Zur Interaktionsdynamik der sozialen Polarisierung und Gewaltradikalisierung in Sachsen

3 Mechanismen der sozialen Polarisierung


Der interaktionistische Ansatz der Radikalisierungsforschung ermöglicht es, die analytischen Grenzen zwischen der Makro-, Meso- und Mikroebene zu überwinden, indem intervenierende kausale Faktoren identifiziert werden. Gesamtgesellschaftlich gesehen lässt sich ein nicht unwesentlicher relationaler Mechanismus feststellen, der der sozialen Polarisierung vor der und im Zuge der Flüchtlingskrise Vorschub leistete. Es handelt sich um die Spiegelung bzw. „Internalisierung“ der internationalen Konfliktlagen16 im glokalisierten Deutschland, welche eine Wirkung auf die hiesige Bevölkerung ausüben und Ablehnungskonstruktionen im Hinblick auf bestimmte, als unvereinbar geltende Werte bestätigen bzw. erzeugen. Auch wenn die Furcht vor „Islamisierung“ keine wesentliche Ursache der späteren asylkritischen Proteste war, so waren sich die Anhänger von PEGIDA in der ersten Phase in ihrer Ablehnung der gewalttätigen Konflikte einig, welche etwa zwischen den IS-Anhängern und -Gegnern in Deutschland ausgetragen wurden. Eine zweite Form der auf Deutschland ausstrahlenden internationalen Konfliktlagen stellten die kaum administrierten Einwanderungsbewegungen aus Kriegsgebieten und/oder Ländern dar, über die oft im Kontext abweichender Wertvorstellungen (beispielsweise radikaler Islam, die Rolle der Frau) medial berichtet wird. Ein interviewtes Mitglied einer radikalisierten Gewaltgruppe teilte gar seine unmittelbaren negativen Erlebnisse aus einem militärischen Auslandseinsatz mit, die er auf die in den Jahren 2015/16 nach Deutschland kommenden Muslime übertrug.17

Im Sinne des Ursachenparadigmas entsteht unter solchen makrosozialen Bedingungen eine Situationswahrnehmung, die in der internationalen Konfliktforschung als relative Deprivation bezeichnet wird. Der Begriff kennzeichnet einen Zustand, in dem betroffene Menschen eine Diskrepanz wahrnehmen zwischen legitim erwartbaren Werten und den Möglichkeiten, diese Werte zu erreichen bzw. zu behalten. Die Wertedimension weist dabei drei Ebenen auf: Wohlfahrtserwartungen (beispielsweise ökonomische Faktoren und Selbstrealisierung), Machterwartungen (beispielsweise politische Partizipation und Sicherheit) und interpersonale Erwartungen (beispielsweise Gemeinschaftssinn und ideelle Kohärenz).18 Im Kontext der Flüchtlingskrise und asylkritischen Mobilisierung hat sich gezeigt, dass alle drei Ebenen zwar eine Rolle spielten, doch die Interviewten betonten die wahrgenommene Macht- und interpersonale Diskrepanz.

So bestimmte eine interviewte Person folgende politische Ziele der Beteiligungen an PEGIDA-Demonstrationen und sogar der Kameradschaftsgründung: mehr Aufklärung durch den Staat über neue Asylunterkünfte und über Straftaten der Asylsuchenden zu bekommen. Als Katalysator für seine radikalen Protestaktivitäten nannte er die brutale Vergewaltigung einer Frau durch einen marokkanischen Asylsuchenden im September 2015 an der Nossener-Brücke in Dresden. Nach Einschätzung eines weiteren Befragten waren die Anti-Asyl-Demonstranten/PEGIDA-Anhänger empört, da man täglich beziehungsweise ständig von Übergriffen durch Asylsuchende gehört habe, aber dies von den Medien immer nur als Einzelfall abgetan worden sei. Die Täter seien sogar immer noch in Schutz genommen worden, da sie ja durch die Flucht traumatisiert seien. Zugleich gab er zu, dass der Konsum der einschlägigen Medien nicht kritisch reflektiert wurde.19

