Geld(un-)wesen

– Bedrohung der inneren und äußeren Sicherheit? –

Von Dr. Wolfgang Hetzer, Ministerialrat, Wien

I. Logik ohne Vernunft


Der Krieg wird nicht kommen. Er ist nämlich schon da, wenn die folgende Einschätzung zutrifft:
„Es herrscht Krieg. Rund um die Welt sterben Menschenmassen in militärischen und terroristischen Auseinandersetzungen. In vielen Ländern toben verheerende Bürgerkriege. Eine weltumspannende Kriminalität torpediert die legalen Systeme aus dem Untergrund. Gleichzeitig rütteln Staats- und Finanzkrisen an den Fundamenten der Gesellschaften und verursachen Leid und Verelendung. Im Vordergrund steht ein zersetzender Machtkampf zwischen Politik und Finanzwelt. Letztere betreibt eine neue Art der Kriegsführung, die eine vergleichbare Strategie verfolgt wie in der Vergangenheit die militärischen Eroberer. Sie zielt auf die Übernahme staatlicher Infrastruktur und die Aneignung von Land und Ressourcen. Sie erhebt ungeheure Tributzahlungen und erzwingt die Abtretung unkontrollierter Schuldenmengen.1

An die Stelle des radikalen Islamismus scheint als Hauptquelle kollektiver Angst für Europäer und Amerikaner seit 2008 in der Tat eine Krise gerückt zu sein, die von innen kommt. Im Schatten des „Krieges gegen den Terror“ hat sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die größte Finanzblase seit der Großen Depression der 1920er-Jahre aufgebaut. Exzessive Verschuldung westlicher Staaten und unreguliertes Spekulieren an den Finanzmärkten haben etwas bewirkt, was Osama bin Laden nie geschafft hatte: die Gefährdung des Wohlstands von Hunderten Millionen Menschen. Es breitet sich weiter eine generelle Verunsicherung aus, weil selbst berufene Institutionen wie Nachrichtendienste und Regierungsstrategen offensichtlich nicht einmal mehr ahnen, woher die nächsten Einschläge kommen werden. Im Gegenteil. Die Kurzatmigkeit in der Politik, die versucht, den Flächenbrand der Finanzkrise zu löschen, zeigt nur eines: Mit der (Schein-)Lösung alter Probleme werden sofort die nächsten verursacht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob aus „heiterem Himmel“ sogar Kriege drohen, weil Regierungen und ihre Apparate sich auf das Falsche konzentrieren oder mit den Krisen der Gegenwart schlicht überfordert sind.2
Immerhin scheint die Erleichterung über das Ende des Kalten Krieges und die Freude über den Zusammenbruch der antagonistischen Blockstruktur im Jahre 1989 bereits verflogen zu sein. Das könnte auch daran liegen, dass sich die Psychologie jener Zeit in verwandelter Form erhalten hat. Sie definiert vielleicht nicht mehr das Vorgehen auf potentiellen Schlachtfeldern. Möglicherweise prägt sie aber das Verhalten auf den Finanzmärkten dieser Welt, auf denen jetzt die „ultimativen Spiele“ gespielt werden. Ihnen könnte immer noch die Angst zugrunde liegen, dass totalitäre Systeme Menschen dadurch entmündigten, dass sie vorgaben zu wissen, was für alle das Beste ist. Inzwischen wird behauptet, dass Ökonomen einen Gegenentwurf erdacht haben, wonach jeder nur das tut, was für ihn das Beste ist. Das sei einer der wichtigsten Waffen im Kalten Krieg gewesen. Damit habe der Westen das Spiel der Supermächte gewonnen. Der ewige Friede ist so jedoch keineswegs gesichert, wenn es denn stimmt, dass nach dem Ende des vertrauten Kalten Krieges ein neuer kalter Krieg im Herzen unserer Gesellschaft begonnen hat.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die alten Denk- und Handlungsmuster tatsächlich nach wie vor die Bedingungen auf den potentiellen Gefechtsfeldern einer scheinbar friedlichen Welt prägen. Es gilt das überkommene Rationalitätspostulat. Nur derjenige, der ausschließlich an sich selbst denkt, ist vernünftig. Strategisch intelligent kann nur derjenige sein, der unterstellt, dass jeder vor dem anderen etwas verbirgt, um das „Spiel des Lebens“ zu gewinnen. Das war die „spieltheoretische“ Essenz des kalten Krieges.
Die danach entwickelten Modelle sind heute auch Teil des Werkzeugkastens von Hedgefonds. Investmentbanker versuchen ständig die Absichten konkurrierender Händler durch die automatisierte Analyse riesiger Datenmengen so schnell als möglich zu entschlüsseln, vorherzusagen und ihr eigenes Handeln darauf abzustimmen. Dabei ist daran zu erinnern, dass die Modelle des rationalen Selbstinteresses nicht von Psychologen für das Militär entwickelt wurden. Es waren Ökonomen, Physiker und Mathematiker, die ihre Rezepturen für eine Gesellschaft entwickelten, die ihre Überlebensfähigkeit durch Egoismus steigern sollte. Der Anspruch überstieg den Horizont von Soldaten im Kalten Krieg. Er war universal und auf die Entwicklung von Modellen gerichtet, die in jeder Entscheidungslage funktionieren sollten, beim Pokerspiel, im Geschäftsleben, an den Börsen und eben im Krieg.
Ungeachtet seiner Komplexität ist menschliches Verhalten aber nur dann in die Sprache der Mathematik zu übersetzen, wenn die Prämisse unangefochten ist, dass jeder nur aus Eigennutz handelt. In den gar nicht guten alten Zeiten des Kalten Krieges waren Computer Tag und Nacht damit beschäftigt, Signale auf den Radarschirmen zu analysieren. Wie auf einer militärischen Börse ging es darum, die nächsten Züge des potentiellen Gegners vorauszusehen. Die Paranoia war aber kein Privileg nur einer Seite. Also musste man irgendwann die Frage beantworten, was der Gegner tut, wenn er weiß, dass ich weiß, was er plant?
In dieser Lage reduzierte sich Vernunft auf ein Denken, dass immer nur vom Eigeninteresse aller ausgeht. Es überschritt aber irgendwann die Grenzen der Kriegsstrategien und stand am Anfang einer schleichenden Erziehung zum Egoismus, die nun seit Jahrzehnten stattfindet. Ein Menschenbild, das in den frostigen Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entstand, versetzt auch nach dem Ende der Sowjetunion die Welt weiter in Angst und Schrecken. Die fundamentale Veränderung der sozialen Beziehungen ist jedoch nicht das Werk einiger egoistischer Hedgefonds-Manager oder Investmentbanker. Sie sind wohl nur ein Symptom. Vielleicht ist auch schon im Wettrüsten des Kalten Kriegs und nicht erst in den ökonomischen Krisen des 21. Jahrhunderts etwas entfesselt worden, dessen Karriere erst nach dem Ende dieses Krieges wirklich begann.3
