Es geht nicht allein um Cybercrime –

Fallzahlen, Devianz, Delinquenz und Handlungsbedarf in der Corona-Pandemie


Von Prof. Ralph Berthel, Frankenberg/Sa.

 

„Pandemie“ ist ein epidemiologischer Begriff. Er bezieht sich also auf die Epidemiologie als Teil der Gesundheitswissenschaften, die sich mit der quantitativen Erforschung von Gesundheitsrisiken von Gesellschaften befasst.2 Wer hätte noch vor zwei Jahren geglaubt, dass dieser Begriff für die Sicherheitsakteure eine derart herausfordernde Bedeutung erlangen würde, wie es seit dem Frühjahr 2020 der Fall ist. Mit diesem Aufsatz sollen mit Blick auf die Kriminalitätslage schlaglichtartig einige dieser Herausforderungen betrachtet werden, die im Zusammenhang mit der sog. Corona-Pandemie entstanden sind. Zugleich soll Handlungsbedarf insbesondere mit Blick auf die Kriminalwissenschaften skizziert werden.

1 Die Pandemie


Am 11. März 2020 hatte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den COVID-19-Ausbruch zu einer Pandemie erklärt. Diese Entscheidung wurde aufgrund der rapiden Zunahme der Fallzahlen außerhalb Chinas in einer steigenden Zahl von Staaten getroffen.3 Obwohl im Rahmen dieses Aufsatzes deviante und delinquente Handlungsmuster in Bezug auf die Pandemie und die zu deren Eindämmung ergriffenen staatlichen Maßnahmen aus kriminalwissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden sollen, erscheint es erforderlich, die Inhalte wesentlicher epidemiologischer Begriffe voranzustellen. „Eine Pandemie beschreibt die Ausbreitung einer Infektionskrankheit ohne örtliche Beschränkung über Kontinente und Ländergrenzen hinweg. Das unterscheidet sie von einer Epidemie. Zurück geht der Begriff Pandemie auf die altgriechische Wurzel Pandemia, die für das ganze Volk steht. […] Die WHO gibt eine solche Erklärung (Verf.: zur Einstufung einer Krankheit als Pandemie) anhand von sechs Stufen ab, in denen verschiedene Entwicklungsschritte beim Auftreten und der Entwicklung eines Krankheitserregers beschrieben werden. Auf der sechsten Stufe kommt es zu wachsenden und anhaltenden Infektionen von Mensch zu Mensch in der gesamten Bevölkerung und potenziell weltweit. Der pandemische Status wird erreicht. […] Die pandemische Einstufung eines Krankheitsausbruches bedeutet nicht, dass im Rahmen dieser Definition jedes Land Infektionsherde feststellen muss. Es bestehen aber die Möglichkeit und große Wahrscheinlichkeit, dass sich der pandemische Erreger schnell weltweit verbreitet. Pandemische Krankheitserreger sind deshalb so gefürchtet, weil sie in kurzer Zeit dazu führen können, Gesundheitssysteme zu überlasten.“4


Weder die Erfolgsaussichten noch die Plausibilität staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie oder das Gefahrenpotenzial für Einzelne soll hier Gegenstand der Darstellungen sein. Allerdings geht der Verfasser sowohl von der Richtigkeit der WHO-Einstufung, von der grundsätzlichen Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitssektors und zum Schutz von Leben und Gesundheit von großen Teilen der Bevölkerung ebenso aus, wie von deren rechtsstaatlichem Zustandekommen.

 

2 Phänomenologie; ausgewählte Delikte mit CORONA-Bezug5

 

In der Folge werden einige Deliktsbereiche im Zusammenhang mit der Pandemie und den staatlichen Maßnahmen zu deren Eindämmung exemplarisch und kursorisch dargestellt.

2.1 Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland

Die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung zu Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland während COVID-19-bedingter Ausgangsbeschränkungen veröffentlichten Cara Ebert vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Janina Steinert von der Technischen Universität München bereits im Juni 2020.6 Darin stellten sie u.a. fest:

  • Körperliche Gewalt: 3,1% der Frauen erlebten zu Hause mindestens eine körperliche Auseinandersetzung, zum Beispiel Schläge. In 6,5% der Haushalte wurden Kinder von einem Haushaltsmitglied körperlich bestraft.
  • Sexuelle Gewalt: 3,6% der Frauen wurden von ihrem Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen.
  • Emotionale Gewalt: 3,8% der Frauen fühlten sich von ihrem Partner bedroht. 2,2% durften ihr Haus nicht ohne seine Erlaubnis verlassen. In 4,6% der Fälle regulierte der Partner Kontakte der Frauen mit anderen Personen, auch digitale Kontakte, zum Beispiel über Messenger-Dienste.7


Bemerkenswert sind zweifelfrei auch die Policy-Empfehlungen, die die Autorinnen aus den Befunden der Studie ableiteten:

  • Hilfsangebote müssen besser in der Öffentlichkeit beworben werden, z.B. durch große Plakate in Supermärkten und Apotheken und durch Online-Anzeigen
  • Bei weitreichender Überwachung und Kontrolle durch einen Partner sind telefonische Beratungsangebote für betroffene Frauen schwer zu nutzen: Hilfe und Beratungen müssen auch online angeboten werden.
  • Das Konflikt- und Gewaltpotential in Haushalten mit Kindern ist deutlich erhöht: Es müssen Notbetreuungen für Kinder bereitgestellt werden, die nicht nur von Eltern in systemrelevanten Berufen genutzt werden können
  • Psychologische Beratungen und Therapien müssen ebenfalls online angeboten werden und die Nutzung muss niedrigschwellig sein
  • Frauenhäuser und Hilfestellen müssen systemrelevant bleiben.

2.2 Cybercrime

Mit einem Anstieg von 7.605 Fällen (6,2%) zählt Computerkriminalität zu den Deliktsbereichen, die im vergangenen Jahr entgegen dem Gesamttrend einen deutlichen Zuwachs bei den erfassten Fällen in der Polizeilichen Kriminalstatistik aufweisen.


In der Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie8 charakterisiert das Bundeskriminalamt das Täterhandeln in diesem Bereich wie folgt: „Cyberkriminelle fanden schnell einen Weg,um die Ausbreitung des Virus, die damit einhergehenden Sorgen und Unsicherheiten in der Bevölkerung sowie die vermehrte Nutzung von digitalen Angeboten für ihre Zwecke zu missbrauchen.“ Das BKA nennt in diesem Kontext folgende Modi Operandi:

 


Quelle: BKA, Sonderauswertung Cybercrime in Zeiten der Corona-Pandemie, S. 4.

 

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