Der Multikulturalismus am Ende?

Multikulturalismus als politische Ideologie seit den 1980er Jahren


Nicht nur in Frankreich, sondern auch in ganz Europa breitete sich der Multikulturalismus als politische Ideologie in den 80er Jahren aus und bestimmte ab den 90er Jahren weitgehend die Politik. Die Multikulturalität war infolge der massiven Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg schon lange in den meisten europäischen Ländern eine Realität geworden. Die Politik aber rechnete einerseits mit der Rückkehr der meisten Migranten in ihre Herkunftsländer; andererseits ging sie davon aus, dass der Rest sich automatisch in der modernen überlegenen Industriegesellschaft assimilieren würde. Eine Integrationspolitik sei deswegen überflüssig. Bis heute hat z.B. Deutschland kein Einwanderungsgesetz und spricht nur von Zuwanderung.
Die Ideologie des Multikulturalismus ist in Nordamerika entstanden und gehört zur politischen Philosophie. Ihre Hauptfigur ist der Kanadier Charles Taylor. Bevor sie Europa erreichte, wurde eine ideologische Vorarbeit geleistet: Infolge eines Globalisierungsschubs, der zur Überwindung der Krise des Kapitalismus Anfang der 70er Jahre half, fand ein tiefgreifender Paradigmenwechsel statt, der die Vorstellungen eines homogenen, integrierenden Nationalstaates in Frage stellte.
Dieser Prozess wurde auch durch die Änderung des Charakters der Migration verstärkt. 1973–74 wurde in allen europäischen Ländern ein Anwerbestopp verhängt, das war offiziell das Ende der Arbeitsmigration. Die Migration endete aber nicht und ging über die Wege der Familienzusammenführung und des Asyls weiter, die die einzigen legalen Möglichkeiten für einen langen Aufenthalt in Europa bieten. So änderte die Migration ihren Charakter von einer Arbeitsmigration zu einer Siedlungsmigration. Im Jahre 2014 kamen über 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland, im Jahre 2015 werden über 300.000 erwartet.
Globalisierung und Migration bestimmten den neuen Diskurs. Alte Begriffe wie Klassenkampf, Imperialismus und Dritte Welt wurden durch Begriffe wie Ethnizität, Migration und Entwicklungsländer ersetzt. Es ging nicht mehr um soziale Emanzipation und individuelle Integration, sondern um die Anerkennung kultureller Gruppen und ihre gesellschaftliche Partizipation. Es ging nicht mehr um die Abschaffung der ausbeuterischen imperialistischen Verhältnisse, sondern um die friedliche Koexistenz der Weltkulturen. Und die Dritte Welt wurde auf sich gestellt und versank in der Korruption ihrer postkolonialen Eliten. Außerdem hatte die erste Welt durch die Migration die Dritte Welt nun zu Hause und war schwer mit ihr beschäftigt.