Die Logik und die Technologie dieser Zeit haben von Anfang an in eine existentiell prekäre Lage geführt. Sie war und ist durch eine besondere Verbindung systematisierten Irrsinns mit glücklichen Zufällen charakterisiert. Es gibt konkrete Beispiele dafür, dass nur noch menschliche Vernunft und eine ethische Konditionierung die Welt vor ihrem Untergang bewahren konnten. Sie zeigen, dass halbwegs gesunder Menschenverstand jeder auch noch so komplexen Technologie überlegen ist. Mathematik kann vernünftiges Denken und Fühlen in bestimmten Situationen eben nicht ersetzen. Das hat der ehemalige russische Offizier Stanislaw Petrow im Jahr 1983 bewiesen. Er hatte damals den Auftrag, die Bereiche der USA zu beobachten, aus denen militärische Flugkörper gestartet werden könnten, um die damalige Sowjetunion zu erreichen. Petrow ist Ingenieur und hatte mit einer Gruppe von Mathematikern seinerzeit das System dafür mitentwickelt.
Die USA wurden damals aus der Sicht der Sowjetunion als Quelle möglicher Aggression sehr ernst genommen. Petrow bestreitet noch heute, dass die Sowjetunion aggressive Absichten gehegt hatte. Man habe sich nur selbst schützen wollen. Die Situation im Jahre 1983 wurde als angespannt empfunden, nicht zuletzt deshalb, weil der damalige Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ tituliert hatte und die Amerikaner in Westeuropa Pershing-II-Raketen stationierten, die auch auf Moskau programmiert waren. Die Russen hatten im Gegenzug ihre Raketen in den „Volksdemokratien“ Osteuropas aufgebaut. Am 1. September 1983 erfolgte der Abschuss einer koreanischen Passagiermaschine mit 269 Menschen an Bord vor der Küste der Insel Sachalin durch sowjetische Luftstreitkräfte.
Vor diesem Hintergrund waren Petrow und seine Mannschaft zu besonderer Wachsamkeit aufgerufen, da jeder Fehler zu unabsehbaren Folgen führen konnte. Am 25. September 1983 trug er die Verantwortung im Gefechtsführungszentrum und saß vor dem berüchtigten „roten Knopf“. Dieser Knopf war aber nach seinen Angaben nirgends angeschlossen, weil die russischen Militärpsychologen entschieden hatten, dass man einem einzelnen Menschen nicht die Aufgabe übertragen kann, den Krieg gegen ein anderes Land per Knopfdruck zu beginnen. Petrow hatte den Auftrag, die Informationen, die die Computer lieferten, zu bewerten und weiterzuleiten.
An dem genannten Tag ging um 0.15 Uhr vollkommen unerwartet ein Alarm los. Ein Raketenstart in den USA wurde mit „maximaler Wahrscheinlichkeit“ angezeigt. Die Soldaten im Gefechtsführungszentrum warteten auf die Entscheidung ihres Vorgesetzten Petrow, ob die russischen Raketen jetzt scharf gemacht werden. Er zweifelte jedoch an der Information, weil der Computer nur den Anflug einer einzelnen Rakete meldete. Tatsächlich hatte man erwartet, dass die USA im Falle des Falles als Erste massiv zuschlagen würden und dadurch die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung und wichtige Infrastruktur vernichten würden.
Bei einem russischen „Gegenschlag“ wurde seitens der USA mit 20 Millionen getöteten Amerikanern gerechnet. Diese Kalkulation kann Petrow nicht nachvollziehen, weil die Reaktion der Russen mindestens genauso massiv erfolgt wäre. Bei einem Erstschlag der Amerikaner hätten diese länger leben können als die Russen, aber nur 20 bis 30 Minuten.
Nach zwei Minuten der Analyse erklärte Petrow den Alarm telefonisch zum Fehlalarm. Noch während dieses Gesprächs meldete der Computer allerdings einen zweiten, einen dritten, vierten und fünften Raketenstart. Die akustischen Alarmsignale setzten wieder ein. Petrow blieb aber bei seiner Einschätzung, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Er unternahm gleichwohl weitere Klärungsversuche. Hätte er einen Massenstart in den USA festgestellt, wären in den verbleibenden wenigen Minuten die Kreiselkompanden der Raketen aktiviert und die Zielkoordinaten bestätigt worden. Die Fortsetzung menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde wäre sehr unwahrscheinlich geworden.Petrow war indessen bewusst, dass sich die amerikanische Raketenbasis zum Zeitpunkt des Alarms genau an der Tag-Nacht-Grenze befand. Deswegen hätte das System nicht von einer maximalen Wahrscheinlichkeit der fünf Einzelstarts ausgehen dürfen. Er bezweifelte auch deshalb die Richtigkeit des Alarms. Zudem wollte Petrow nach seinen eigenen Angaben nicht schuld an einem Dritten Weltkrieg sein.
Nach insgesamt 17 Minuten meldeten die Radaranlagen, dass in jener Nacht keine Raketen im Anflug waren. Nach dreieinhalb Monaten kam man zu dem Schluss, dass die Beobachtungs-Satelliten wohl Sonnenstrahlen, die von der Erdoberfläche reflektiert wurden, als Raketenstart interpretiert hatten, ausgerechnet über einer amerikanischen Militärbasis. Eine derartige Blendung aller Satelliten durch die Sonne galt zwar als extrem unwahrscheinlich. Sie war aber nicht unmöglich.
Petrow wurde für seine Handlungsweise von seinen damaligen Vorgesetzten nicht belobigt. Die Fehlerlosigkeit des Überwachungssystems sollte anscheinend nicht angezweifelt werden. Er würde sich heute anders verhalten. Nach der veränderten Weltlage und der entsprechenden militärischen Strategie würde man jetzt wohl versuchen, mit einzelnen Raketen zuerst die wichtigen Kommunikationsanlagen des Gegners auszuschalten und erst dann massiv zuschlagen.4
Wie auch immer: Sollte diese Kombination von technischer Intelligenz, Angstneurosen und ideologischer Verblendung bis heute in andere Hochrisikozonen ausstrahlen, besteht kein Anlass zu Entwarnung, wie insbesondere die Entwicklung auf den Finanzmärkten zeigt. Dort könnten durch bestimmte Verknüpfungen Brandherde entstehen, mit potentiell flächendeckenden Verheerungen:
„Die westlichen Demokratien stehen vor dem Kollaps ihres Finanzsystems – gemessen an den nie mehr zu begleichenden Schuldenbergen hat der Kollaps eigentlich schon stattgefunden. Funktioniert aber die wesentliche narzisstische Regulation über Geld nicht mehr, ist mit wachsenden gewalttätigen Auseinandersetzungen zu rechnen, wie sie in den europäischen Großstädten bereits stattfinden. Wird die zugrunde liegende narzisstische Problematik nicht verstanden und werden keine zivilisierten Formen zu ihrer Regulation gefunden, drohen uns zunehmend blutige Krawalle oder neue Kriege.“5

