Vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch den Einsatz von automatischen Kennzeichenlesesystemen



5 Unterschiedliche Reichweiten von Tatbeständen zum Einsatz von AKLS


Die tatbestandliche Bandbreite des Einsatzes von AKLS soll exemplarisch an zwei höchst unterschiedlichen Länderregelungen untersucht werden. Auf der einen Seite handelt es sich um Art. 33 Abs. 2 Satz 2 i. V. mit Art. 13 Abs. 1 Nrn. 1 – 5 BayPAG, auf der anderen Seite um § 24c Abs. 1 ASOG Bln. Die Datenerhebung durch AKLS zum Zwecke der Abwehr einer konkreten Gefahr im Sinne des Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 BayPAG – keine Maßnahme der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten, sondern ein Eingriff auf der Basis klassischen, althergebrachten Polizei- und Ordnungsrechts im Einflussbereich des tradierten „Störerprinzips“ – soll dann zur Anwendung kommen, wenn es Fahrtstrecken gefährdeter Personen zu überprüfen gilt. Eine wahrlich rabulistische Vorstellung effektiver Gefahrenabwehr. Dort soll z.B. eine mobile Kennzeichenerkennung zur schnellen Überprüfung der an der Fahrtstrecke parkenden Kraftfahrzeuge dienen.92 Weitere Anwendungsfälle auf niedrigster Ebene konkreter Gefahrenabwehr soll die Überwachung von Einkaufszentren, Parkplätzen und anderen Örtlichkeiten im Zusammenhang mit Überfällen – Verhinderung von Straftaten als Anwendungsfall der konkreten Gefahr93 – oder Anschlagsdrohungen oder die Verhinderung illegaler Autorennen sein.94
Die Polizei in Bayern kann darüber hinaus – unbeschadet des Art. 30 Abs. 3 Satz 2 PAG (Grundsätze verdeckter Datenerhebung mit drei einschränkenden Tatbestandsalternativen, die jedoch beim verdeckten Einsatz von AKLS insoweit nicht gelten) – den verdeckten Einsatz automatisierter Kennzeichenerkennungssysteme auch in den Fällen des Art. 13 Abs. 1 Nrn. 2 – 5 PAG, typische Anwendungsfälle der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten, in Ansatz bringen. Unbestritten ist, dass nach dem „Erst-Recht-Schluss“ damit auch offene Maßnahmen im Zusammenhang mit dem AKLS, die von den Betroffenen jederzeit als Datenerhebung erkennbar sind, zulässig sind.95 Einer eigenständigen Vorschrift hierfür bedarf es demnach nicht. Die Maßnahme dient allein dem Ziel des Datenabgleichs; hierauf wird in der Gesetzesbegründung ausdrücklich hingewiesen.96 Die routinemäßige Kennzeichenerkennung ist demnach zulässig, soweit auch eine Identitätsfeststellung zulässig wäre (Art. 13 Abs. 1 und 2 PAG) an so genannten „gefährlichen/kriminalitätsbelasteten Orten“ (Nr. 2), mithin z.B. im Nahbereich von Bahnhöfen oder Bordellen,97 im Umfeld von „besonders gefährdeten Objekten“ (Nr. 3), also z.B. an Gebäuden von Behörden oder Versorgungseinrichtungen für die Bevölkerung, an öffentlichen Rundfunkanstalten, Denkmälern und dergleichen sowie an Kontrollstellen (Nr. 4) zur Verhinderung von Straftaten im Sinne von § 100a StPO und zur Verhinderung von Straftaten nach Art. 20 Abs. 1 Nr. 1, Art. 6 BayVersG, Art. 20 Abs. 1 Nr. 3, Art. 16 Abs. 2 Nr. 3 lit. a BayVersG und Art. 20 Abs. 2 Nr. 5, Art. 16 Abs. 2 Nr. 3 lit. b oder c BayVersG98 oder zur Verhütung von Ordnungswidrigkeiten nach Art. 21 Abs. 1 Nr. 8, Art. 16 Abs. 1 BayVersG und Art. 21 Abs. 1 Nr. 9, Art. 16 Abs. 2 Nr. 1 BayVersG.99 Die tatbestandliche Weite dieser Norm sowie der damit im Zusammenhang stehende Einsatz von (mobilen) AKLS machen den unvoreingenommenen und objektiven Betrachter dieser Vorschrift sprachlos. Vorbehalte des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – insbesondere hinsichtlich des Interventionsminimums bzw. Grundsatzes des Mindesteingriffs sowie der Mittel-Zweck-Relation – treten hierbei auf. Rechtliche Bedenken werden insofern verstärkt, als versammlungsbezogene Ordnungswidrigkeiten durch Maßnahmen an Kontrollstellen verhindert werden sollen, obwohl die von der Polizei eingerichteten Kontrollstellen eindeutig der Rechtsfigur