Schusswaffengebrauch unter strafverfolgender Zielsetzung (Teil 1)

2 Rechtsgrundlagen des polizeilichen Schusswaffengebrauchs

Wie in den Vorbemerkungen bereits angesprochen, sind für die Zulässigkeit des Schusswaffengebrauchs durch die Polizei rechtssystematisch zwei Fallgruppen zu bilden: Jene, die den Schusswaffengebrauch unter rein gefahrenabwehrenden Aspekten betreffen und solche, die den Schusswaffengebrauch unter strafverfolgender Zielsetzung regeln. Abgesehen davon wird eine weitere Rechtsgrundlage – ein dritter Normenkanon – für den Schusswaffengebrauch in den sog. Notrechten gesehen.16 Hierbei handelt es sich um die im StGB und im BGB verankerten Rechte der Notwehr, Nothilfe und des Notstandes. Deren Geltung als Rechtsfertigung war für Amtsträger lange Zeit umstritten. In Lehre und Schrifttum galt die Auffassung, dass Amtsträger, machen sie in Ausübung ihres Dienstes von der Schusswaffe Gebrauch, strikt an die öffentlich-rechtlichen Vorschriften gebunden sind, die den hoheitlichen Schusswaffengebrauch regeln. Erst Anfang der siebziger Jahre des letzten Millenniums verfestigte sich zunehmend stärker – gestützt durch straf- und zivilgerichtliche Entscheidungen17 – die Auffassung, dass ein Amtswalter, der in eine Notwehrsituation gerät, nicht schlechter gestellt sein kann, als jeder andere Bürger, auch wenn der mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Amtsträger in Ausübung seines Dienstes von der Schusswaffe Gebrauch macht18 und infolgedessen besonderen Regelungen unterworfen ist, die sich aus dem öffentlichen Dienst- und Treueverhältnis mit den alt hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ergeben.19 Die damals herrschende Meinung im Schrifttum ging davon aus, dass „Notrechtsvorschriften in einer Situation, welche das UZwG regelt, dem Amtswalter keine größeren Rechte einräumen können als diejenigen, die das UZwG gewährt“.Gobrecht begründete dies mit Rechtsmissbrauch, als welcher der Schusswaffengebrauch in solch einem Fall anzusehen sei.20„Ein Polizeibeamter, der in Ausübung öffentlicher Gewalt in Nothilfe handele, dürfe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht beherrscht, nicht außer Acht lassen.“

Anmerkung: Dazu gehört auch die Androhung des Schusswaffengebrauchs als allerletzte Warnung des Angreifers/Täters, bevor auf ihn gezielt geschossen wird.