II. Krise ohne Konflikt


Die Finanzkrise wird nach wie vor überwiegend wirtschafts-, fiskal- und arbeitsmarktpolitisch bearbeitet.6 Sie steht jedenfalls in Deutschland noch nicht im Zentrum größerer sozialer Auseinandersetzungen. Es gibt keine Gleichzeitigkeit von Krise und Konflikt. In Griechenland, Spanien, Portugal und Italien scheint sich das dagegen allmählich zu verändern. Vielleicht hat man dort schon verstanden, dass sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirtschaft kein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure, sondern ein „Spektakel reiner Unvernunft“ vollzieht. Es ist daher höchste Zeit für die Klärung der Frage, ob der „kapitalistische Geist“ verlässlich und rational oder schlicht verrückt operiert. Das ist nicht leicht. Beim Nachdenken über Geld und Märkte entsteht früher oder später ein Gefühl der Hilflosigkeit. Dieser Befund ist beunruhigend, bestimmt Geld doch wie nichts sonst unsere Existenz. Dennoch ist niemand fähig, hinreichend genau sagen, wie Geldaustausch vor sich geht und was er bewirkt. Diese Undurchschaubarkeit verursacht Aggressivität und ein Gefühl der Leere sowie der Lähmung.
Geld löst häufig irrationales Verhalten aus. Auch die Ökonomen haben nicht alles im Griff. Sie können das Kommende nicht prognostizieren, den Markt nicht steuern und seine „Logik“ nicht verstehen. Der Markt denkt gar nicht daran, sich vernünftig zu verhalten. Er reguliert sich auch nicht selber, schon gar nicht nach den Gesetzen irgendeiner „ökonomischen Vernunft“. Das wird durch die ökonomisch Handelnden selbst ausgeschlossen, mit ihrer Gier, ihrer Machtlust und ihrer Hoffnung, einen größeren Happen von der Beute zu kriegen als die anderen. Der Markt verhält sich irrational, weil seine Akteure sich irrational verhalten. Im Umgang mit Geld gibt es keine Objektivität. Es fehlt auch an einer konkreten und präzisen Vorstellung für das, was unser Handeln mit Geld bewirkt. Mit der zunehmenden Abstraktion des Tauschprozesses ging der Bezug zu den Dingen verloren, die das Geld eigentlich repräsentieren sollte. Das System hat sich verselbstständigt. Es ist für die „sinnliche Vernunft“ undurchschaubar geworden. Möglicherweise ist man in „magische Muster“ zurückgefallen. Immer mehr Menschen verhalten sich als Gläubige und Ungläubige wie trunkene aber skeptische Teilnehmer eines Kults. Vielleicht sind wir sogar alle freiwillig-unfreiwillig Mitglieder einer weltumspannenden Religion geworden. Als solche könnten wir gezwungen sein, zu glauben oder wenigstens hinzunehmen, was uns „Hohepriester“ („Experten“ und Politiker) verkünden, weil uns rationale Erkenntnis verwehrt bleibt.
Geldgier lässt sich nicht in Dienst nehmen, solange das Geld weiter als Illusion regieren kann. Alle Reformbemühungen bleiben nur erfolglose Versuche der Symptombekämpfung, wenn wir nicht erkennen, dass es nur dazu dient, unsere Beziehungen unter dem Mantel eines illusionären Wertes abzuwickeln. Deshalb ist auch eine moralische Neuorientierung unabdingbar. In einer vernünftigen Ordnung menschlicher Gesellschaften darf Moral ihre Begriffe aber nicht buchhalterisch aus der Bilanzierung von Vor- und Nachteilen importieren. Angesichts der Tatsache, dass Sachverstand und gemeinwohlorientierte Charaktere in Politik und Wirtschaft knappe Ressourcen sind, ist nicht zu erwarten, dass die diversen Führungscliquen aus dieser Einsicht rechtzeitig die richtigen Konsequenzen ziehen werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich stattdessen Verstand und Vernunft unter den Menschen durchsetzen, die mehr Hoffnung auf die Straße setzen, als auf schallgedämpfte Konferenzsäle in Brüssel. Das wird nicht einfach sein. Der Finanzkapitalismus moderner Prägung trägt nämlich teilweise absurde Züge:
Jemand, der eine Ware nicht hat, sie weder erwartet noch haben will, verkauft diese Ware an jemanden, der diese Ware ebenso wenig erwartet oder haben will und sie auch tatsächlich nicht bekommt… hier werden gegenwärtige Preise für Nichtvorhandenes nach der Erwartung künftiger Preise für Nichtvorhandenes bemessen. Hier werden Preise mit Preisen bezahlt. Die Preise sind also die Waren selbst, befreit von der Bindung an materielle Lasten und Beschwernisse. Sie rechtfertigen den Titel eines „selbstreferenziellen Marktgeschehens“.
Spekulation wird zum Synonym für die Beschaffung von Liquidität. Sie erscheint als Normalfall finanzökonomischer Transaktion. Termingeschäfte stellen sich folglich als ein logisches Pendant zur Kapital- und Kreditwirtschaft dar, Finanzderivate als eine vom Gütermarkt und vom Bargeldumlauf unabhängige Form von Geld. Die angebliche Vernunft oder die Effizienz der Finanzmärkte haben dazu geführt, dass Wetten auf künftige Kursverläufe dem Spiel eines Schimpansen gleichen, der mit verbundenen Augen Dartpfeile auf den Börsenteil einer Zeitung wirft.
Ungedecktes Papier- oder Rechnungsgeld war nach dem Ende von Bretton Woods kein vorübergehender Notbehelf in Zeiten der Krise. Es avancierte zur Voraussetzung, zum Funktionselement und unvermeidlichen Schicksal im internationalen Kapitalverkehr. So entstand ein beispielloses System. In ihm beziehen sich Währungen nur auf Währungen. Sie beruhen direkt oder indirekt nur auf einem Standard ungedeckten Rechengeldes. Die Zirkulation uneinlösbarer Zahlungsversprechen geriet insgesamt zu einem finanzökonomischen System. Die Stabilisierung von Kreditökonomie und Währungssystemen wird nicht mehr durch eine Konvertierung in Gold oder Warengeld abhängig gemacht. Es geht um einen fortlaufenden Austausch zwischen Geld und Information. Im Zahlungsverkehr sind Informationen über Geld wichtiger geworden als das Geld selbst. Die Preise auf den Finanzmärkten kompilieren nämlich zugleich Informationen über die Zukunft von Preisen.

