Recht und Justiz

„Gefahr gebannt, Strafverfolgung verkannt?“

Das Spannungsfeld zwischen zeitgleicher Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Rahmen von Polizeieinsätzen


Von Oberstaatsanwalt Dr. Sören Pansa und Staatsanwalt Christian Alexander Schiller, Schleswig/Flensburg1

 

1 Einleitung

 

Im Rahmen von Polizeieinsätzen kommt es regelmäßig zu Situationen, in denen sowohl Aufgaben der Gefahrenabwehr als auch der Strafverfolgung wahrzunehmen sind. Insbesondere bei Versammlungen kann ein Einschreiten von Polizeibeamten sowohl unter gefahrenabwehrrechtlichen Gesichtspunkten, als auch zur Erforschung des Sachverhalts bei Verdacht von Straftaten geboten sein. Dabei stellt sich die Frage, ob und inwieweit einer der beiden Verpflichtungen Vorrang gebührt und ob Polizeibeamte von der Strafverfolgung auch bewusst absehen bzw. diese einschränken dürfen, wenn ansonsten keine effektive Gefahrenabwehr mehr gewährleistet werden könnte.

 


Das sicherlich spektakulärste Beispiel der jüngeren Vergangenheit für ein solches Spannungsfeld bildet der sogenannte „Sturm auf den Reichstag“ vom 29. August 2020. Im Rahmen einer Großdemonstration bezüglich der damaligen hoheitlichen Corona-Maßnahmen fand auch eine Versammlung vor dem Reichstag statt. Hierbei fluteten immer mehr Teilnehmer der Großdemonstration dorthin. Schließlich rissen ca. 500 Demonstranten die Hamburger Gitter nieder, welche vor dem Reichstagsgebäude aufgestellt waren. Anschließend stürmten sie auf die Freitreppe vor dem Haupteingang und versuchten, diesen zu betreten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich keine Einsatzkräfte in diesem Bereich. Ein Zug von 25 Polizeibeamten bewegte sich dann von der rechten Flanke im Laufschritt vor den Eingangsbereich, um die Demonstranten von dort fernzuhalten. Hierbei gelangten nur sechs Polizeibeamte dorthin, während die übrigen durch körperliche Einwirkungen ausfielen oder sich keinen Weg durch die Masse bahnen konnten. Durch Einsatz des „MES schwer“ konnten die sechs Polizeibeamten einen Durchbruch in das Innere des Gebäudes verhindern. Die 500 Personen verblieben jedoch trotz zahlreicher Aufforderungen der Polizeibeamten, den Bereich zu verlassen, auf der Treppe. Wenige Minuten später konnte eine Einsatzhundertschaft vor den Eingang geführt werden. Diese vermochte die Menschen von der Treppe zu drängen, wobei es zu zahlreichen tätlichen Angriffen zulasten der Polizeibeamten sowie Widerstandshandlungen kam. Maßnahmen zur Identitätsfeststellung der agierenden Personen und eine sofortige Dokumentation der Tatvorwürfe, um eine spätere Strafverfolgung wegen des Verdachts von Straftaten i.S.d. §§ 86a, 113, 114, 125, 185, 223, 224, 240, 303 StGB zu gewährleisten, konnten vor Ort nur vereinzelt durchgeführt werden, da ansonsten ein effektiver Schutz des Reichstagsgebäudes nicht hätte gewährleistet werden können. Bis heute ist es, soweit sich dies der Presseberichterstattung entnehmen lässt, wohl in weniger als zehn Fällen zu rechtskräftigen Verurteilungen von beteiligten Demonstranten gekommen.


Dieser Beitrag behandelt daher die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Pflichtenkollision zwischen Gefahrenabwehrrecht und der Notwendigkeit zum Einschreiten der Polizei zur Strafverfolgung. Hierbei können aufgrund des begrenzten Rahmens keinesfalls alle potentiellen Varianten besprochen werden. Vielmehr möchten die Autoren dem geneigten Leser eine Kenntnis der Materie vermitteln, die es ihm erlaubt, auch im Rahmen eines hektischen Einsatzgeschehens einen etwaigen Vorrang einer der Handlungspflichten einschätzen zu können.

 

2 Handlungspflichten


Im Folgenden soll zunächst differenzierend dargestellt werden, inwieweit eingesetzte Polizeibeamte im Rahmen der Verfolgung von Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten sowie der Ausübung des Gefahrenabwehrrechts zu einem Handeln verpflichtet sind bzw. ihnen ein Ermessen eingeräumt wird.

2.1 Handlungspflicht bei Straftaten

Die Strafverfolgungsbehörden sind grundsätzlich verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern diesbezüglich zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Das Legalitätsprinzip bedeutet einen Verfolgungszwang und stellt insoweit auch eine Aktualisierung des Willkürverbots als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Grundgesetzes dar.2 Die das Legalitätsprinzip tragenden Erwägungen sind dabei im Grundgesetz verankert.3 Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 2 GG verpflichten den Staat, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wenn die Grundrechtsberechtigten selbst nicht dazu in der Lage sind. Ein Anspruch auf bestimmte, vom Einzelnen einklagbare Maßnahmen ergibt sich daraus jedoch grundsätzlich nicht. Ein solcher kann aber bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person in Betracht kommen.4 Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich dabei auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane. Ihr Ziel ist es, eine wirksame Anwendung der zum Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der sexuellen Selbstbestimmung und der Freiheit der Person erlassenen Strafvorschriften sicherzustellen. Es muss insoweit gewährleistet werden, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. Dies bedeutet hingegen nicht, dass der in Rede stehenden Verpflichtung stets nur durch Erhebung der öffentlichen Klage genügt werden kann. Vielfach wird es ausreichend sein, wenn die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens und die Polizei die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel personeller und sächlicher Art sowie ihre Befugnisse auch tatsächlich nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes nutzen, um den Sachverhalt aufzuklären und Beweismittel zu sichern.5 Das Legalitätsprinzip wird für Staatsanwaltschaft und Polizei ausdrücklich in den §§ 152 Abs. 2, 160, 163 Abs. 1 StPO formuliert. Selbiges gilt in § 386 AO für die Finanzbehörden.

 

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