Sind Kinder als Betroffene von Gewalt in unserem Strafgesetzbuch eigentlich nur minderwertig?

Von PD a.D. Rainer Becker, Güstrow

 

3 Zu § 176 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern


Ursprünglich soll es dem Gesetzgeber bei der Schaffung von § 176 StGB darum gegangen sein, Kinder besonders vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Hervorzuheben ist, dass vielen nicht bekannt ist, dass § 176 StGB nicht lex specialis gegenüber § 177 StGB ist, sondern dass durchaus angewandte oder angedrohte Gewalt gegen ein Kind, um es zu vergewaltigen oder sexuell zu nötigen, nach § 177 StGB strafbar sein kann. Ein Blick in die PKS macht allerdings deutlich, dass sich die Gerichte in Deutschland nur in einer sehr niedrigen Zahl von Fällen in der Lage sahen, die angewandte oder angedrohte Gewalt nachzuweisen, so dass Täter*innen, die gegen ein Kind sexuell übergriffig wurden, in aller Regel, wenn es ihnen denn bewiesen werden konnte, lediglich nach § 176 StGB verurteilt wurden. Bei laut PKS insgesamt in 2019 angezeigten 9426 Fällen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung waren nur 235 Kinder unter 14 Jahre dabei. Dem gegenüber standen im selben Jahr rund 15.701 angezeigte Fälle von vollendetem sog. sexuellem Missbrauch von Kindern. Durch die Novellierung des Sexualstrafrechts können die PKS-Zahlen mit denen der Vorjahre nur bedingt verglichen werden. Dennoch wird deutlich, dass es entweder deutlich weniger Fälle von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung von Kindern unter 14 Jahren zu geben scheint oder aber eben, dass die Ermittlungsbehörden Probleme damit haben, diese gerichtsfest zu beweisen, so dass daraus dann eben sog. sexueller Missbrauch von Kindern wurde, was sicherlich wegen der geringeren Grund-Strafandrohung im Sinne potentieller insbesondere pädokrimineller Täter sein dürfte.Auch hier beginnt das Problem schon wieder mit der gewählten Sprache, die noch aus einer Zeit stammt, in der das Verhältnis von Männern zu Frauen und Eltern zu ihren Kindern ein anderes war als heute. Die Bezeichnung Missbrauch bagatellisiert, dass es hier um sexuelle Gewalt geht, die einem Kind angetan wurde. Laut Duden wird Missbrauch zunächst einmal als übermäßiger Gebrauch (einer Sache) definiert. Immerhin ist auch der Duden schon etwas fortschrittlicher geworden und geht darüber hinaus auch auf den sexuellen Missbrauch ein, passt sich dabei aber bedauerlicherweise inzwischen der aus heutiger Sicht eher „verunglückten“ Definition des StGB an.

Der Begriff Missbrauch lässt – in aller Regel unbewusst – fälschlich assoziieren, dass es stets auch einen Gebrauch gibt, so wie wir Alkohol als Genussmittel gebrauchen oder eben auch missbrauchen können oder Medikamente zur Heilung gebrauchen oder eben auch missbrauchen können. Aus diesem Grund beklage ich auch hier die bagatellisierende Sprache, die unbewusst natürlich auch diejenigen, die über eine Gewalthandlung zu richten haben, bewusst oder unbewusst mit beeinflussen kann. Sexueller Missbrauch gegen Kinder ist sexuelle Gewalt, nicht mehr und nicht weniger, und er sollte auch als solche bezeichnet werden. Trotzdem ist der sog. sexuelle Missbrauch eines Kindes in seinem Grundtatbestand mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 6 Monaten bedroht und somit lediglich ein Vergehen.

Mir geht es dabei nicht um 6 Monate mehr oder weniger, mir geht es darum, dass sexuelle Gewalt gegen ein Kind als das bezeichnet und bestraft wird, was es ist, als ein besonders schwerwiegender Rechtsbruch, ein Verbrechen. Über alles andere wie Strafminderungs- oder Strafverschärfungsgründe mögen die Richter im Rahmen des ihnen zur Verfügung gestellten Spielraums entscheiden. Trotz eines hierauf verweisenden Anschreibens an den damaligen Bundesjustizminister Maas blieb alles beim Alten. Herr Maas begründest es damals so, dass es bei der sexuellen Nötigung eines Erwachsenen um das Schutzgut der sexuellen Selbstbestimmung ginge und bei den betroffenen Kindern um Kinderschutz und dass die Strafandrohung in diesen Fällen daher nicht vergleichbar und eine Erhöhung bei sexueller Gewalt gegen Kinder daher nicht geboten sei.

Bis heute kann, will und werde ich diese Hilfskonstruktion für den Erhalt des begünstigenden Status Quo, der Pädosexuellen und anderen Straftätern in die Hände spielt, nicht mittragen Peinlich war danach die von Herrn Maas hierzu abgegebene Erklärung bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes im Deutschen Bundestag zur Erhöhung der Strafandrohung bei Wohnungseinbrüchen (vgl. hierzu: https://sonderthemen.tagesspiegel.de/14365-wohnungseinbruch-als-wahlkampfthema ).

„Es gehe um einen ‚klugen Mix‘ von Maßnahmen, um Menschen vordem ‚Eindringen in ihre absolute Intimsphäre‘ und vor materiellen Schäden zu schützen…“, so Maas damals. Damit wurde von ihm begründet, den Wohnungseinbruch zu einem Verbrechenstatbestand zumachen. An die von sexueller Gewalt betroffenen Kinder, in deren „absolute Intimsphäre eingedrungen wurde“ und wird, hatte er anscheinend nicht mehr gedacht.

