Die polizeibezogenen Empfehlungender StPO-Expertenkommission zur praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens

5. Erscheinenspflicht von Zeugen bei der Polizei bei staatsanwaltschaftlichem Vernehmungsauftrag


Die Expertenkommission empfiehlt: „Zeugen sollten zur Vernehmung vor Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft erscheinen müssen, wenn der polizeilichen Ladung ein einzelfallbezogener Auftrag der Staatsanwaltschaft zugrunde liegt. Bestehen Zweifel hinsichtlich der Zeugeneigenschaft oder hinsichtlich des Vorliegens von Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechten, soll die Polizei verpflichtet werden, unverzüglich Kontakt mit der Staatsanwaltschaft aufzunehmen.“
Zeugen sind nach geltendem Recht nur bei richterlichen (§ 48 Abs. 1 StPO) und staatsanwaltschaftlichen (§ 161a Abs. 1 Satz 1 StPO) Vernehmungen zum Erscheinen verpflichtet, nicht jedoch auf Ladung der Polizei. Das Verfahren kann sich aber erheblich verzögern, wenn geladene Zeugen ohne Rückmeldung der polizeilichen Vernehmung fernbleiben. Daher ist der Vorschlag, die Zeugen bei staatsanwaltschaftlicher Einzelanordnung zum Erscheinen zur polizeilichen Vernehmung zu verpflichten, ein begrüßenswerter Ansatz zur Verfahrensbeschleunigung. Das angestrebte Erfordernis einer Einzelanordnung resultiert aus der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft, die immerhin bis zum Abschluss der letzten gerichtlichen Instanz die verfahrensrechtliche Verantwortung für alle strafprozessualen Maßnahmen trägt. Deshalb hat das Gremium auch zurecht keine generelle Erscheinenspflicht bei polizeilichen Vernehmungen empfohlen. Dieser Vorschlag findet auch den Zuspruch des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, die die verpflichtende Teilnahme an einer polizeilichen Vernehmung allerdings gerne mit einer audiovisuellen Dokumentation derselben verknüpft sähe (siehe unten Nr. 7).
Plausibel ist auch die Empfehlung der Expertenkommission, die ohnehin geübte Praxis einer Rücksprache zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft bei Zweifeln über die Zeugeneigenschaft oder Art und Umfang eines Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrechts im Gesetz zu verankern.