Kulturrelativismus und Gleichwertigkeit aller Kulturen


Gleich nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges wurde das westliche zivilisatorische Modell erst in den USA, später in Europa in Frage gestellt. Die evolutionistische Theorie,5 die eine fortschreitende Entwicklung zum besseren behauptet, wurde kritisiert. Der Westen verkörpere nicht die höchste Stufe der Zivilisation und des Fortschritts, die der Rest der Welt anstreben solle. Sein Wertesystem sei nicht besser als das anderer Kulturen. Der Kulturrelativismus wurde verteidigt und der europäische Ethnozentrismus bekämpft. In dieser Hinsicht lieferte Claude Lévi-Strauss mit seiner strukturalistischen Anthropologie die ideologische Rechtfertigung dafür. In seiner Arbeiten zeigte er, dass alle Kulturen eine ähnliche geistliche Struktur aufweisen, die er universeller Geist nannte.In seinem im Auftrag der UNESCO geschriebenen Buch „Race et History“ (1952) zog er aber daraus Konsequenzen, die sich gegen den Universalismus richteten. Alle Kulturen sind in ihren Bemühungen, ihre Gesellschaften zu erhalten gleich und die dafür entwickelten unterschiedlichen Wertesysteme sind gleichwertig, weil sie dieselbe Funktion erfüllen. Ein universeller Wertemaßstab existiert nicht. Deshalb muss die Integrität der Kulturen erhalten bleiben und vor der Akkulturation geschützt werden. Der Widerstand gegen die Assimilation westlicher kultureller Werte durch die Entwicklung eines antiwestlichen Ethnozentrismus sei dann legitim. Der westliche Ethnozentrismus dagegen, der andere Kulturen bedroht, sei zu bekämpfen. Die Weltzivilisation schließlich bestehe aus der Koexistenz einzigartiger, unterschiedlicher, aber gleichwertiger Kulturen. Damit wurde die Geschichtsphilosophie von Kant bis Marx, die die Geschichte als fortschreitende Entfaltung der menschlichen Natur in der Vernunft und in der Freiheit betrachtet, abgeschafft.
In der Ethnologie entfachte Frederik Barth Ende der 60er Jahre eine Debatte über die Ethnizität.6 Anstatt Ethnizität und ethnische Identität als kulturelles Phänomen, das aus der Gleichsetzung Stamm-Kultur hervorgeht, wie in der Anthropologie der Kolonialzeit zu definieren, betonte Barth, dass sie das Ergebnis der Grenzziehung im Rahmen der Interaktion mit anderen Ethnien ist und daher nur in poly-ethnischen Systemen existieren kann d.h. auch in den Industriegesellschaften. Die Ethnien organisieren ihre Beziehungen zueinander auf der Basis der kulturellen Unterschiede und in der Form der „Exklusion und Inkorporation“, die eine Dichotomie von wir/ihr, eigen/fremd für die Gruppenidentifikation schafft.
Dies Verständnis der Ethnizität wurde essentialisiert und im Dienst des Widerstandes gegen die Herrschaft des weißen Mannes sowohl in den Kolonien als auch in den Metropolen eingesetzt. Mit ihm wurden der Assimilationismus und der Rassismus bekämpft und die Forderung nach Anerkennung, mit anderen Worten nach einer multikulturellen Gesellschaft gestellt.

Leitvorstellungen der Aufklärung contra kulturelle Identität


Ab Ende der 70er Jahre zeigten sich die Auswirkungen der Globalisierung und ihrer neoliberalen Politik. Die Informatikrevolution und die Rationalisierung der Produktion, der Triumph der Dienstleistungs-, Finanz- und Informationsindustrie über die traditionelle herstellende Industrie hatten die Chancenmöglichkeit der Menschen erweitert, die Umsetzungsmöglichkeit aber stark verengt. Die Arbeitslosigkeit stieg an und wurde zu einem dauerhaften Massenphänomen. Desintegrative Tendenzen machten sich breit und der Nationalstaat schien der Situation nicht mehr Herr zu werden.7
Eine intellektuelle Strömung, die sich als poststrukturalistisch und postmodern betrachtete, thematisierte diese Entwicklung. Sie zweifelte an den Leitvorstellungen der Aufklärung wie Wahrheit, Vernunft, Objektivität, universaler Fortschritt und Emanzipation. Es sind, wie François Lyotard formuliert, unglaubwürdige Meta-Erzählungen im Begriff der Auflösung.8 Die Postmoderne betrachtet „die Welt als kontingent, als unbegründet, als vielgestaltig, unstabil, unbestimmt, als ein Nebeneinander getrennter Kulturen oder Interpretationen, die skeptisch machen gegenüber der Objektivität von Wahrheit, von Geschichte und Normen.“9
In der islamischen Charta des Zentralrates der Muslime in Deutschland vom 20. Februar 2002 lesen wir unter Artikel 14: „Die europäische Kultur ist vom klassisch griechisch römischen sowie jüdisch-christlich-islamischen Erbe und der Aufklärung geprägt. Sie ist ganz wesentlich von der islamischen Philosophie und Zivilisation beeinflusst. Auch im heutigen Übergang von der Moderne zur Postmoderne wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen leisten. Dazu zählen u.a. die Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus, die Ablehnung jeder Form von Rassismus und Chauvinismus sowie die gesunde Lebensweise einer Gemeinschaft, die jede Art von Süchtigkeit ablehnt.“ Das war eine Mischung von Postmodernismus und Multikulturalismus.