Auch der neue § 177 StGB führte auch zu keiner Entspannung oder gar Verbesserung. Hier heißt es in Abs. 2 z.B., dass bei den Handlungen, bei denen der Täter z.B. ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden, mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 6 Monaten zu rechnen hat. Ähnliches gilt für die anderen angeführten Nr. 2 bis 5 des § 177 StGB.

Mir erschließt sich nicht, warum gerade die zahlreichen involvierten Verbände engagierter Juristinnen und weitere angehörte Frauen- und Feministinnen-Verbände bei diesem m.E. deutlich gestörtem Verhältnis zu ihrer sexuellen Selbstbestimmung und einer anscheinend eher männlich dominierten Sichtweise nicht aufgeschrien und lautstark protestiert haben, sondern dieses mitgetragen haben.

Der neue § 177 StGB ist bezüglich seiner Ausführungen zur sexuellen Nötigung Erwachsener nach meiner persönlichen Auffassung ein trauriger und überwiegend frauenfeindlicher Fehlgriff, der zu einem Erfolg herbeigeredet wurde. Sexuelle Gewalt, sei es gegen Kinder oder Erwachsene sollte zunächst immer erst einmal ein Verbrechen sein, alleine, um nach außen zu dokumentieren, dass es sich um einen besonders schweren Rechtsbruch handelt. Über eventuelle Schuldminderungsgründe sollte der zuständige Richter in seinem vorgegebenen Rahmen und am Einzelfall orientiert entscheiden können.

An dieser Stelle hebe ich noch einmal hervor, dass die Innenministerkonferenz in Kiel meine Forderung, den sog. sexuellen Missbrauch von Kindern zu einem Verbrechenstatbestand zu machen, uneingeschränkt teilt und das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz gebeten hat, das Strafgesetzbuch entsprechend nachzubessern. Mittlerweile hatten sich am 27. Mai 2020 die Jugendminister von Bund und Ländern einstimmig der Forderung der Innenminister angeschlossen.

 

4 Widersprüchliche Regelungen in § 100g StPO – Erhebung von Verkehrsdaten


Auch in § 100g StPO, der Regelung über die sog. Vorratsdatenspeicherung, sind die „Normalfälle“ sexueller Gewalt gegen Kinder nicht mit aufgenommen worden, da sie ja lediglich einen – wenn auch schweren – Vergehenstatbestand mit einer Strafandrohung von 6 Monaten bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe darstellen. Erst die Verbrechenstatbestände nach § 176a StGB bzw. § 176b StGB zählen zu den Tatbeständen, die als Verbrechen einer Vorratsdatenspeicherung würdig sind. Nur als Einschub sei wiederholt, dass die Innenministerkonferenzen aus Kiel und Lübeck im Jahr 2019 forderten, jede Form von sexueller Gewalt gegen Kinder zum Verbrechenstatbestand zu machen. Derzeit hat das Land Nordrhein-Westfalen eine diesbezügliche Bundesratsinitiative ergriffen.

Entgegen dieser Logik sind die Fälle des gewerbs- oder bandenmäßigen Verbreitens von sog. kinderpornografischem Material gemäß § 184b StGB – ebenfalls nur mit einer Strafandrohung von 6 Monaten bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe bedroht – mit in den Katalog der besonders schweren Straftaten aufgenommen worden. Und bei sog. jugendpornografischem Material sogar nur von 6 Monaten bis zu 5 Jahren. Ein logischer Widerspruch der sich mir und vermutlich auch jedem anderen, der ansatzweise logisch zu denken vermag, in keiner Weise erschließt. Wenn denn in § 100g StPO explizit nur besonders schwere Straftaten aufgenommen werden sollen, dann könnten dies allenfalls Verbrechen sein oder ggf. noch Vergehen, mit einer Höchststrafandrohung von bis zu 10 Jahren. Entweder gehört dann der Grundtatbestand von § 176 StGB mit dem unangemessenen Grundtatbestand des sog. sexuellen Missbrauchs von Kindern dazu oder § 184b Abs. 2 StGB mit der gleichen Strafandrohung bzw. § 184c Abs. 2 StGB mit einer noch geringeren Höchststrafandrohung haben nichts darin zu suchen. Ein bloßer handwerkliche Fehler oder möglicherweise politische Absicht, damit dem EuGH dieser schwerwiegende logische Bruch auffällt und § 100g StPO in seiner heutigen Fassung zurück an die Bundesregierung verweist und das übliche Prozedere und die damit verbundenen Verzögerungen weiter gehen und die Vorratsdatenspeicherung weiter „ausgesessen“ werden kann?

Deutlich wird darüber hinaus, dass unsere Justiz, vielleicht auch aus ganz praktischen Gründen erhebliche Probleme damit zu haben scheint, sich festzulegen, was unter dem Begriff Gewalt zu verstehen ist, dies gilt insbesondere für Formen von psychischer Gewalt. Ist es schon Gewalt oder die Drohung mit einem empfindlichen Übel, einem Kind das Töten seines Lieblingstieres oder das Wegwerfen eines „Kuscheltieres“ anzudrohen, um es zu sexuellen Handlungen zu nötigen? Insofern scheint es dann einfacher zu sein, kompliziertere Formen insbesondere psychischer Gewalt und damit schwerer beweisbarer Art auszuklammern oder zumindest zu relativieren und sich vermehrt der eindeutigen beweisbaren körperlichen Gewalt zu widmen. Dass dies eine rechtspolitische Fehleinschätzung war, macht der derzeitige politische Aktionismus deutlich, wenn es um heute so massenhaft verbreitete und endlich intensiv wahrgenommene Hass- und Droh-EMails an Politiker und andere im öffentlichen Leben stehende Personen geht.