter Merkmale zur gesuchten Person und/oder Sache. Je dezidierter die Erkenntnismerkmale und je eingegrenzter der Fahndungsraum ist, desto wahrscheinlicher ist der Einsatzerfolg.64 Eine Fahndungsmaßnahme kann demzufolge entweder strafverfolgende oder gefahrenabwehrrechtliche Ziele verfolgen, aber auch beiden Zwecken zugleich dienen.65 Welcher Zweck vorrangig und damit welche Ermächtigung einschlägig ist, entscheidet sich nach dem objektiven Zweck der Maßnahme, der vorrangig von der Polizei angestrebt wird. Im Falle so genannter doppelfunktionaler Maßnahmen in Gemengelage ist das Schwergewicht der Maßnahme entscheidend. Soll die anlassbezogene automatische Kennzeichenfahndung beiden Aufgabenfeldern gleichzeitig dienen, spricht man von Doppelfunktionalität oder doppelfunktionalen Eingriffen. Beispielsweise kann das Video-Scanning von Kfz-Kennzeichen zum einen dazu dienen, Straftaten aufzuklären, und zum anderen, weitere zu verhindern. In solchen Fällen ist einmal mehr zu klären, welche Aufgabe vorrangig ist und wo der Schwerpunkt der Maßnahme liegt, obwohl sich bereits aus dem Menschenbild des Grundgesetzes der prinzipielle Vorrang der Prävention vor der Repression ergibt. Dieser Vorrang zieht sich wie ein roter Faden durch alle Tätigkeiten der Polizei hindurch. Insoweit ist auf Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GG zu verweisen. Denn die Wertentscheidungen des Grundgesetzes mit seinen Grundrechten stellen objektiv verbindliches Recht für polizeiliches Handeln dar. Bei einer solchen Doppelfunktionalität der Maßnahme kommt es also auf ihren Schwerpunkt – so genannte Schwergewichtstheorie – an, der nicht nach der Wahl der Rechtsgrundlage, sondern – objektiv – nach der gegebenen Situation zu bestimmen ist.66 Der Fahndung dienen u.a. das Bundeszentralregister, die Verkehrszentralregister, EDV-Fahndungssysteme der Polizei (z.B. INPOL/INPOL-Neu) und das Schengener Informationssystem (SIS). Für den Einsatz von AKLS mit automatisierter Kennzeichenerkennung von Bedeutung sind jene Fahndungssysteme, die einen schnellen, digitalisierten Datenabgleich zulassen. Dies ist bei INPOL/INPOL-Neu und dem stetig anwachsenden Bestand an Daten im SIS der Fall. Die hierbei insbesondere zu betrachtende Sachfahndung dient vor allem der Ermittlung von Sachen oder Gegenständen, die zur Begehung von Straftaten benutzt wurden oder durch sie hervorgebracht worden sind und zugleich der Sicherstellung von Sachen oder Gegenständen, von denen eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne ausgeht. Ziel ist auch das Auffinden von Kraftfahrzeugen, deren Insassen festgestellt werden sollen. Hierbei konkurrieren Zwecke der Gefahrenabwehr mit denen zur Strafverfolgung. Einmal mehr kommt es auf die so genannte Schwergewichtstheorie an.67
§ 24c Abs. 2 ASOG Bln enthält wie andere landesrechtliche Regelungen zur Gefahrenabwehr – z.B. § 36a Abs. 2 BbgPolG und Art. 33 Abs. 2 Satz 3, insbesondere Satz 4 BayPAG – die Ermächtigung zum Abgleich und zur Verarbeitung der erhobenen Daten mit dem zur Abwehr der Gefahr im Sinne des § 24c Abs. 1 ASOG Bln gespeicherten polizeilichen Fahndungsbestand. Dieser Datenbestand umfasst nicht sämtliche polizeiliche Dateien, sondern ist beschränkt auf Daten, die im konkreten Einzelfall zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Rechtsgüterverletzung gespeichert wurden. Damit ist gewährleistet, dass die automatische Kennzeichenfahndung ausschließlich zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr oder zur Bekämpfung unmittelbar bevorstehender Straftaten von erheblicher Bedeutung eingesetzt wird. Mag auch der Aspekt der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten nahe liegend sein, erfolgt eine tatbestandliche Sperrung gerade durch den gewählten Gefahrenbegriff. Zugleich wird damit deutlich, dass eine Nutzung zu anderen Zwecken – beispielsweise Erstellen von Bewegungsbildern – ausdrücklich unzulässig ist.68 Dass ein durch das AKLS gemeldeter „Treffer“ unverzüglich manuell auf Datenübereinstimmung zu überprüfen ist, ist ein unverzichtbares Essential. Denn die Bestimmung setzt (genau) das um, was BVerfG und BVerwG betreffend die Aufrechterhaltung der Anonymität des Inhabers – kein Grundrechtseingriff in das RiS – bei mangelnder Übereinstimmung von tatsächlich erhobenem Fahrzeugkennzeichen und fehlender Notierung im Fahndungsbestand fordern: schnellstmögliche Erkennung einer „Fehlermeldung“ bzw. eines „Fehltreffers“ und zugleich unverzügliche Löschung des erfassten Kennzeichens.69 Dies stärkt den Grundrechtsschutz durch Verfahren, indem ungerechtfertigte Folgemaßnahmen verhindert werden.70 Eine Regelung wie im Art. 33 Abs. 2 Satz 5 BayPAG, wonach die Kennzeichenerfassung nicht flächendeckend eingesetzt werden darf, was voll und ganz dem strengen Erfordernis des BVerfG mit Urteil vom 11.3.2008 entspricht, fehlt leider in § 24c ASOG Bln; im Übrigen auch im § 36a Abs. 2 BbgPolG. Dies hätte der Berliner Gesetzgeber wegen der Normenklarheit und verfassungskräftigen Bestimmtheit von Eingriffsermächtigungen unbedingt regeln müssen, und zwar in Form einer „Muss“-Regelung.