 

III. Geld ohne Wert

Bei dem Versuch, die Finanzkrise zu erklären, könnte man den Untiefen der Psychiatrie vielleicht entgehen, wenn man sich zwei Thesen widmete.
Da ist zum einen die Behauptung, dass es der traditionellen ökonomischen Theorie nicht gelungen sei, das Geld zu erklären. Deshalb seien der Umgang mit dem Geld und die Geldgier ungelöste Rätsel geblieben.
Zum anderen ist es die Aussage, dass es für das Geld und seinen Wert keinen realen Grund gibt. Man kann es nicht aus etwas anderem ableiten oder auf ein sicheres Fundament zurückführen. Geld wäre also nur eine „globale Illusion“.
Die zweite These ist schon auf den ersten Blick hin absurd. Offensichtlich sind die meisten Menschen der Auffassung, dass das Geld die allerrealste und allerwichtigste Sache der Welt sei. Geld ist so selbstverständlich, dass wir alle unsere Beziehungen darüber abwickeln.
Was begründet dann aber den illusionären Charakter des Geldes?
Die Frage ist schwer zu beantworten, wenn man sich nicht zuvor Gedanken darüber gemacht hat, wie Geld entsteht. Der alte Satz „ex nihilo nihil fit“ (Von Nichts kommt Nichts) scheint nicht mehr zu gelten, wenn es richtig ist, dass Geld im Grunde aus dem Nichts entsteht, indem eine Bank einem Kunden Kredit gewährt. Dabei ist gleichgültig, ob es sich um einen Unternehmer, einen Häuslebauer oder einen Hedgefonds handelt, der seine Geschäfte mit Kreditgeld „hebeln“ möchte.
Die Entwicklungen der letzten Jahre haben deutlich genug gezeigt, dass Geld nicht aus sich heraus einen Wert verkörpert. Es stellt eben keine verlässliche objektive Bezugsgröße dar. Alleine auf seiner Grundlage sind die meisten gesellschaftlichen Beziehungen nicht abzuwickeln.
Die heutige ökonomische Theorie ignoriert die damit verbundene Problematik zumeist. Für sie ist Geld nur ein „Schleier“ über den wirklichen Vorgängen in der Wirtschaft. In den Zeiten der Finanzkrise liegt eine Tröstung fast auf der Hand: In der „realen“ Wirtschaft ist alles in Ordnung. Nur auf den Finanzmärkten gibt es eine gewisse Unruhe, die für den realen Sektor aber unbedeutend ist. Das ist absurd. Ohne Geld gibt es keine Transaktion, keinen Kauf und Verkauf, keine Investition, also keinen Markt. Es unterliegt keinem vernünftigen Zweifel, dass die Weltwirtschaftskrise von einer Krise des Finanzsektors ausgelöst wurde. Das ist nicht untypisch für den Kapitalismus. Damit werden Fragen zum Charakter des Finanzsektors insgesamt aufgeworfen.Vor deren Beantwortung ist zu prüfen, ob es überhaupt eine einigermaßen schlüssige Theorie über Geld gibt. Die Idee von der geringfügigen Bedeutung des Geldes hat mittelalterlich-scholastische Wurzeln. Seinerzeit begann man, den in Geld ausgedrückten Preis vom „wahren Wert“ einer Sache zu unterscheiden. Dieser Wert, ausgedrückt im „gerechten Preis“, war eher eine „moralische“ Vorstellung, die im Zuge der Aufklärung naturalisiert wurde. Den wahren Wert der Dinge sah man in der (investierten) menschlichen Arbeit. Die in Geld ausgedrückten Preise wurden nur als eine verschleierte Form des wahren Wertes betrachtet. Es ging also um die in den Waren verkörperte Arbeitsmenge. Das ist eine Vorstellung, die auch Karl Marx übernommen und fruchtbar gemacht hatte.
Angesichts der praktischen Schwierigkeiten bei der Messung der Arbeitsmenge hatte man auf eine ganz besondere Ware zurückgegriffen: das Gold. An dessen Stelle als Maßeinheit ist mittlerweile die „Deflationierung“ der Preise getreten. Damit will man den realen Wert des Geldes messen. Es wird ein Warenkorb mit ausgewählten Produkten und Dienstleistungen zugrunde gelegt. Sie werden mit den jeweiligen Preisen multipliziert. Dann vergleicht man die Veränderung dieses Warenkorbs über die Zeit. Steigt sein Preis, spricht man von „Inflation“. Mit Hilfe der daraus ermittelten Inflationsrate wird schließlich der Wert des Geldes gemessen.
Diese Methode hat aber nur einen eingeschränkten Nutzen. Die für die Finanzmärkte wichtigsten „Produkte“ sind in dem Korb nicht enthalten. Steigen auf den Aktienmärkten die Preise, spricht man eben nicht von Inflation, sondern von „steigenden Gewinnerwartungen“. Im Warenkorb, der die Inflation messen soll, befinden sich auch keine Arbeitsleistungen oder öffentlichen Güter, die vom Staat gegen Steuern bereitgestellt werden. Der „wahre Wert“ des Geldes lässt sich mit Hilfe eines entsprechenden Inflationsmaßes nicht ermitteln. Auch der Begriff „Geldmenge“ ist deshalb sinnlos.
