Supervision im Polizeiberuf als Instrument zur professionellen Selbstreflexion

Interdisziplinäre Betrachtung in der Polizei Rheinland-Pfalz. Masterarbeit an der Deutschen Hochschule der Polizei, Studienjahr 2010/2012

2.3 Die Komplexität des Polizeidienstes

Die Polizei entwickelt sich zunehmend zu einem modernen Dienstleister. Geänderte Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren stellen neue Herausforderungen an die Polizisten. Dieser Aspekt darf bei der Untersuchung von Belastungen im Polizeidienst nicht vernachlässigt werden. Daher ergibt sich die Fragestellung, welche Auswirkungen diese steigende Komplexität des Polizeidienstes auf die Belastungen der einzelnen Polizisten hat.
Wie jede Organisation unterliegt auch die Polizei einer ständigen Entwicklung und einem damit einhergehenden Wandel. Im Wesentlichen lassen sich hierzu zwischen Veränderungen aufgrund interner, insbesondere politischer Vorgaben auf der einen Seite und dem Einfluss durch gesellschaftliche Veränderungen auf der anderen Seite unterscheiden.
Im Bereich des gesellschaftlichen Wandels steht die geänderte Erwartungshaltung der Bürger im Vordergrund, die mit steigendem Egoismus, fehlenden sozialen Umgangsformen, Respektlosigkeit und zunehmender Gewalt einhergeht und zu einem Anstieg an Widerstandsdelikten führt. Der demografische Wandel ist ursächlich für eine komplexere Gesellschaft und steigende Vielfältigkeit in der Bevölkerung, aber auch für eine Überalterung in der Personalstruktur der Polizei.
Während die genannten Folgen des gesellschaftlichen Wandels eine negative Bewertung beinhalten, zeigen sich durch den polizeiinternen Wandel auch positive Aspekte. Hierzu zählen eine qualitativ hochwertige Ausbildung der Polizisten sowie das behördliche Gesundheitsmanagement und die vorhandenen Betreuungsangebote.
Kritisiert wird jedoch die Reduzierung der Personal- und Finanzmittel im Polizeibereich, die zu Personalengpässen, einer höheren Einsatzfrequenz und einem großen Leistungs- und Konkurrenzdruck, insbesondere vor Beförderungen führt. In diesem Kontext beeinflussen Zielvereinbarungen das kollegiale Klima in negativer Weise und setzen die Polizisten zusätzlich unter Druck. Neben der Erhöhung des bürokratischen Aufwandes zählen auch die Personalfluktuation durch zu häufige Rotation von Führungskräften und Vertrauensverluste durch flexible Schichtdienstmodelle zu den negativen Auswirkungen des Wandels. Organisationen innerhalb der Polizei sind in zunehmendem Maße Einflüssen durch politische Entscheidungen ausgesetzt, was zu Ressourcenverknappungen, Strukturveränderungen und einem Anstieg der Arbeitsbelastung führt und sich somit auf das professionelle Handeln der Beschäftigten auswirkt.22
In der Summe lässt sich deutlich erkennen, dass die Komplexität des Polizeidienstes überwiegend zu negativen Auswirkungen bei den handelnden Polizisten führt, da keine freien Ressourcen vorhanden sind. Beamte beklagen, dass sie ständig „am oberen Level fahren“ und keine Zeit haben, „in sich zu gehen“ oder „abzuschalten“. Den Polizisten bleibt demnach keine Zeit ihre vorhandenen Belastungen zu reflektieren. Vielmehr bewirkt die Komplexität des Polizeidienstes eine Steigerung der individuellen Belastung und verhindert dadurch eine Reflexion belastender Ereignisse.