der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten – einer originären Aufgabe der Polizei an sich im Bereich der Organisierten Kriminalität bzw. der Schwerkriminalität100 – zu dienen bestimmt sind, wobei diese Rechtsfigur zudem seit jeher bereits im Vorfeld der Entstehung abstrakter und konkreter Gefahren unmittelbar anknüpft.101 Die tatbestandliche Gleichrangigkeit von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 sowie Satz 2 und 3 PAG)102 muss ferner immer dann rechtlich nachdenklich stimmen, wenn mit denselben – eingriffsintensiven – Maßnahmen sowohl die Verhütung von Straftaten als auch die Verhütung von Ordnungswidrigkeiten erreicht werden soll, was bei Kontrollstellen nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 PAG zweifelsohne der Fall ist. Der verdeckte Einsatz automatisierter Kennzeichenerkennungssysteme kann darüber hinaus im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km und auf Durchgangsstraßen, d.h. auf Bundesautobahnen, Europastraßen und anderen Straßen von erheblicher Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr durchgeführt werden (Nr. 5). Damit wird der Einsatz des AKLS von vornherein auf einem sehr weit ausgedehnten Straßennetz Bayerns ermöglicht. Dieser Umstand ist deshalb von Bedeutung, weil den in Art. 13 Abs. 1 Nrn. 2 – 5 PAG aufgezählten Orten, Objekten und Fahr- bzw. Durchgangsstraßen einschließlich Flughäfen, Bahnhöfen, Busbahnhöfen, Raststätten, Parkplätzen an Durchgangsstraßen in Deutschlands größtem Bundesland gemeinsam ist, dass ganz sicherlich die absolute Mehrheit der kontrollierten Fahrzeugführer und -halter mit den möglicherweise dort begangenen oder hypothetisch bevorstehenden Straftaten und möglichen Gefahren nicht das Geringste zu tun haben wird. Von daher wiegt eine verfassungsrechtliche Tangierung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts sogar unterhalb der Schwelle zum Eingriff ins RiS schwer, weil Bürgerinnen und Bürger dennoch mit einer Kontrolle durch den Einsatz von AKLS anlässlich ganz alltäglicher und normaler Verhaltensweisen konfrontiert werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das durch die Rechtsprechung des BVerfG zum Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) entwickelte „Bestimmtheitsgebot“103 nach Auffassung des bayerischen Landesgesetzgebers bei Schaffung der Befugnisnorm des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG insofern konsequent berücksichtigt wurde, als dieser die Tatbestände so bestimmt gefasst hat, wie dies für eine derartige Ermächtigungsgrundlage (überhaupt) möglich ist.104 Dabei wird die vergleichsweise aufwendige – individuelle – Identitätsfeststellung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 Nrn. 2 – 5 PAG durch den Technikeinsatz im Rahmen einer „approximativen“ Identitätsfeststellung ersetzt, die Zahl der kontrollierten Personen infolgedessen nicht nur unwesentlich erhöht und zudem durch den „automatisierten“ Datenabgleich mit den polizeilichen Fahndungsdateien die Eingriffsintensität gegenüber einer einfachen Identitätsfeststellung nochmals erheblich gesteigert.105 Die Maßnahme gewinnt dadurch deutlich an Gewicht. Der Berliner Landesgesetzgeber hat im Verhältnis zum Art. 33 Abs. 2 Satz 2 i. V. mit Art. 13 Abs. 1 Nrn. 1 – 5 BayPAG die Norm des § 24c Abs. 1 ASOG Bln nicht nur hinsichtlich der tatbestandlichen Alternativen deutlich reduziert, und zwar auf drei, sondern auch tatbestandlich erheblich eingegrenzt. Durch die Hinzufügung von typisch klassischen Termini der Gefahrenlehre – „gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben“ (Nr. 1) und „gegenwärtige Gefahr“ (Nr. 2)106 – schuf er normative Regelungen, die infolge konkreter Gefahrenlagen keinen Anlass von nur allgemein gesteigerten Risiken von Rechtsgutgefährdungen oder -verletzungen geben; damit wurde dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne in vollem Umfang Rechnung getragen.107