Erst nach Ende seiner Amtszeit sorgte der ehemalige Chef der amerikanischen Notenbank („Fed“), Alan Greenspan, für etwas mehr Klarheit. Er gab zu, dass man Geld als Quantität gar nicht messen kann. Das ist eine erstaunliche Aussage. Immerhin hat dieser Mann über 18 Jahre hinweg die Geldgeschicke nicht nur einer ganzen Nation, sondern der weltweiten Finanzmärkte wesentlich mitgestaltet. Am Ende gestand er ein, dass man den Gegenstand seiner täglichen Beschäftigung gar nicht mengenmäßig bestimmen kann! Damit ist er als Wert nicht erfassbar. Die Ökonomen können also gar keine gültigen Prognosen formulieren. Auch die nächsten Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute, der wissenschaftlichen Beiräte der Regierungen, der Prognoseabteilungen von Banken etc., etc. werden wieder Fehlleistungen sein. Die theoretischen Fundamente der modernen Wirtschaftstheorien sind nichts weiter als leere Behauptungen. Alles, was angeblich gemessen wird, ist spekulativ, beruht auf unbewiesenen Annahmen und höchst wackeligen Informationen.
Mit anderen Worten: Auch die neueren Geldtheorien sind nicht nur alter Wein in neuen Schläuchen. Sie verbergen hinter einem Wall an Gleichungen, Tabellen und Grafiken nur die schlichte Wahrheit, dass sich das Geld weder als Quantität genau messen noch sich zuverlässig etwas über seine Wirkungen vorhersagen lässt. Vielleicht profitiert auch der ehemalige Chef der Fed von den Segnungen der Altersweisheit. In einer Rede vor dem „Council on Foreign Relations“ am zweiten Jahrestag des Zusammenbruchs der Lehman Bank warnte Greenspan in dramatischer Weise vor einer Haushaltskatastrophe. Es reiche nicht, mit dem Abbau der ausufernden Defizite zu warten, bis die Wirtschaft wieder besser läuft. Andernfalls drohe eine Vertrauenskrise, die zu einem Kollaps der privaten Investitionstätigkeit führen könne. Nun fordert Greenspan auch Steuererhöhungen, weil er gegen Steuersenkungen mit geborgtem Geld ist. Er empfindet Sorgen angesichts des Immobilienmarktes. Investoren halten riesige Bestände an unverkäuflichen Häusern. Sollten sie diese auf den Markt werfen, käme es zu einem neuen katastrophalen Einbruch der Immobilienpreise.
Der Realitätsgehalt all dieser Einschätzungen kann hier dahin gestellt bleiben. Ungeachtet aller hochwissenschaftlichen Differenzierungen in den Geldtheorien gilt: Geld gibt es nur dann, wenn viele Menschen Geld – als Ware oder Papiergeld – anerkennen. Wir bewegen uns also in einem unvermeidbaren Zirkel. Das ist kein logischer Mangel, sondern liegt in der Natur des Geldes. Man kann das Geld nicht auf etwas anderes zurückführen, ohne es stillschweigend immer schon vorauszusetzen. Etwas, das man nicht aus etwas anderem ableiten kann, bleibt zwangsläufig unbestimmt und unbestimmbar.
Die Pointe beim Geld ist also: es ruht nicht auf einem festen Fundament einer genetischen Eigenschaft, einem objektiven Wert von Gold oder von Immobilien und Grundstücken. Der Wert des Geldes hängt gewissermaßen in der Luft, es handelt sich um eine „Fata Morgana“. Geld als solches ist nichts anderes als eine zirkuläre Illusion. Es hat, wenn man es genauer untersucht, fast keinen Inhalt. Soweit vorhanden, deckt es sich mit den aufgedruckten Zahlen auf den Geldscheinen. Ist erst einmal eine Geldeinheit festgelegt, kann man mit dem Geld nach den Regeln der Arithmetik verfahren. Es genügen die Grundrechenarten und etwas Potenzrechnung, wenn es um Zinsen und Renditen geht. Geld wird praktisch in seinem Wert durch alltägliches Handeln anerkannt, indem wir mit ihm hantieren, also rechnen. Es ist diese milliardenfache alltägliche Handlung, die dem Geld seinen Wert verleiht.
Der Einwand, dass die Menschen doch nur in Geld rechnen, weil Geld einen Wert hat, überzeugt nicht. Alle glauben zwar, dass Geld von sich her einen Wert besitzt. Der illusionäre Charakter dieses Verständnisses ist aber leicht zu entdecken. Bieten Sie einfach nur alte Reichsmarknoten einem Antiquar zum Kauf an. Die aufgedruckte (hohe) Summe ist nur ein paar Euro oder Cent wert. In der Inflation finden fließende Übergänge statt. Das Geld verliert an Wert, weil die Menschen es nicht mehr als wertvoll erachten, rasch ausgeben und ihm am Ende ganz das Vertrauen entziehen. Geld hat also nur einen Wert, wenn alle auf den Märkten es als Wert auch anerkennen. Das kann kein Staat verordnen. Geld wird nur anerkannt, weil jedermann glaubt, dass es von sich her einen Wert besitze. Das ist ein gedanklicher Zirkel, der nur in Krisen oder Zeiten der Inflation evident wird. Im normalen Alltag bleibt er verborgen.

