Coronakrise und die Auswirkungen auf Polizei, Kriminalität und Freiheitsrechte

Interviewreihe. Von Prof./Ltd. Regierungsdirektor a.D. Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms



Josefine Barbaric: „Es fehlt eine echte Handlungsbereitschaft der verantwortlichen politischen Akteure“


Kinderschutz bedeutet eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, da der gefährlichste Ort eines Kindes häufig das eigene Zuhause ist. Demnach ist der potenzielle Gefährder nicht der große Unbekannte, sondern zumeist ein enges Familienmitglied. So wird die „COVID-19-Krise“ für viele Kinder zu einer noch größeren Bedrohung, als sie es ohnehin schon vorher war. Zu dieser Problemstellung nahm am 4. Mai 2020 Frau Josefine Barbaric Stellung.

 

Kriminalpolizei: Sehr geehrte Frau Barbaric, die Corona-Pandemie bringt zugleich erhebliche Gefahren für unsere Kinder mit sich. Wie können die politisch Verantwortlichen in unserem Staat gewährleisten, dass der Kontakt durch die Kinder- und Jugendhilfe oder auch die sozialen Dienste zu den Kindern aus prekären Familiensituationen nachhaltig und sicher aufrechtgehalten werden kann?

Josefine Barbaric: Was wir, und damit meine ich alle Organisationen und Vereine im Bereich Kinderschutz, während des Shutdowns der „COVID-19-Krise“ feststellen konnten, ist, dass bundesweit gute Konzepte zum Kinderschutz nur dann auch wirklich gut sind, wenn sie in der Umsetzung auch tatsächlich funktionieren. Sonst sind sie nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Die „COVID-19-Krise“ hat deutlich gemacht, wie viele ernstzunehmende Schwachstellen es bundesweit im Kinderschutz gibt. Wenn Maßnahmen zu Familienhilfen und Unterstützungen zur Erziehung durch das Fachpersonal der jeweiligen sozialen Dienste nicht mehr aufrechtgehalten werden können, nicht umgesetzt werden können, weil dieses Fachpersonal zum einen nicht als „systemrelevant“ eingestuft, und zum anderen durch kritischen Eltern jegliche Maßnahmen abgewehrt werden, dann reißt der wichtige und letzte Kontakt zu den gefährdeten Kindern ab. Das sollte an sich jedem klar sein. Hier waren Sachverstand und schnelle Handlungsbereitschaft des Bundesfamilienministeriums gefragt. Ohne „systemrelevantes“ Fachpersonal können keine schützenden Maßnahmen stattfinden. Zudem braucht es, ganz offensichtlich, eine rechtliche Grundlage für Fachpersonal von sozialen Diensten, welche eine Handlungsdurchsetzung der jeweiligen Maßnahmen erwirken kann, so dass uneinsichtige Eltern zur Not auch juristisch ausgehebelt werden können. Bundesweit hatten die sozialen Dienste in den vergangenen Tagen wenig bis keine Umsetzungsmöglichkeiten, standen aber voll in der Verantwortung. Das kann und darf so keinesfalls sein.

Kriminalpolizei: Daraus ergibt sich eine Folgefrage. Warum sind die genannten Fachkräfte aktuell nicht „systemrelevant“? Gerade sie sind im Kinderschutz doch aktuell unter erschwerten Bedingungen gefordert.

Josefine Barbaric: Richtig – doch Bildung und Soziales, was die Kitas angeht, ist Ländersache. Darum obliegt es auch den Bundesländern beziehungsweise den jeweiligen Schulbezirken in den Kommunen zu definieren, wer in die Notfallbetreuung von Schulen und Kitas aufgenommen wird. Hierzu wurden systemrelevante Berufsgruppen definiert, deren Kinder in die Notbetreuungen gegeben werden dürfen. Es ist schon grotesk, dass Kinder aus prekären Familiensituationen lange nicht als „systemrelevant“ eingestuft waren. Genauso wenig die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe – also die Menschen, die diese Kinder schützen sollen. Menschen, die aktuell unter erschwerten Bedingungen gefordert sind, Kinder vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen, Inobhutnahmen vornehmen und stationäre Einrichtungen am Laufen halten. Kinder und Jugendliche, die in dieser schwierigen Zeit nicht in ihren Herkunftsfamilien leben können, werden einfach mal nicht berücksichtigt. Wenn Sie mich fragen, daran lässt sich schon gut erkennen, wie wichtig den verantwortlichen Akteuren der Kinderschutz tatsächlich ist.

Kriminalpolizei: Auch Hunger ist eine Form von Gewalt. Wie kann jetzt und künftig sichergestellt werden, dass Kinder, deren Tagespflegestelle, Kita oder Schule bedingt durch eine Pandemie, Katastrophe und ähnliche Anlässe längere Zeit geschlossen bleiben muss, weiterhin die ihnen gesetzlich zustehende kostenlose Mittagsmahlzeit erhalten oder wie kann dies auf andere Weise kompensiert werden?

