Versammlungslagen – Die Besondere Aufbauorganisation (BAO) im Wandel
Von LPD Frank Ritter, Itzehoe¹
Anlässlich des 75. Geburtstages des Grundgesetzes hat sich die Polizeibehörde, in deren örtlicher Zuständigkeit das – ungebrochen symbolträchtige – Kernkraftwerk Brokdorf liegt, noch einmal intensiv mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit auseinandergesetzt. Mithin gab es keinen anderen Ort bzw. kein anderes Kraftwerk, das einer so herausragenden Handlungsmaxime für Polizei und Verwaltung ihren Namen gab: „Brokdorf-Beschluss” des Jahres 1985. Dieser Beitrag will zudem am Beispiel der Brokdorfer Großdemonstration aus dem Sommer 1986 aufzeigen, wie sich polizeiliche BAO-Lagen im Laufe der Jahrzehnte gewandelt haben und wie sich dies auch auf die Kriminalpolizei auswirkte.
1 Der Brokdorf-Beschluss des BVerfG
In welchem konkreten Zusammenhang stehen das Versammlungsrecht aus Art. 8 GG und der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts? Schauen wir chronologisch …
Am 23.5.1949 trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft und mit ihm das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG). Im Absatz 2 wird für mögliche Beschränkungen bei Versammlungen unter freiem Himmel auf ein Gesetz verwiesen. Dieses „Gesetz über Versammlungen und Aufzüge“, kurz VersG, wurde schließlich im Juli 1953 als Bundesgesetz eingeführt – mithin in einer Zeit, als es im Nachkriegsdeutschland kaum Versammlungen gab, weil die Menschen vorrangig andere Bedürfnisse hatten. Erst ab Mitte der 1960er-Jahre stieg das Versammlungsinteresse der Bürger/innen sprunghaft an.
Spätestens in Folge der Großdemonstration an der KKW-Baustelle Brokdorf im Jahr 1981 erkannte das Bundesverfassungsgericht, dass es über den reinen Schrifttext von GG und VersG hinaus einen Regelungsbedarf für das Zusammenwirken von Staat (Versammlungsbehörde/Polizei) und Grundrechtsadressaten (Versammlungsteilnehmenden) gibt. Das BVerfG hat insofern niemanden konkret verurteilt, sondern sozusagen die „Regeln“ festgelegt und einen entsprechenden Handlungsbeschluss gefasst (BVerfGE 69, 315 vom 14.5.1985). Folgerichtig gibt es einen „Brokdorf-Beschluss“, aber kein „Brokdorf-Urteil“ (was auch polizeiintern häufiger verwechselt wird).
Das Regelungsniveau dieses Beschlusses war in seiner Entstehungszeit bahnbrechend und ist trotz seines Alters von rund vier Jahrzehnten keineswegs in die Jahre gekommen. Die im Folgenden näher dargestellten Strategieansätze bzw. Leitgedanken des Brokdorf-Beschlusses geben allen Akteuren noch immer eine gute Orientierung und sind von zeitloser Bedeutung.
2 Leitlinien für Verwaltung und Polizei
Der Brokdorf-Beschluss hat für die Verwaltung (Versammlungsbehörden) und die Polizei vier wesentliche Strategie-Anforderungen (bzw. Leitgedanken oder Handlungseckpunkte) formuliert:
2.1 Verwaltung und Polizei müssen versammlungsfreundlich verfahren.
Wer dieses Versammlungsgrundrecht ausüben möchte, kann kein „Störenfried“ oder gar Verfassungsfeind sein – im Gegenteil: Der Staat soll die Ausübung des Grundrechts nicht nur „erdulden“, sondern sie aktiv fördern! So bringt bereits der Name des schleswig-holsteinischen Versammlungsgesetzes2 diesen Anspruch zum Ausdruck: Versammlungsfreiheitsgesetz.
Auf Grundlage des Art. 8 GG wird hierin zum Beispiel konkretisiert, dass die Behörden die Durchführung der Versammlung zu unterstützen und zu schützen haben sowie mögliche Versammlungsgefahren durch Dritte abwehren mögen. Was sich bei der Anzeigefrist von 48 Stunden auf den ersten Blick wie eine Versammlungseinschränkung (möglicherweise sogar als „Gängelung“) liest, bezweckt genau genommen das Gegenteil: Wer mindestens 48 Stunden vor der Einladung zu der Versammlung sein Begehren anzeigt, soll sicher sein können, dass Verwaltung und Polizei einen genügenden zeitlichen Vorlauf haben, um den bestmöglichen Schutz dieser Versammlung organisieren zu können. Versammlungen innerhalb jener 2-Tages-Frist bleiben jedoch ebenso zulässig (als Eilversammlungen oder auch als Spontanversammlungen). Versammlungsfreundlichkeit verpflichtet die Versammlungsbehörden vor einem Vollverbot einer Versammlung zu prüfen, wie unter Erteilung einschränkender Auflagen eine Versammlungsdurchführung im Sinne des Begehrendenirgendwie ermöglicht werden kann.