IV. Geld ohne Maß


Die Natur des Geldes sollte jetzt klar geworden sein. Etwas, das nur dadurch existiert, dass alle daran glauben, ist eben nichts weiter als eine Illusion. Allerdings herrscht sie objektiv und übt durch die Köpfe der Menschen hindurch Macht aus. Trotz seines illusionären Charakters ist Geld jedoch nach wie vor ein heiß begehrtes Gut. Auf den Aktien- und Rohstoffbörsen scheint sich dieses Begehren in einer kollektiven Hysterie zu realisieren. Aber diese Art von Verrücktheit, in der Keynes eine „ekelhafte Krankheit“ sah, ist die Normalität des entfesselten Kapitalismus. Zum Teil ist diese Krankheit sogar durch objektive Gründe erklärbar.
Geld hat mehrere Funktionen (Rechnungseinheit, Tausch-, Zahlungs- und Wertaufbewahrungsfunktion). Es ist aber vor allem eine Marktzutrittsschranke, die leicht zu überspringen ist, wenn man genügend davon besitzt, um die geforderten Preise zu bezahlen. Ansonsten grenzt das Eigentum alle Nichtgeldbesitzer aus. Das Eigentumsrecht wird durch staatliche Gewalt geschützt und bildet eine permanente Schranke für den Marktzutritt. Sie hebt sich nur gegen Geld.
Dieses Prinzip ist global und universell. Alle Menschen in einer Geldökonomie sind also zum Streben nach Geld quasi verurteilt. Darin liegt der objektive Grund für das, was in seiner entfalteten Form als „Geldgier“ erscheint und subjektiv reproduziert wird. Insofern muss man anerkennen, dass Geldgier keine angeborene Verwirrung des Geistes oder eine exklusive Eigenschaft krimineller Charaktere ist. Sie ist ein historisch überkommenes Alltagsphänomen, das als reines Streben nach Geld zum Beispiel in Gestalt des Wuchers bekannt ist. Beim Geld ist Maßlosigkeit die Regel. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Erwartung gepflegt wird, dass sich eine Geldsumme verzinsen möge, könnte man als zu einem allgemeinen Vorurteil verwandelte Geldgier bezeichnen. Alle Institutionen der Finanzmärkte, die Banken wie die Börsen, sind deren Verkörperung. Angesichts von Geldknappheit (Niemand kann von Geld jemals genug bekommen) und der universellen Entfaltung des Strebens nach Geldbesitz begegnet sich Geldgier auf den Märkten gewissermaßen selber. Das weltweite und umfassende Streben nach Verzinsung des eingesetzten Geldes macht definitiv vor nichts halt. Ergibt sich ein Vorteil daraus, dass man traditionelle Moralregeln oder die kaufmännische Redlichkeit unterläuft, so werden solche Regeln aufgehoben. Wir stehen letztlich vor einer globalen De-Regulierung der tradierten Moralsysteme. Dies zeigt sich nicht nur an den immer wieder in den Medien präsentierten Fällen von Korruption und Bilanzbetrug.
Deutlich wird das vor allem an einem wachsenden Verlust in der Geltung moralischer Werte. Das organisierte Verbrechen ist auch deshalb die wichtigste Wachstumsbranche. Der osteuropäische Kapitalismus wurde an vorderster Front von früheren, arbeitslos gewordenen Geheimdienstmitarbeitern auf illegalen Märkten in neuen Verbrechersyndikaten aufgebaut.
Zudem ist die Lüge zur wichtigen Gewinnquelle geworden. Ob man durch gezielte Gerüchte Aktienkurse, Rohstoffpreise oder Wechselkurse manipuliert – stets sehr gewinnträchtig für jene, die die Lügen verbreiten –, oder ob man einfach die Öffentlichkeit, die Behörden, die Wirtschaftsprüfer und allen voran die eigene Belegschaft durch falsche bzw. gefälschte Zahlen belügt: stets ist es die abhandengekommene Moral, die sich als Gewinnquelle, als neuer Bewegungsraum der Geldgier erweist. Auch im Westen hat die moralische Indifferenz eine lange und bewährte Tradition. Angesichts der Geisteshaltung vieler Banker sollte das niemanden erstaunen. Es ist eben ausgesprochen profitabel, in der Finanzindustrie zu arbeiten, selbst wenn man weder Erfahrung noch Ausbildung mitbringt. Das Umfeld offeriert einen Lebensstil, der nach viel Geld verlangt, weil nur ein nach außen sichtbarer Erfolg noch mehr Geschäft anzieht und den sozialen Status schafft, nach dem die meisten sich seit ihrer Kindheit gesehnt haben. Diesseits der Moral hat man den Eindruck, dass es sich um eine Welt von Ego und Lust handelt, in der weder Bildung noch Charakter gut bezahlt werden. Dies zu beklagen könnte als der Gipfelpunkt der Naivität erscheinen, wenn Geld (nur) ein Kommando gibt und seine Order nur„Mehr“
lautete. Geld, könnte man in kaum überbietbarer Knappheit sagen, ist „eine Zahl mit Besitzer.“ Der Besitzer von Geld ist der erste, dem dieses Kommando gilt.
Am Anfang scheint Geld nichts anderes zu sein als Zahlen in einer Tabelle. Die Zentralbank schöpft Geld, indem sie einer anderen Bank eine Zahl ins Buch schreibt. Manche sehen von ihr eine „Wasserkette“ ausgehen, von Schulden über Schulden und Kredite auf Kredite bis hinunter zum Konsumenten. Darin liegt in der Tat etwas Neues. Bis vor 30 Jahren hätte der Konsument nie der Letzte in der Kette sein dürfen, der Schuldner der letzten Instanz. Dieser Platz war bis dahin den Investoren vorbehalten gewesen.