Josefine Barbaric: In Zeiten des Überflusses können sich viele Menschen vielleicht nicht vorstellen, was es heißt Hunger zu erleiden. Auch in Deutschland gibt es Armut und aus eigener Erfahrung weiß ich, wie ernst die Lage für viele Kinder in Deutschland ist. Nicht zuletzt deshalb gibt es mittlerweile viele Einrichtungen der Tafel, darunter auch Kindertafeln – die nur größtenteils, aufgrund unterschiedlicher Herausforderungen, schließen mussten. Am Beispiel der „BuT-Mittel“ lässt es sich vielleicht am besten erklären, wie wenig Handlungsbereitschaft der Politik zum Thema Kinderschutz besteht. Vor dem Hintergrund, dass auch Hunger eine Form von Gewalt darstellt. „BuT“ dient der Bildung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Es ist der Schlüssel zur Herstellung von Chancengleichheit. Die Leistungen für Bildung und Teilhabe unterstützen junge Menschen aus Familien mit geringem Einkommen, damit sie gleichberechtigt Angebote in Schule, Kita und Freizeit nutzen können. Zuschüsse werden auch im Bereich der Mittagessen-Versorgung gegeben. Es handelt sich hierbei um finanzielle Mittel, die der Bund den Ländern, den Kommunen für die Umsetzung dieser Angebote zu Verfügung stellt. Ich frage Sie, warum braucht es erst einen Herrn Becker von der Deutschen Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V., dem nicht nur aufgefallen ist, dass es hier dem Grunde nach bundesweit eine Möglichkeit auf Nahrungsmittelversorgung betroffener und bedürftiger Kinder gab und gibt, sondern überhaupt erst sein großartiger Aktivismus und seine Beharrlichkeit dafür gesorgt haben, dass am 20. April dann das erlösende Schreiben aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales kam. Aus diesem Schreiben an die jeweiligen Länder geht eine direkte Handlungsempfehlungen zur Umsetzung der Mittagessen-Versorgung hervor, weiter finanziert durch oben genannte Bundesmittel. Ab dem 27. April hatten grundsätzlich alle bedürftigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland wieder das Recht auf eine warme Mittagessen-Versorgung. Nur gab es leider in ganz vielen Fällen dennoch keine! Was soll ich Ihnen sagen, viele Schulträger wussten am 30. April noch nichts von diesem Schreiben und die, die davon wussten, hatten es auch nicht besonders eilig. Ich frage Sie, ist das Kinderschutz?

Kriminalpolizei: Häusliche Gewalt ist häufig auch Gewalt gegen Kinder. Gibt es aus Ihrer Sicht hier genügend Schutzräume?

Josefine Barbaric: Nein! Laut der Diakonie Deutschland flüchten jährlich etwa 17.000 Frauen mit ihren Kindern in die Frauenhäuser. Das sind etwa 35.000 Personen – jährlich. Der Bedarf liegt bundesweit im Durchschnitt vier bis sechs Mal höher als Schutzräume vorhanden sind. Ein Frauenhaus sollte dem Grunde nach als „Not- und Durchgangsstation“ für gefährdete und misshandelte Frauen mit ihren Kindern dienen. Doch der bundesweit sehr angespannte Wohnungsmarkt sorgt dafür, dass die Frauen teilweise über ein Jahr oder länger in den Einrichtungen bleiben müssen, bis sie endlich in eine eigene Wohnung umziehen können. Das heißt, Schutz- und Notunterkünfte werden ungewollt blockiert. Darum schließe ich mich uneingeschränkt den Forderungen der Diakonie an: Der Zugang zu Frauenhäusern und Fachberatungsstellen muss niedrigschwellig und barrierefrei sein. Frauen und ihre Kinder müssen in jedem Bundesland einen uneingeschränkten Zugang zum Hilfesystem haben – das heißt unabhängig von ihrem Einkommen, Aufenthaltsstatus, Wohnort und Gesundheitszustand. Voraussetzung dafür sind flächendeckend vorhandene Dienste und Einrichtungen, die verlässliche und bedarfsgerechte Schutz- und Hilfeleistungen bereitstellen. Bisher sind spezifische Leistungen freiwillig und deshalb abhängig von Haushaltslagen der Länder und Kommunen. Frauenhäuser und Fachberatungsstellen brauchen eine durchgehend angemessene Ausstattung mit Personal und Sachmitteln. Die Diakonie Deutschland fordert einen Rechtsanspruch auf Hilfe für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder. Dieser würde Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen. Erforderlich ist eine bundesweit verbindliche Rechtsgrundlage, die eine nachhaltige, kostendeckende und verlässliche Finanzierung von Frauenhäusern gewährleistet.

Kriminalpolizei: Was sind zurzeit die größten Herausforderungen im Kinderschutz?

Josefine Barbaric: Ich fasse mich zum Abschluss kurz und nenne nur die bundesweit fehlende „echte“ Handlungsbereitschaft der verantwortlichen politischen Akteure, fehlende einheitliche Standards in der Kinder- und Jugendhilfe, nicht vorhandene Fachaufsichten für Jugendämter, fehlende Kinderschutzbeauftragte – auch bei der Polizei, fehlende Schutzräume und flächendeckende Kinderschutzambulanzen bzw. Opferambulanzen u.a. mit Childhood House-Anbindungen, obligatorische Weiterbildungsmaßnahmen für Richter an den Familiengerichten, Qualitätsüberwachungen für Sachverständige und fehlende Präventionsmaßnahmen in Kitas und Schulen sowie fehlende Aufklärungs- und Schutzkonzepte in den Einrichtungen. Prävention ist Kinderschutz und Kinderschutz kostet nun einmal Geld!


Anmerkung

Josefine Barbaric ist Referentin „Sexueller Missbrauch an Kindern“, Trainerin für Gewaltprävention, Buchautorin und Vorstand „Nein, lass das! e.V.“. Sie hat 2017 das Kinder- und Aufklärungsbuch „Nein, lass das!“ (ISBN 978-3-9821949-0-5) herausgegeben. Vgl. dazu auch eine Checkliste von Barbaric/Kolbe, Deutsche Polizei 5/2020, S. 10-12.