Götz vertrat ebenfalls die Meinung, dass die Zwecke des hoheitlichen Schusswaffengebrauchs gesetzlich begrenzt seien, so dass insoweit rechtlich wie praktisch ein bedeutsamer Unterschied zur Nothilfe bestünde.21 Deshalb konnte Nothilfe – so Götz – als Grundlage der Amtsausübung nicht in Betracht kommen, weil die Vorschriften des Schusswaffengebrauchs ansonsten weitgehend gegenstandslos seien. Heute findet sich in allen Regelungskomplexen des Bundes und der Länder, die den unmittelbaren Zwang zum Gegenstand haben, Vorschriften, dass das Recht zum Gebrauch von Schusswaffen durch einzelne Polizeivollzugsbeamte in den Fällen der Notwehr und des Notstandes unberührt bleibt.22 Dieser rechtliche Befund hat im Land Berlin allergrößte Bedeutung, sei es, dass eine Polizeivollzugsbeamtin oder ein Polizeivollzugsbeamter auf der rechtlichen Basis der Gefahrenabwehr schießt, sei es, dass die Vollzugsbeamten unter strafverfolgender Zielrichtung von der Schusswaffe sofort – ohne vorherige Androhung – Gebrauch machen. Der Schusswaffengebrauch wäre in solch einem Fall im Land Berlin sowohl unter öffentlich-rechtlichen/gefahrenabwehrrechtlichen als auch unter strafverfolgenden Aspekten in vollem Umfang rechtswidrig. Die Beamtin bzw. der Beamte würde jedoch in einer Notwehr- bzw. Nothilfesituation strafrechtlich exkulpiert, weil ein Rechtfertigungsgrund (§ 32 StGB) tatbestandsmäßigem Handeln – Tötung eines Täters nach §  212 StGB – entgegensteht.23 Auf die Frage rechtmäßiger Amtsausübung, die seit jeher ein Rechtsfertigungsgrund außerhalb des Straf- und Zivilrechts ist, kommt es dann nicht mehr an. Zivil- bzw. haftungsrechtliche Ansprüche der Hinterbliebenen des Getöteten gegen den Schützen würden insoweit in aller Regel ohne Erfolg bleiben.24 In allen anderen fünfzehn Polizei- bzw. Gefahrenabwehr-/Verwaltungsgesetzen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts gibt es keine vergleichbare krude Rechtslage; lediglich das UZwG Bund schafft der rechtlich inakzeptablen Gesetzeslage Berlins vergleichbare Voraussetzungen für seine Vollzugsbeamtinnen und -beamten. Um im Bild zu bleiben: Aufgrund der in Art. 2 Abs. 2 EMRK normierten Ausnahmesituationen ist ein gegebenenfalls tödlich wirkender Schusswaffengebrauch mit strafverfolgender Zweckbindung grundsätzlich nicht konventionswidrig.25 Dass die StPO nach dem Wortlaut ihrer Vorschriften ohne Ausnahme vom lebenden Verdächtigen oder Beschuldigten ausgeht, und dies auch nach einem möglichen Schusswaffengebrauch im Rahmen des unmittelbaren Zwanges, steht dem nicht entgegen, erst recht dann nicht, wenn im jeweiligen Teil des Polizeigesetzes, der den unmittelbaren Zwang durch Schusswaffengebrauch regelt, das Grundrecht auf Leben als einschränkbares Grundrecht zitiert wird.26 Grundrechtseingriffe in die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die möglicherweise tödlich enden, wie der zum Tode führende Schuss eines Polizeivollzugsbeamten bei vorläufiger Festnahme nach einem Gewaltverbrechen infolge großen Blutverlustes des Täters,27 steht auch nicht im Widerspruch zum Grundgesetz, weil Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG erklärt, dass in die im Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechte auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden darf. Das kann im äußersten Fall auch die Tötung des Straftäters sein. Mit Gesetz ist ein Parlamentsgesetz gemeint.28 Art. 102 GG (Verbot der Todesstrafe) steht einem womöglich tödlich wirkenden Schuss einer Polizeivollzugsbeamtin bzw. eines Polizeivollzugsbeamten nicht entgegen, weil dem strafverfolgenden Schusswaffengebrauch der Sanktionscharakter fehlt, der dem Verbot der Todesstrafe i.S.d. Art. 102 GG typischer Weise eigen ist.

(Fortsetzung folgt)