V. Schulden ohne Geld

Im Prozess der Geldschöpfung entstehen Schulden. Geldausgeben bedeutet Einnahmen. Wachstum wird durch Aufnahme neuer Schulden generiert. Der Prozess von mehr Schulden über mehr Geld zu mehr Umsatz und mehr Gewinn treibt sich selbst voran. Er führt möglicherweise zu einem Problem, wenn die Wirtschaft nicht weiter wächst, weil der Kredit sich nicht erhöht. Wieder nur zirkulär mutet die Aussage an, dass Geld das ist, was Geld tut (Bezahlen, Bewerten, Speichern). Die Funktionen des Geldes scheinen unveränderbar, weil sie zugleich das Geld sind. Variabel sind nur Geschwindigkeit und Volumina der Zirkulation. Der Satz „Zeit ist Geld“ bekommt durch die elektronische Kommunikationstechnologie eine atemberaubende Aktualität und Intensität. Die Finanzinnovationen sind ohne moderne Medialität nicht denkbar. Das provoziert die Frage, ob die Digitalisierung des Geldes den entscheidenden Bruch darstellt. Sie steht mindestens in einem funktionellen Zusammenhang mit unterschiedlichen Geldsorten (Bargeld, Konsumgeld, Finanzgeld). Schon das Konsumgeld ist in den Zustand digitaler Information übergetreten. Es fließt über Bankkonten. Die Zahl muss einem Besitzer zugeordnet sein, sonst wäre sie kein Geld. Die bekannte Identität des Konsumenten ermöglicht staatlichen Zugriff. Anders ist das beim Finanzgeld. Die Summen werden in transnationalen Konzernen über Staatsgrenzen hinweg verschoben. Teils werden sie in „Finanz-Staaten“ gehalten, die eher Banken als Staaten sind und heimliche Speicherung anbieten. Geld und Besitzer bleiben anonym.
Das Geld des Schattenbanksystems bildet als digitalisierte Verrechnungsform eine eigene Art. Die Festlegung der Geldnähe der jeweiligen Anlagen erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Auf der ersten sind noch Preise feststellbar, auf der zweiten nur noch abgeleitet und auf der dritten besitzt nicht einmal der Basiswert einen Preis. Das zeigen etwa die Kreditausfallversicherungen. Sie zirkulieren in einem sich stetig aufblähenden Markt an Stelle der Anleihen, werden nur zwischen den Banken („Over-the-Counter“) gehandelt und beziehen sich auf einen dritten Besitzer einer anderen Summe. War Geld bis jetzt noch eine Zahl mit Besitzer, so geht es jetzt um Geld als eine Zahl, die davon ausgeht, dass eine andere Zahl in Zukunft von jemandem besessen wird: „Derivat-Geld“.
Zur Erwirtschaftung höherer Renditen ist Vermögen, das übrigens nie ungleicher verteilt war als heutzutage, zumeist „gehebelt“ angelegt. Der Investor nimmt einen günstigen Kredit auf, der gleichzeitig den „Löwenanteil“ der Investition ausmacht. Das rechnet sich, wenn der Zins für den Kredit geringer ist als die Rendite der Investition. Mittlerweile übersteigt die Menge der Kredite die Vermögensmengen um ein Vielfaches. Das „Leverage“, also die Hebelung durch Kreditaufnahme, ist der archimedische Punkt der Weltfinanzordnung geworden. Der Hebel vergrößert das Risiko. Derivate sollen Anlagen sichern. Das Risiko eines Verlustes wird an Dritte verkauft. Die (scheinbare) Absicherung erweitert den Kreditrahmen. Der Hebel wird noch länger. Das Zeitalter der „Securitization“ ist eröffnet.
Die Zirkularität von Vertrauen, Risiko, Verschuldung und Abwälzung führt letztlich zur wechselseitig garantierten Gefährdung, wenn nicht zur Vernichtung unter dem Etikett der Sicherheit. Zur Erinnerung: Es begann mit der Deregulierung der Finanzmärkte. Dann folgte ein Berechnungsmodell für Derivate. Schließlich kamen die „Finanzinnovationen“. Der unübersehbare Markt an Futures, Optionen und Swaps war eröffnet. Dort erfolgte der Weiterverkauf von Risiken zumeist rechnerisch korrekt. Der Teufel steckt hier weniger im Detail als in den Ausfallrisiken der Gegenseite, die den Kreditausfall eigentlich versichern soll. Im Mangel an Deckungsmöglichkeiten liegt das systemische Risiko.
Auf den Finanzmärkten findet unterdessen weiter das alte Spiel statt:
Mehr! Mehr! Mehr!
Man schöpft in unglaublichem Maße neue Kredite. Die „Geldproduktion“ steigt exzessiv. Damit wird „Wachstum“ geschaffen. Kreditausweitung und Krisenentwicklung haben nun die Vorstellung hervorgerufen, das Bankensystem müsse Hebel, Risiken und damit Kredit verringern. Damit ist jedoch kein Problem gelöst. Die Verringerung von Kredit ist nämlich gleichbedeutend mit der Vernichtung von Geld.
Der utopische Gedanke einer schuldenfreien Wirtschaft fordert konsequenterweise die Abschaffung des Geldes in seiner heutigen Form. Damit gerieten aber Grundfesten in Gefahr. Das heutige Finanzkapital unterscheidet sich von demjenigen von vor hundert Jahren nämlich in fundamentaler Weise. Damals ging es vor allem um Güterproduktion. Heute ist die Herstellung durch Kommunikation im weitesten Sinne ersetzt. Modernes Banking entstand wegen des mit der Industrialisierung verbundenen ungeheuren Geldbedarfs. Die „Securitization“ führte zu einer Auslagerung der entsprechenden Versorgungsfunktionen der Banken an den Finanzmarkt und verwandelte sie selbst zu Agenten an diesem Markt. Mit jeder Kreditaufnahme findet Geldschöpfung statt. Die „Securitization“ hat eine Veränderung des Rahmens dieses Verfahrens bewirkt. Früher hielten die Banken den Kredit in ihren Büchern und legten eine Reserve an („Originate-and-Hold“). Heutzutage halten sie den Kredit nicht, sondern verkaufen ihn an einen Dritten („Originate-and Distribute“). Dieser erwirbt das Recht auf die Rückzahlungen und gibt der Bank dafür (sofort) Geld. Der Kredit befindet sich nicht mehr in den Büchern der Bank. Nach seiner „Erzeugung“ wird er sofort verteilt. Damit ist übrigens im Prinzip schon die Immobilienblase beschrieben, die ihren Ausgang in den USA nahm.

