Sind Kinder als Betroffene von Gewalt in unserem Strafgesetzbuch eigentlich nur minderwertig?
Von PD a.D. Rainer Becker, Güstrow
7 Die Arbeit mit den Betroffenen
Es ist gut, dass man jetzt – endlich – versucht, etwas mehr gegen Gewalt und Unterformen von Gewalt zu unternehmen, aber so lange wir an ganz vielen Stellen und ganz besonders auch in unserem Strafgesetzbuch bereits Gewalt gegen Kinder sowohl sprachlich als auch von den Mindest- und Höchststrafandrohungen bagatellisieren, können und dürfen wir uns nicht wundern, dass die Betroffenen und andere, die dies bewusst oder unbewusst erkennen und erleben, dies dann weiter leben und unser Rechtssystem nicht oder nicht mehr ernst nehmen. All das, was wir als Erwachsene unseren Kindern antun oder an Hilfe und Unterstützung unterlassen, bekommen wir irgendwann einmal zurück, spätestens wenn sie irgendwann einmal unsere Pflegekräfte sind. Und jemand, der glaubte, seinem Kind mit Schlägen vermitteln zu müssen, dass man mit Essen nicht spielt, der soll sich dann nicht wundern, wenn er im Alter einmal an einen Altenpfleger kommt, der dies in seiner eigenen Kindheit genauso gelernt und verinnerlicht hat und dem dementen Alten, der mit seinem Essen spielt, mit Ohrfeigen zeigt, dass er dies nicht tun soll.
Und diese scheinbar neue Neigung zu Hass- und Droh-EMails mit übelsten Verunglimpfungen gegen die Betroffenen kommt doch nicht aus dem Nichts. Wo und von wem haben die Schreiber derartiger Texte diesen Hass und diesen Verlust der Impulskontrolle gelernt? Und woher kommt dieser offensichtlich so ausgeprägte Hass gegen alles und jeden? Mir macht diese Vorstellung gelegentlich Angst.
Und das alles beginnt damit, dass wir physische und psychische Gewalt und sexuelle Gewalt gegen unsere Kinder ausüben. Oder wir lassen dies zu oder wir sind nicht bereit oder in der Lage, sie zu schützen – bereits bei unseren Kleinsten. Und sogar unser Strafrechtssystem ist anscheinend nicht bereit oder nicht in der Lage, sie zu schützen. Ja, manchmal scheint es sogar die Täter von sexueller Gewalt mehr zu schützen als die davon Betroffenen. Was soll aus solchen Betroffenen werden? Und wie gehen wir mit ihnen um?
Betroffene sind oft traumatisiert und versuchen oft, ihr Trauma zu verdrängen oder es „wegzureden“, nicht selten zu oft, zu lange und zu anstrengend, denn wir, die Nicht-Betroffenen sind keine ausgebildeten Therapeuten. Und wir wollen dem Grunde nach auch möglichst wenig mit ihrem Trauma zu tun haben, weil es uns unser meistens zugleich auch unser eigenes und sei es mittelbares Versagen vorhält und weil es uns deutlich macht, dass auch wir genauso verletzbar wie die Betroffenen sind und nur das Glück hatten, nicht oder nur anders betroffen zu sein. Wer schaut schon gerne in den Spiegel und gesteht sich dies ein, und mit guten Gefühlen sind derartige Einsichten auf keinen Fall verbunden. Wir nennen es dann „professionelle Distanz“, die wir einhalten müssen, wir erklären, dass die Arbeit mit Betroffenen schwerfällt, dass sie kein Maß finden, dass sie Grenzen überschreiten, zu emotional reagieren und wir möchten uns möglichst nicht mit ihnen auseinandersetzen.
Noch schlimmer – und ich unterstelle unabsichtlich nahezu verletzend – sind dann manchmal ministerielle Antwortschreiben, wenn sie denn einmal versucht haben, sich ihre Betroffenheit von der Seele zu schreiben. Selbst Kenner der ministeriellen oder anderer Behörden-Korrespondenz schütteln manchmal nur den Kopf über die subtil herauszulesende Verärgerung über die Störung der täglichen Abläufe und nicht selten eine provozierende Missachtung und Desinteresse – oder manchmal vielleicht auch nur keine Ahnung vom richtigen Leben außerhalb der Ministerien oder der Behörden darunter. Aber vielleicht ist es einfach auch nur Hilflosigkeit, weil sie selber auch keine Lösung wissen. Doch warum schreiben sie das dann nicht auch so in ihren oft wütend machenden Antwortbriefen?