3. Aktuelle Betreuungsangebote in der Polizei Rheinland-Pfalz

Zur Betreuung und Gesunderhaltung von Polizisten existieren in Rheinland-Pfalz bereits Angebote. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese ausreichend und geeignet sind, um die dargestellten belastenden Ereignisse kompensieren und verarbeiten zu können.
Das behördliche Gesundheitsmanagement stützt sich im Land Rheinland-Pfalz nicht alleine auf sportliche Aktivitäten und Maßnahmen in den Bereichen Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin, sondern findet sein Selbstverständnis in einem ganzheitlichen Ansatz. Insofern leistet es einen wichtigen Beitrag zur physischen und psychischen Gesundheit der Mitarbeiter.
In diesem Kontext stehen auch die Sozialbetreuung durch Sozialarbeiter bzw. Sozialpädagogen sowie speziell geschulte Polizisten, die als soziale Ansprechpartner ihren Kollegen zur Verfügung stehen.
Bei schwerwiegenden Einsätzen wird in der Akutphase das Kriseninterventionsteam der Polizei alarmiert. In belastenden Situationen kann eine seelsorgerliche Unterstützung durch die Polizeiseelsorger erfolgen. In diesem Zusammenhang stellt das Zeugnisverweigerungsrecht der Polizeiseelsorger gemäß § 53 Abs.1 Nr.1 StPO einen entscheidenden Aspekt ihrer Legitimität dar, der sie in ihrem Handlungsspielraum in erheblichem Maße von Hauptamtlichen anderer Hilfsangebote unterscheidet. Zur speziellen Betreuung nach einem Schusswaffengebrauch wurde in Rheinland-Pfalz die Post-Shooting-Gruppe eingerichtet.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Polizei Rheinland-Pfalz für ihre Polizeibeamten vielfältige Angebote bereitstellt, um den speziellen Belastungen, die sich aus dem Polizeidienst ergeben, entgegenzuwirken.
Belastende Einsätze werden jedoch – abgesehen vom Schusswaffengebrauch – grundsätzlich nur in der Akutphase, etwa durch das Kriseninterventionsteam strukturell begleitet.
Der zeitliche Bereich vor einem potenziell belastenden Einsatz findet bei den derzeitig vorhandenen Betreuungsangeboten keinerlei Berücksichtigung. Vor diesem Hintergrund greifen die vorhandenen Betreuungsangebote zu kurz, da derzeit weder präventive Maßnahmen zur Vorbereitung auf eine solche Situation noch eine Verarbeitung im Nachhinein vorgesehen sind.
Insofern erscheint es grundsätzlich zielführend, Maßnahmen zur Selbstreflexion ebenfalls in den Kontext des behördlichen Gesundheitsmanagements zu stellen.

4. Begriffsklärung Supervision


4.1 Geschichtliche Betrachtung

Den Ursprung des Begriffs „Supervision“ findet man in England, auch wenn er in der damaligen Zeit eine andere Bedeutung hatte. Ende des 16. Jahrhunderts wurden dort für alte und kranke Menschen, aber auch für mittellose Kinder durch Gesetze zur Armenfürsorge ein System der öffentlichen Fürsorge durch die Gemeinden installiert, das durch Kontrolleure und Inspektoren beaufsichtigt wurde, die man als „Supervisor“ bezeichnete.23
Bereits hier in den Anfängen zeigt sich, wie sehr der Begriff der Supervision mit der Sozialarbeit verknüpft ist. In der weiteren geschichtlichen Entwicklung wird dies noch deutlicher. Die Prosperität der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts brachte nicht nur Wohlstand und Aufschwung, sondern auch soziale Missstände mit sich. Zur Unterstützung von Armen und Hilfsbedürftigen in den Slums setzte der Londoner Pfarrer Barnett Studierende und Jungakademiker ein. Als Barnett deren persönliche Betroffenheit im Rahmen dieser Tätigkeit feststellte, initiierte er Gesprächsangebote für die Helfer zur Entlastung und Klärung.24
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden, ebenfalls im Zuge der Industrialisierung, in Nordamerika erste gemeinnützige Wohlfahrtsorganisationen gegründet, die zur Koordination, Führung und Beratung ihrer Hilfskräfte und ehrenamtlichen Helfer spezielle Mitarbeiter einsetzten.25 Diese Supervisoren übten insbesondere eine Kontrollfunktion gegenüber den Helfern aus, führten mit diesen aber auch regelmäßige Gespräche, um den Ehrenamtlichen die Probleme und fremde Lebenswelt der Klienten verständlich zu machen.26 In diesen Entwicklungen in England und Amerika sind die Ursprünge des heutigen Verständnisses von Supervision zu erkennen.
Im deutschsprachigen Raum erhielten erste Formen von Supervision in den 1920er Jahren Einzug in die Ausbildungslehrpläne von Fürsorgerinnen, die Vorgänger der heutigen Sozialarbeiter waren.27 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entfaltete sich die Supervision auch in Deutschland zunehmend und wurde seit den 1950er und 1960er Jahren fester Bestandteil in der Aus- und Weiterbildung sowie im Berufsalltag der Sozialarbeit.28
Mittlerweile gehören Supervision und zahlreiche ähnliche Beratungsformen zur Normalität in modernen Dienstleistungsorganisationen sowie Wirtschaftsunternehmen und sind als Instrumente in der Personal- und Organisationsentwicklung nicht mehr wegzudenken. Diese Entwicklung weist bereits darauf hin, dass die geschichtliche Entwicklung der Supervision und die vielen unterschiedlichen Facetten in der Beratungslandschaft eine Definition des Begriffs Supervision und Abgrenzungen zu anderen Beratungselementen nicht einfach machen.