6. Abschaffung des Richtervorbehalts bei Blutproben für Verkehrsdelikte


Die Expertenkommission empfiehlt: „Der Richtervorbehalt bei Blutprobenentnahmen sollte im Bereich der Straßenverkehrsdelikte abgeschafft werden. Die regelmäßige Anordnungsbefugnis sollte auf die Staatsanwaltschaft übergehen.“
Die Entnahme einer Blutprobe zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration zu repressiven Zwecken bei Verdacht der Fahruntüchtigkeit ist eine körperliche Untersuchung gem. § 81a Abs. 1 StPO, deren Anordnung nach Abs. 2 der Vorschrift dem Richter obliegt. Nur wenn die engen Voraussetzungen einer Gefahr im Verzug vorliegen, obliegt die Anordnungskompetenz dem Staatsanwalt und, nach herrschender Auffassung nachrangig, ihren Ermittlungspersonen.Nicht geteilt wird die Auffassung der Kommission, dass die Grundrechtseingriffsintensität bei der Blutentnahme derart niederschwellig sei, dass ein vorgeschalteter Rechtsschutz in Form eines Richtervorbehalts verzichtbar wäre. Auch wenn eine ordnungsgemäß durchgeführte Blutentnahme tatsächlich nicht schlimm ist, steht die Annahme der Niederschwelligkeit doch im Widerspruch zu der Wertung des § 81a Abs. 1 Satz 2 StPO. Nach dieser Vorschrift sind die mit unfachmännischen Blutentnahmen verbundenen Gefahren nämlich offenbar so hoch, dass Blutentnahmen kumulativ nur „von einem Arzt“ und nur „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ vorgenommen werden dürfen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Verzicht auf vorgeschalteten Rechtsschutz durch Wegfall des Richtervorbehalts keinesfalls naheliegend, sondern als Systembruch. Vermisst wird in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit der Durchsuchung des Beschuldigten nach Beweismitteln gem. § 102 StPO, die nach § 105 Abs. 1 StPO ebenfalls unter Richtervorbehalt steht. Für diese Maßnahme wurde nämlich gerade kein Verzicht auf den Richtervorbehalt empfohlen, obwohl beispielsweise das Abtasten des bekleideten Körpers und der anschließende Griff in die Hosen- und Jackentaschen eindeutig weniger grundrechtsbelastend sind als die Entnahme von Blut aus dem Körper mit einer Spritze.
Nicht überzeugend ist ferner die Annahme der Kommission, dass der nachträgliche Rechtsschutz ebenso effektiv die Rechtsstaatlichkeit der Ermittlungsmaßnahme sichern könne, wie ein Richtervorbehalt. Die Kommission geht auf zwei wesentliche Punkte nicht ein: Zum wird ein Gericht nachträglich nur auf Antrag tätig, was wiederum voraussetzt, dass der Betroffene von der Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes weiß, was mangels Rechtsbehelfsbelehrung in diesen Fällen erst nach kostenpflichtiger Beratung durch einen Rechtsanwalt der Fall sein wird. Zum zweiten ist die eigentlich statthafte Anfechtung der Maßnahme gem. § 23 EGGVG wegen ihrer Erledigung ausgeschlossen, weshalb dem Betroffenen als Rechtsbehelf nur der Antrag auf gerichtliche Entscheidung analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO bleibt. Dieser Antrag wird aber in aller Regel fruchtlos verlaufen, weil das Gericht erst nach Vorlage der Verfahrensakte entscheiden kann. Die Akte der die Maßnahme anordnenden Behörde wird spätestens bei der erst mehrere Tage später dort eingehenden Anforderung durch das Gericht typischerweise aber so abgefasst sein, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Blutprobe im Rückblick in jedem Fall erfüllt sein werden – alles andere wäre eine enorme Überraschung. Daher gilt: Nur die spontane Beantwortung von Fragen, die der Richter dem (z. B. auf Geheiß des Staatsanwalts) anrufenden Polizeibeamten zum Sachverhalt stellt, ist geeignet, eine objektiv bestehende Unklarheit des Sachverhalts oder etwa bestehende Wertungsfehler (z. B. der Verdacht einer Trunkenheitsfahrt ergäbe sich daraus, dass der Proband einen Atemalkoholtest verweigert) aufzudecken und zugleich mit Blick auf den drohenden Beweismittelverlust schnell zu entscheiden.
Dieser Einwand darf nicht so verstanden werden, dass Staatsanwaltschaft und Polizei nicht die fachliche Expertise für eine ordnungsgemäße Prüfung hätten. Er ist vielmehr das Ergebnis der allgemeinen Wertung des Gesetzgebers, dass von der Exekutive angestrebte schwerwiegendere Grundrechtseingriffe vor ihrer Durchführung auch durch die Judikative geprüft werden müssen (Vier-Augen-Prinzip), sofern die Zeit es irgendwie zulässt, und zwar sowohl in der Repression als auch in der Prävention. Zur Verdeutlichung des Gedankengangs sei auf die repressive Freiheitsentziehung verwiesen: Grundsätzlich bedarf es eines vorher einzuholenden gerichtlichen Haftbefehls nach § 114 StPO. Nur unter den engen Voraussetzungen der Gefahr im Verzug kann eine vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO auch durch Staatsanwaltschaft und Polizei erfolgen, was dann – anders als bei der Blutentnahme – unmittelbar die Vorführung gem. § 128 Abs. 1 S. 1 StPO und damit nachträglichen Rechtsschutz ohne ein Antragserfordernis auslöst.
Obwohl die Kommission die Blutentnahme als niederschwellig ansieht, unterbreitet sie den dann auf der Hand liegenden Vorschlag nicht, nicht nur bei Verkehrsdelikten, sondern in allen Deliktsbereichen auf den Richtervorbehalt bei der Blutentnahme zu verzichten. Das ist nicht konsequent, denn aus der Sicht des Beschuldigten pikst die Nadel immer gleich stark in den Arm, rechtlich formuliert hat dieser Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG immer dieselbe Intensität, unabhängig vom Anlass der Blutentnahme. Es stellt sich daher die Frage, ob der Vorschlag der Kommission nicht primär durch den Wunsch nach einer Entlastung der Gerichte geleitet ist, weil die allermeisten Blutentnahmen aus Anlass des Verdachts eines Verkehrsdelikts durchgeführt werden.
Vor dem hier erläuterten Hintergrund ist es sehr überraschend, dass der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer dem Vorschlag „nicht entgegentritt“, ihn also weder begrüßt, noch ablehnt. Der Ausschuss folgt der Expertengruppe in der Annahme, der massenhafte Charakter der Blutentnahme im Verkehrsbereich rechtfertige (nur dort!) niederschwelligere Eingriffsvoraussetzungen, zumal es nicht um schwerwiegende Straftaten gehe. Offen bleibt wiederum, weshalb der identische Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit bei anderem, schärferem Deliktsvorwurf anders zu bewerten sein soll. Dieser offensichtliche Bruch in der Systematik des Strafverfahrensrechts wird auch dort nicht aufgegriffen, sondern schlicht hingenommen.