Verletzende Antwortschreiben macht Betroffene von (sexueller) Gewalt nicht selten ein zweites oder weitere Male zu Betroffenen, nur auf eine andere Art und Weise, nur dieses Mal von Amts wegen. Aber ist das uns gelegentlich verstörende Verhalten der Betroffenen auf Grund dessen, was ihnen angetan wurde, nicht einfach nur normal? Würden wir uns denn anders fühlen und verhalten, wenn wir selber oder unsere Kinder von (sexueller) Gewalt betroffen wären? Und wenn wir dann mitbekämen, dass man uns am liebsten „ausstoßen“ würde aus der Gemeinschaft, die sich in ihrer heilen Schein-Welt und in all ihrer Alltagshektik bei immer mehr Arbeit in immer kürzerer Zeit mit immer weniger Personal nicht durch unser Trauma und unseren Schmerz von uns Betroffenen stören lassen will, wie würden wir uns da fühlen? Nein, Betroffene kann man nicht immer und vor allen Dingen nicht leicht ertragen und wir können uns auch nicht all das Elend der anderen aufladen, wenn wir selber geistig gesund bleiben wollen.
Und wir haben auch das Recht, dies den Betroffenen, wenn wir denn nicht mehr können, ehrlich und in einem angemessenen Ton zu sagen und sie, ohne sie zu verletzen, auf andere professionellere Hilfemöglichkeiten hinzuweisen – von denen es leider viel zu wenige gibt. Aber wir haben kein Recht, Betroffene zu ignorieren. Denn diese ignorante gesellschaftliche Haltung kann unter weiteren ungünstigen Umständen dazu führen, dass Betroffene, für die es keine Möglichkeit zum Austausch gibt, keinen Ausweg mehr sehen, als sich im weiteren Verlauf ihres zerstörten Lebens sogar zu suizidieren. Nachdem sie schon Betroffene geworden sind und wir alle versagt haben, sind wir diesen Menschen zumindest eines schuldig: Respekt. Für unsere politisch Verantwortlichen heißt dies, dass sie mit Betroffenen zu reden, sie an sie betreffenden Diskussionen zu beteiligen und ihnen vor allen Dingen zuzuhören haben. Und dass sie sie bei den Dingen, die sie betreffen, zumindest zu beteiligen haben und nicht nur wie aus einem Elfenbeinturm heraus über sie zu entscheiden. Jeder von uns will erst genommen werden. Er hat ein Recht darauf. Dies sollte erst recht für diejenigen gelten, die wir schon nicht schützen konnten. Alles andere wäre schamlos. Ich erwarte, dass das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz die Innenminister von Bund und Ländern und ihren Beschluss aus dem Juni 2019 nicht länger ignoriert und sich endlich dazu bereit erklärt, einen offenen und ideologiefreien Dialog mit ihnen zu führen. Demokratie ist Streit. Streit mit geistigen Mitteln. Nur erfordert ein Streit mit geistigen Mitteln Kommunikation. Und ausgerechnet unser Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz scheint da etwas falsch verstanden zu haben, was die Bereitschaft zur Kommunikation angeht.
Ich wünsche mir, dass der eine oder andere Ministerpräsident dies erkennt und über eine Bundesratsinitiative, den IMK-Beschluss aus Kiel, das StGB nachzubessern und die beschriebenen Ungleichgewichte zu heilen, übernimmt, oder dass sich unsere Bundeskanzlerin an ihren nun schon einige Jahre zurückliegenden und anscheinend schon vergessenen „Kindergipfel“ erinnert, und das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz auffordert, endlich seine Arbeit zu machen.
8 Schluss
Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass dies kein Fachartikel im eigentlichen Sinne ist. Darum passt hier auch kein „versöhnlicher“ Schluss. Es ist noch lange nicht Schluss. Und die Tatsache, dass dilettantisch dreist und sogar offen vorgehende Täter auch einmal ohne Vorratsdatenspeicherung ermittelt werden konnten, darf nicht zur Ausrede für ein weiteres Aussitzen eines endlich zu lösenden Problems missbraucht werden. Deutschland hat seine Möglichkeiten zum strafrechtlichen Schutz unserer Kinder vor sexueller Gewalt verschlafen, und es wird Zeit, dass es endlich aufwacht. Lassen Sie uns alle endlich anfangen, und zwar nicht nur jetzt und nicht nur im Lesen dieses Artikels, sondern dem Grunde nach schon gestern, denn gefühlt ist es, was unser Verhältnis zu Gewalt in unserer Gesellschaft angeht, bereits 5 Minuten nach 12. Machen wir es besser – wenigstens an unseren Kindern, solange es noch welche gibt. Zumindest die EU-Kommission hat dies endlich begriffen. Und vor allen Dingen: Lassen Sie uns endlich anfangen, ehrlicher miteinander umzugehen.
Anmerkung
Der Autor ist Vorstandsvorsitzender Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e.V. und Polizeidirektor a.D.
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