4.2 Definition

In der Literatur sind zahlreiche Begriffsdefinitionen zu Supervision zu finden, die teilweise sehr unterschiedliche Aussagen beinhalten. Die folgende Begriffserklärung beschränkt sich daher bewusst auf eine Auswahl allgemeingültiger Definitionen aus der Fachliteratur.
Zunächst kann der zusammengesetzte lateinische Begriff „supervidere“ mit Hilfe eines Wörterbuches29 als „von oben (her) etwas wahrnehmen, erblicken, erkennen“ übersetzt werden. Durch den Blick von oben soll also eine andere Sichtweise auf bestimmte Dinge ermöglicht werden. Die reine Übersetzung der beiden zusammengesetzten Vokabeln wird dem facettenreichen Begriff der Supervision jedoch kaum gerecht.
Die Deutsche Gesellschaft für Supervision bezeichnet Supervision als „ein wissenschaftlich fundiertes, praxisorientiertes und ethisch gebundenes Konzept für personen- und organisationsbezogene Beratung in der Arbeitswelt“, das insbesondere „in Situationen hoher Komplexität, Differenziertheit und dynamischer Veränderungen“ Anwendung findet und dabei „Fragen, Problemfelder, Konflikte und Fallbeispiele aus dem beruflichen Alltag thematisiert.“30Der Sozialwissenschaftler Belardi versteht Supervision als „Weiterbildungs-, Beratungs- und Reflexionsverfahren für berufliche Zusammenhänge“ und verweist zugleich darauf, dass es dabei weder um Psychotherapie noch um Aufsicht, Kontrolle oder um berufliche Fachfragen geht.31
Auf die berufliche Tätigkeit fokussiert auch Hausinger in ihrer Definition und beschreibt Supervision als „eine berufs-, arbeits- und arbeitsplatzbezogene Beratungsform, die explizit auf die realen täglichen Anforderungen und Anliegen eingeht“ und sieht dabei die Reflexion als konzeptionellen Mittelpunkt der Supervision.32
Die dargestellte Beraterfunktion sollte von einem professionellen Supervisor ausgeübt werden, der in persönlichen Gesprächssituationen mit seinen Klienten Konflikte oder Probleme aus deren Arbeitsalltag analysiert und erörtert. Dabei wird nicht nur die konkrete Einzelfallsituation betrachtet, sondern auch die relevanten Schnittmengen zwischen Personen, Arbeit und Organisationen werden in den Gesamtkontext einbezogen. Im Sinne der lateinischen Grundbedeutung wird damit von oben aufs Ganze geblickt und so den Supervisanden eine Reflexion ihrer Ansichten und ihres Verhaltens ermöglicht. Supervision stellt eine Beratungsform dar, die sich in reflexiver Form mit dem Arbeitsalltag und seinen Anforderungen und Konflikten beschäftigt und insofern direkt mit der beruflichen Praxis verknüpft ist.