Eine weitere Person brachte neben der ökonomischen Problematik (seiner Freundin soll wegen der Umfunktionierung eines Hotels zur Flüchtlingsunterkunft gekündigt worden sein) die Kritik an der (lokalen) Politik zur Sprache, die sich aus der Lösung der sozialen Konflikte seiner Einschätzung nach zurückzog:

„Naja und dann hat, dann hat sich es dann immer so weiter hochgesteigert. Dann auch im Umfeld. Dann auch in der Siedlung, kann man sagen. Es sind fünf Häuser hintereinander. Da hat sich es dann so hochgeputscht. Jeder hat seinen Senf dazu gegeben. Und dass der Stadtrat oder die Leute, die was in der Stadt zu sagen haben, nicht mit den Bürgern gesprochen hat, dass da das Hotel hinkommt. Die Ängste und Nöte, also was die Bürger so haben und die Anwohner, wurde nie drüber gesprochen. Das. Man hat es beschlossen und hat gesagt, pass auf, das wird gemacht und das ist so. Ihr könnt da machen, was ihr wollt, uns interessiert eure Meinung nicht oder eure Ängste nicht und so ‘n scheiß alles. […] Und wie gesagt, man hat sich allein gelassen gefühlt. Beschissen gefühlt auf Deutsch gesagt von den Politikern und Stadträten. Gut. Den Stadträten kann man eigentlich im Endeffekt auch keinen Vorwurf machen. Die kriegen es auch nur von oben diktiert. Sagen das mal so. Und die müssen es machen. Aber die Stadträte hätten wenigstens sagen können, pass auf, lasst uns mal zusammensetzen und reden drüber, wie sieht es aus, habt ihr Befürchtungen oder habt ihr keine Befürchtungen. Und mal wenigstens drüber reden, aber nichts machen, das ist für mich, das find ich nicht in Ordnung“.20

An dieser Situationswahrnehmung, die unter der betroffenen Bevölkerung anscheinend weite Verbreitung fand, zeigt sich, dass die Asylpolitik auch als Folie für die Funktionsweise der (lokalen) Demokratie unter Kritik stand.

Die sächsische politische Kultur ist geprägt durch die Betonung sozialer Gleichheit, wohlfahrtsstaatliche Forderungen und Misstrauen gegenüber den Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates, wobei ein Großteil der Bevölkerung politische Entscheidungen in erster Linie nach dem Modus ihres Zustandekommens legitimiert.21 Das obige Zitat lässt sich daher dahingehend interpretieren, dass die asylkritische Mobilisierung der lokalen Bevölkerung in bestimmtem Maße mit der verweigerten Partizipation zusammenhing. Die Mitsprache erweist sich im Sinne der prozeduralen Gerechtigkeit als eine besonders einflussreiche Variable, was die Entschärfung sozialer Konfliktlagen angeht. Allerdings wurde die Möglichkeit, politische Mediations- und Erörterungsformate vor Ort zu etablieren (der Mechanismus der Out-Group-Vermittlung und Legitimierung des Protestanliegens), kaum bzw. erst sehr spät ergriffen – in manch einer Gemeinde erst dann, nachdem es Akteuren aus dem rechtsextremen Spektrum gelungen war, sich an die Spitze des Protestgeschehens zu stellen.

Ein weiterer relationaler Radikalisierungsmechanismus bewirkte auf der kognitiven und emotiven Ebene eine rasche Aktivierung des Wir/Ihr-Gegensatzes und eine entsprechende Grenzziehung auf Seiten der Protestakteure Protestakteure, die mit einer spezifischen Form der moralischen Abkopplung einherging. Denn dem „Wutbürger“ wurde die Legitimität abgesprochen, ein (lokales) politisches Anliegen zu vertreten. Dies lief auf eine Delegitimierung des Anliegens an sich hinaus und traf nicht nur die von den bekannten Rechtsextremisten organisierten bzw. beeinflussten asylfeindlichen Proteste. Es liegt nahe, dass infolgedessen in bestimmten Bevölkerungssegmenten ein negativer emotionaler Zustand die Bereitschaft zur effektiven Situationsbewältigung mit konformen Mitteln einschränkte, wobei die soziale Kontrolle und Sanktionierung vor Ort geschwächt wurde. Gewaltkompetente Akteure nahmen dies zum Anlass, die Gewaltanwendung als Problemlösung normativ und utilitaristisch zu rechtfertigen, und sahen sich anscheinend in ihrer Problemdiagnose bestätigt.