Dem versammlungsfreundlichen Verfahren ist auch die sogenannte „Typen- und Gestaltungsfreiheit“ unterzuordnen. Nicht der Staat gibt die Art und Weise der Versammlungsdurchführung vor, sondern der/die Versammlungsleiter/in. Hierbei sind vielfältige Versammlungsvarianten denkbar: Kundgebung, Aufzug, Mahnwache, Info-Stand, Autokorso, Sternenfahrt, Straßentheater oder andere Formen. Die Versammlungsbehörde kann hier allerdings Einschränkungen vornehmen bzw. verfügen, wenn die Rechte Dritter in außergewöhnlicher Weise beschränkt oder gefährdet wären. Mithin hat das Versammlungsfreiheitsrecht zwar einen herausragenden verfassungsrechtlichen Stellenwert, es ist aber nicht grenzenlos einzufordern (Stichworte: „Grundrechtsausgleich“ und „Praktische Konkordanz“).
2.2 Der zweite Leitgedanke des Brokdorf-Beschlusses verpflichtet Verwaltung und Polizei mit allen Beteiligten zu kooperieren.
Den Kooperationsanspruch des Brokdorf-Beschlusses fixiert und formuliert auch das VersfG SH deutlich: „Im Rahmen der Kooperation informiert die zuständige Behörde die Person, die eine öffentliche Versammlung veranstaltet oder der die Leitung übertragen worden ist, vor und während der Versammlung über erhebliche Änderungen der Gefahrenlage, soweit dieses nach Art und Umfang der Versammlung erforderlich ist. Konfliktmanagement ist Bestandteil der Kooperation“ (so nachzulesen in § 3 Abs. 4 VersFG SH – Schutzaufgabe und Kooperation).
Hier sind ausdrücklich die Vor- als auch die eigentliche Versammlungsphase angesprochen: Im Vorfeld finden z.B. Kooperationsgespräche auf Einladung der Versammlungsbehörde (im Regelfall in den Amtsräumen der Verwaltung und in Anwesenheit der Polizeiführung) statt. Während der laufenden Versammlung übernimmt dann üblicherweise die Polizei die kooperierende Kommunikation mit der Versammlungsleitung. Bereits im Begründungstext der BVerfGE 69, 315 hieß es im Jahr 1985: „Je mehr die Veranstalter ihrerseits zu einseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen oder zu einer demonstrationsfreundlichen Kooperation bereit sind, desto höher rückt die Schwelle für behördliches Eingreifen wegen einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“. Weitblickend – damals aber noch ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein3 – hatte das BVerfG erkannt, was zu einem vollständigen Erleben der Versammlungsfreiheit nötig ist und wie dies „handwerklich“ gelingen möge. Dazu hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten beispielsweise das enorm wichtige Feld der „Taktischen Kommunikation“ etabliert.
Die Kooperationsverpflichtungen bleiben dabei jedoch recht eindimensional: Die Versammlungsbehörde muss ein Kooperationsgespräch anbieten (egal welche politisch-ideologische Gruppierung eine Versammlung begehrt), während der/die Versammlungsanzeigende völlig frei entscheiden kann, ob er/sie dieses Gesprächsangebot annehmen und erscheinen möchte.
Für Versammlungsbehörde und Polizei ist ein vorlaufendes Kooperationsgespräch schon deshalb von hohem Interesse, um die Person des Anzeigenden kennenzulernen und insbesondere, um bereits in einer vergleichsweise ruhigen Voraus-Atmosphäre die Details des Versammlungsablaufes erörtern zu können. Hierzu zählt auch der Versuch, den Anzeigenden (auch wenn er für sich ein gewisses „Erst-Anzeige-Recht“ proklamieren mag) zu überzeugen, von bestimmten Positionen abzurücken (z.B. zum Streckenverlauf seines Aufzuges oder zu Start- und Endzeiten seiner Versammlung). Dies gilt insbesondere dann, wenn es mehr als nur eine Versammlungsanzeige im zeitlichen und geografischen Kontext gibt – salopp formuliert: das Versammlungsrecht ist für alle da und muss vermittelbar und rechtssicher „verteilt werden“. Auch die Verdeutlichung von Grenzen der Versammlungsfreiheit und den zu beachtenden Rechten Dritter ist regelmäßiger Inhalt der behördlich-polizeilichen Gesprächsführung. In der oftmals emotionalen und lauten Atmosphäre einer laufenden Versammlung ist dies zumeist ungleich schwerer und verlangt nach besonders geschultem Kommunikationspersonal.
Abb. 1: Kilometerlange Staus aufgrund intensiver polizeilicher Vorkontrollen.
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