Anmerkungen

  1. Der Autor war als Direktor beim Polizeipräsidenten Direktionsleiter und Polizeiführer Schwerstkriminalität in Berlin.
  2. Sog. Schranken-Schranken bedeuten „Schranken des Beschränkenden“, d.h. es werden der Legislative bei der Gestaltung von Gesetzen und der Exekutive bei Ausführung von Gesetzen kraft Verfassung Schranken gezogen; so auch Brenneisen/Blauhut, Zulässigkeit und Grenzen des Schusswaffengebrauchs zur Durchsetzung strafprozessualer Maßnahmen – Teil I, DIE POLIZEI 2015, 185 (188).
  3. Vgl. § 42 ME PolG 1977.
  4. Vgl. § 64 PolG NRW und § 67 BbgPolG.
  5. Das ASOG Bln mit Anlage (ZustKat Ord) regelt die Aufgaben, Zuständigkeiten und Befugnisse der Ordnungsbehörden und Polizei.
  6. Vgl. § 8 Satz 1 BlnVwVfG i.V.m. VwVG (das VwVG des Bundes gilt insoweit in der jeweils geltenden Fassung als inkorporiertes Landesrecht).
  7. Das VwVG kennt nach § 9 Abs. 1 VwVG drei Vollstreckungsmittel, die Ersatzvornahme (§ 10 VwVG), das Zwangsgeld (§ 11 VwVG) und den unmittelbaren Zwang (§ 12 VwVG), wobei neben dem Grund-VA nach allg. POR (z.B. „Halt, Polizei, Stehen bleiben, keine Bewegung, langsam die Waffe fallen lassen!“, gestützt auf die Befugnis-Generalklausel des allg. POR = § 17 Abs. 1 ASOG Bln) im Normalvollzug bzw. sog. gestreckten Verfahren des VwVG (§ 6 Abs. 1 VwVG) der Androhungs-VA gem. § 13 Abs. 1 Satz 1 VwVG und der Festsetzungs-VA gem. § 14 Satz 1 VwVG mit Übergang ins UZwG Bln („oder ich schieße!“) zu beachten sind. Die Anwendung des Zwangsmittels (Schusswaffengebrauch) nach § 15 Abs. 1 VwVG stellt tatsächliches Handeln und somit einen Realakt dar. Der hoheitliche Schusswaffengebrauch hat im Land Berlin ausnahmslos im Normalvollzug zu erfolgen, darf weder im sofortiges Vollzug (§ 6 Abs. 2 VwVG) noch im abgekürzten/verkürzten Verfahren erfolgen, weil nach dem UZwG Bln ohne jegliche Ausnahme vor Schussabgabe eine mündliche Androhung oder ein Warnschuss (§ 10 UZwG Bln) erfolgen muss; insoweit ist § 10 UZwG Bln lex specialis ggü. § 13 Abs. 1 Satz 1 VwVG; vgl. dazu Knape/Schönrock, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht für Berlin mit Versammlungsrecht, 11. Aufl. (2016), Rdnrn. 11 ff. zu § 9 UZwG Bln (S. 1011 ff.); ferner Knape, Das UZwG Bln – ein taugliches Gesetz zur Bekämpfung terroristischer Gewalttäter?, DIE POLIZEI 2016, 93 ff.
  8. Um keinerlei Zweifel aufkommen zu lassen, handelt es sich bei § 16 UZwG Bln um eine Menschenmenge (ca. 15 bis 20 Personen [vgl. BGH, NStZ 1994, 483]), von der oder aus ihrer Mitte heraus Gewalttaten begangen werden, wobei unter Gewalttaten nach den Ausführungsvorschriften zum UZwG Bln (AV Pol UZwG Bln) „Gewalttätigkeiten“ i.S.d. § 124, 125 StGB gemeint sind, also die Anwendung allein mit physischer Kraft oder mit Hilfe von Gegenständen (z.B. Steinen, Latten, Brandflaschen [Waffen im nichttechnischen Sinne]), erst recht unter Verwendung von Waffen/Schusswaffen (Waffen im technischen Sinne) gegen Personen oder Sachen.
  9. Vgl. statt vieler Heesen/Hönle/Peilert/Martens, Bundespolizeigesetz/Verwaltungs-Vollstreckungs-Gesetz und Gesetz über den unmittelbaren Zwang, 5. Aufl. (2012).