Die situative „Stellvertreter-Repression“ durch linke Gegenmobilisierungsakteure trug wesentlich zur Zementierung der entstandenen Grenzen und zur Kontrastverschärfung bei. Eines der etablierten Dresdner Bündnisse („Nazifrei! – Dresden stellt sich quer“) behandelte die PEGIDA-Proteste entsprechend dem eigenen Problemverständnis seit Anbeginn als rassistisch und folgte der Maxime „Kein Fußbreit den Nazis“ in Übereinstimmung mit dem Aktionskonsens, mittels Blockaden „Nazis zu stoppen“.22 Die allzu großzügige Anwendung des Rassismus- und „Nazi“-Etiketts auf alle einwanderungskritischen Personen geriet dabei selbst „in Gefahr, diese auf eine feststehende Wesensart festzulegen. Sie würde damit die möglichen aktuellen Beweggründe verschwinden lassen. Es könnte aber sein, dass gerade diese bearbeitet werden müssen“.23 Zu dieser Problematik hieß es in einem Interview:

„Aber die Provokation zwischen den beiden Lagern jetzt. Man hat Leute auch von außerhalb angekarrt, die eigentlich nichts mit Dresden und Freital zu tun haben, und haben da Stimmung gemacht. Also gegen uns und gegen die ganze Stadt. Und weiß nicht. Und das hat sich dann auch im Endeffekt dann richtig hochgeschaukelt. Zum Beispiel der Herr X. […] Der ist ja aus Leipzig. Der hat dann auch teilweise die Demo da angemeldet und so weiter und so fort und hat ja Freital ist ein braunes Nest und das sind alles Nazis und und und. Der kennt die Leute nicht. Und macht die einfach runter und beschimpft sie. Und das, weiß nicht, find ich nicht in Ordnung“.24

Bei den aggressiven Anti-Asyl-Demonstrationen wie beispielsweise im Juni und Juli 2015 in Freital agierten die Gegendemonstranten entsprechend den Umständen eskalativ und griffen politischen Gegner teils tätlich an. Wie die oben zitierte Aussage zu Mitspracherechten in der Flüchtlingskrise ließe sich die kritische Einschätzung der Generalisierung des Rassismus als Rationalisierung bzw. Rechtfertigung interpretieren. Zugleich gibt sie Aufschluss über die Wahrnehmung der Hintergründe polarisierender (Re-)Aktionen und eskalativer Dynamiken.

In der Berichterstattung über die islam- und asylkritische bis -feindliche Stimmung in Sachsen fand sich ein ähnlicher Eskalationsmechanismus. Auch wenn die bundesdeutschen Medien die Fehler der 1990er Jahre nicht wiederholen wollten, trugen die meinungs- bzw. haltungsstarken Journalisten wesentlich zur sozialen Polarisierung bei. Eine einschlägige Studie der Otto Brenner Stiftung enthält zahlreiche lesenswerte Befunde, die erklären, wie die „medialen Dysfunktionen“ den polarisierenden und desintegrierenden Prozess „massiv gefördert“ haben.25 Da wäre beispielsweise der belehrende und verächtliche Ton, in dem die Sorgen, Ängste und auch Widerstände eines wachsenden Teils der lokalen Bevölkerung zeitweilig kommentiert wurden. Zugleich dienten die Kommentare „nicht dem Ziel, verschiedene Grundhaltungen zu erörtern, sondern dem, der eigenen Überzeugung bzw. der regierungspolitischen Sicht Nachdruck zu verleihen“.26 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass in der Hochphase der „Flüchtlingskrise“ kaum zwischen den Rechtsextrem(ist)en und „politisch Verunsicherten und besorgten, sich ausgegrenzt fühlenden Bürgern“ unterschieden wurde.27 Differenzierung tut allerdings not, wenn man vermeiden möchte, dass das großzügige Aufhängen eines Nazi-Etiketts nicht nur spaltet, sondern auch teils eine Normalisierung bewirkt: „Dann bin ich eben rechts!“ war 2016/17 immer öfter zu hören.