VI. Thesen ohne Taten


Die Bemühungen zur Eindämmung der Finanz- und Schuldenkrise sind bislang weitgehend erfolglos geblieben. Sie konnten auch nicht nachhaltig wirken, weil das grundlegende Geschäftsmodell unangetastet blieb. Unterdessen verliert Europa den Glauben an sich selbst. Das provoziert die Frage, ob eine Währungsgemeinschaft, in der sich der Zweifel eingenistet hat, überhaupt noch funktionieren kann. Der banale Hinweis darauf, dass Angst der größte Gegner des Vertrauens ist, ersetzt keine Antwort. Geld richtet sich zwar nach wie vor an den Einzelnen und weckt seine Habgier. Mit jedem neuen Gewinn steigt aber auch die Angst, alles zu verlieren. Das Geld kann ihr nur begegnen, wenn alle von seiner Glaubwürdigkeit überzeugt sind. Dazu ist Vertrauen in die Gemeinschaft nötig. Schwindet es, kann jede Währung kaputtgehen. Historisch beruht der Gemeinschaftsglaube immer auf einem Herrscher oder einer Regierung. Heutzutage fehlt es aber an einer derartigen Inkarnation einer Gemeinschaft, in der Glaubwürdigkeit Gestalt annimmt. Mangels einer neuen Leitidee Europas dürfte die soziale Gerechtigkeit der stärkste Kitt einer demokratischen Gemeinschaft und damit die Voraussetzung für Vertrauen und den Glauben an diese Gemeinschaft sein.
Es geht also darum, der Dynamik des Geldes Zügel anzulegen. Nur so könnte Geld zum „Klebstoff“ zwischen Gemeinschaft und Individuum werden. Die Bereicherungssucht ist dagegen der Motor von sozialer und ökonomischer Verwüstung. Man wähnt sich einerseits in einem Vakuum zwischen dem „Nicht-mehr“ des nationalen und dem „Noch-nicht“ des gesamteuropäischen Gedankens. Andererseits werden Marktwirtschaft und Demokratie als „Kinder der Aufklärung“, erkannt, die zeitgleich die Bühne der Geschichte betreten haben. Während der Kapitalismus das einzelne Subjekt mit seinen Profitinteressen in den Mittelpunkt stellt, steht in der Demokratie der Bürger mit seinem Stimmrecht im Zentrum. Beide müssten einander ergänzen. Geld hatte einmal sogar demokratisierende Effekte. Mit der Aufgabe des Goldstandards ist jedoch der Aufstieg des Finanzkapitalismus gekommen, ein „Phänomen ausufernden Geldes“. Die „Akkumulation von Nullen“ löst als ganz neue Erscheinung Beklemmung vor dem Augenblick aus, in dem sich das Geld als genau das offenbaren könnte: eine Anhäufung von Nullen. Geld wäre dann nur noch Zeichen. Sollte dann noch die Erkenntnis hinzutreten, dass auch die Politik insgesamt eine Anhäufung von Nullen ist, wären die Folgen für den sozialen Frieden kaum überschaubar.
Wie auch immer: Es ist nicht leicht, mit dem hohen Grad an Abstraktion fertig zu werden. Dieser Umstand erklärt womöglich auch die „Raserei“ der Börsenhändler und Spekulanten. Die Begierde nährt sich selbst. Das macht auch die enorme emotionale Energie des Geldes aus. Nur Sexualität oder Religion entfesseln ähnliche Leidenschaften. Sie können sich bis zur Gewalt steigern. Es ist gar von einer „Triebstruktur des Geldes“ die Rede. Eine Art der „Entrückung“ ist zu beobachten, ausgelöst durch die „irrsinnige Manipulation leerer Zeichen“. Sie wirkt gerade für den, der tagtäglich mit Geld zu tun hat, beängstigend.
Trotz aller Abstraktionen geht es doch nur um eher schlichte Weisheiten. Sie sind vielen Menschen gleichwohl nicht zu vermitteln. Dahinter steht womöglich eine besonders wirksame Form der Täuschung: Selbstbetrug. Neuere wissenschaftliche Forschungen der Neuroökonomie kommen zu dem Ergebnis, dass der Umgang mit Geld im Gehirn dasselbe Areal aktiviert, das auch nach dem Genuss von Kokain und Sex stimuliert wird. In allen Fällen, also auch bei Geld, scheint der Verstand mithin auf der Strecke zu bleiben. Selbstbetrug und Abdankung des Verstandes haben kollektive und strukturelle Dimensionen. Sie sind auch deshalb schwer verständlich, weil die meisten Menschen in Europa einen ökonomischen Zusammenbruch noch nie erlebt haben. Deshalb spüren sie lediglich eine abstrakte Angst. Geld ist jedenfalls nicht zu begreifen, wenn man sich nur auf dessen Zweckrationalität einlässt. Es ist eine der wirkungsmächtigsten Versuchungen und Verführungen. Als solche prägt Geld den Stil des Lebens. Leider.
Was tun?
Wir könnten etwa darauf warten, dass die mehr oder minder demokratisch legitimierten Politiker und die vermeintlich oder tatsächlich zuständigen Institutionen die gesellschaftlichen, psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Implikationen dieser Lage erkennen und angemessene Konsequenzen ziehen.
Oder auch nicht. Immer mehr Menschen könnten nämlich das Gefühl haben oder bekommen, dass zumindest die europäischen Spitzenpolitiker den Kontakt zu ihren Wählern verloren haben, dass die Gesellschaft den Parteien und politischen Instanzen weit voraus ist, dass also jene, die uns regieren (bzw. dies vorgeben), irgendwo den Faden verloren haben und Kompetenz seitdem weitgehend simulieren. Bislang hat eine wachsende Zahl von Bürgern das nur geahnt. Journalisten haben es zwar beschrieben, konnten es aber nur selten beweisen.
Die abschließenden 10 Thesen können der Komplexität des Themas auch nicht gerecht werden. Und sie sollen auch nichts beweisen:

  1. Im Anfang ist ein Staatsakt, der Geld als „Geschöpf der Rechtsordnung“ konstituiert; zu Geld wird, was durch ungebundene Autorität zu Geld erklärt wird.
  2. Geld muss rein gar nichts (an „Wert“) beinhalten; Papier-, Kreditkarten- und Buchgeld sind ohne Bürgen völlig wertlos.
  3. Modernes Geld speichert seinen Wert nicht; es repräsentiert und behauptet ihn.
  4. Entscheidend sind nicht die übereinstimmende Auffassung der Marktteilnehmer, sondern die Protektion des Staates und das umfassende Vertrauen der Geldgesellschaft in den Emittenten des „Schein-Geldes“ als Hüter seines inneren Wertes.
  5. Die Zentralbanken stellen den Geschäftsbanken „Als-ob-Geld“ zur Verfügung, die es an ihre Kunden weitergeben; dabei handelt es sich nicht um vorhandenes und verliehenes Geld, das etwa auf irgendeine Art gedeckt ist, sondern um neues und frischgeschöpftes Geld, das als „Geld“ in der Welt ist und gleichzeitig eine Schuld repräsentiert.
  6. Banken sind „Schuldfabriken“ geworden, in denen ständig „Anti-Geld“ produziert wird.
  7. Unbezahlbare Schulden sind ihrerseits kreditfinanziert, so dass es im modernen „Pumpkapitalismus“ keine Lösung für Geldprobleme mehr gibt.
  8. „Innovative Finanzprodukte“ haben das Geld von den Fesseln der Realwirtschaft fast vollständig befreit; sie müssen immer innovativer werden, damit sie das zunehmend labile „perpetuum mobile“ der aneinander geketteten Kreditfiktionen noch ausbalancieren können.
  9. Moderne Kapitalmärkte sagen der Wirtschaft nicht mehr, wo sie 
  10. steht, sondern dienen nur noch der unbegrenzten Geldvermehrung.
  11. Als „papiernes Nichts“ und „binärer Code“ neigt Geld zur totalen Grenzen-, Maß- und Zügellosigkeit und schafft deshalb nicht nur finanztechnische Probleme, sondern letztlich auch sicherheitspolitische Gefahren.

Anmerkungen


Thomas Druyen, Krieg der Scheinheiligkeit, 2012, S. 9.
Andreas Rinke/Christian Schwägerl, 11 drohende Kriege – Künftige Konflikte um Technologien, Rohstoffe, Territorien und Nahrung –, 1. Aufl. 2012, S. 9, 10, 11, 12.
Ausführlich: Frank Schirrmacher, Ego – Das Spiel des Lebens –, 2013.
Insgesamt: Stanislaw Petrow, „Der rote Knopf hat nie funktioniert“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 2013, S. 7.Hans Joachim Maaz, Die narzisstische Gesellschaft – Ein Psychogramm –, 2. Aufl. 2012, S. 212.Insgesamt stützen sich die folgenden Ausführungen auf zahlreiche Vorarbeiten und Veröffentlichungen anderer Autoren. Besonders maßgeblich waren u. a. die Untersuchungen von Ralph Heidenreich/Stefan Heidenreich, Mehr Geld, 2008; Dieter Schnaas, Kleine Kulturgeschichte des Geldes, 2010; Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, 2010. Zur Gesamtproblematik neuerdings auch ausführlich: Wolfgang Hetzer, Finanzkrieg – Angriff auf den sozialen Frieden in Europa –, 2013.