  10. Vgl. §§ 152 Abs. 2 und 163 Abs. 1 Satz 1 StPO mit strafprozessualen Anfangsverdacht für eine konkret begangene Straftat und strafprozessualem Legalitätsprinzip.
  11. Vgl. § 42 Abs. 1 Nrn. 3, 4 und 5 MEPolG 1977, § 64 Abs. 1 Nrn. 3, 4 und 5 PolG NRW, § 67 Abs. 1 Nrn. 3, 4 und 5 BbgPolG und § 10 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 4 UZwG Bund.
  12. Vgl. Schütte/Braun/Keller, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen (2012), Rdnr. 13 zu § 64 PolG NRW mit dem Beispiel B: Die mit der Schusswaffe von der Polizei beschossene Person ist wegen eines Verbrechens oder Vergehens verurteilt und soll nun erstmals in die JVA zum Zwecke des Strafvollzugs verbracht werden. Rechtsgrundlage der Zuführung sind das rechtskräftige Strafurteil und der Haftbefehl der Vollstreckungsbehörde (vgl. § 457 StPO) gegen den nicht freiwillig zum Straf-/Haftantritt erschienen Verurteilten.
  13. Vgl. § 1 Abs. 2 UZwG Bln.
  14. Vgl. Knape, Das UZwG Bln – ein taugliches Gesetz zur Bekämpfung terroristischer Gewalttäter?, DIE POLIZEI 2016, 93 (96).
  15. Vgl. Knape, a.a.O.
  16. Vgl. Neuwirth, Polizeilicher Schusswaffengebrauch gegen Personen, 2006, S. 24; dazu Krüger, Polizeilicher Schusswaffengebrauch, 1979, S. 12.
  17. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O.
  18. Vgl. Brenneisen/Blauhut, a.a.O., 185; ferner Knape/Schönrock, a.a.O.
  19. Vgl. Art. 33 Abs. 5 GG.
  20. Dazu Gobrecht, Polizeirecht des Landes Berlin, 6. Aufl. (1974), S. 150 ff. mit UZwG Bln v. 22.6.1970 (GVBl. S. 921).
  21. Vgl. schon Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl. (1975).
  22. Vgl. statt vieler §§ 8 Abs. 3 und 9 Abs. 4 Satz 1 UZwG Bln, dazu AV Pol UZwG Bln Nr. 6a zu § 1 i.V. mit Nr. 34 lit. a UZwG Bln: Unberührt bleiben die Vorschriften über die Notwehr (§§ 32, 33 StGB, § 227 BGB), den Notstand (§§ 34, 35 StGB, §§ 228, 904 BGB) und die Selbsthilfe (§ 229 BGB).
  23. Tatbestandsmäßiges Handeln indiziert die Rechtswidrigkeit, es sei denn, dass ein Rechtfertigungsgrund dem entgegensteht.
  24. Vgl. Knape/Schönrock, a.a.O.; dazu Brenneisen/Blauhut, a.a.O.
  25. Vgl. Brenneisen/Blauhut, a.a.O., 186 mit Literaturhinweis auf Schädler/Jakobs in: Hannich, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. (2013), S. 2934.
  26. Vgl. z.B. § 113 SOG M-V und § 261 LVwG S-H; dazu Becker, Anmerkungen zu: >>Darf der Staat töten?<< von Dr. Tonio Gas, DIE POLIZEI 2007, 136.
  27. Trotz Schussabgabe auf Arme oder Beine des flüchtenden Straftäters trifft die Polizeivollzugsbeamtin oder der Polizeivollzugsbeamte aus größerer Entfernung den Rumpf des Täters, so dass dieser verstirbt.
  28. Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. (2018), Rdnr. 92 zu Art. 2 GG; vgl. statt vieler z.B. § 41 Abs. 2 Satz 1 ME PolG 1977, der in zwölf Vorschriften – „Polizeigesetzen“ der Länder – entsprechenden Niederschlag erfahren hat. Dass diese Norm eindeutig präventive Zweckbindungen aufweist, steht dem in diesem Beitrag behandelten Thema nicht entgegen, man denke nur an doppelfunktionales Handeln in Gemengelage.
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