Die Rolle der Gewalt bei der Radikalisierung von Linksextremisten

Von Dr. Udo Baron, Hannover

 

5 Formen der Radikalisierung


Das Peace Research Institute Frankfurt und das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sehen in einer gemeinsamen Studie in der Radikalisierung „die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionellen Strukturen dieser Ordnung zu bekämpfen.“ Vor diesem Hintergrund haben beide Institute gemeinsam drei Formen der Radikalisierung herausgearbeitet: Die Radikalisierung ohne Gewalt, die Radikalisierung in die Gewalt und die Radikalisierung in der Gewalt. Unter Radikalisierung ohne Gewalt fallen dabei alle Individuen und Kollektive, die auf gewaltfreiem Wege versuchen, gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen. Die Radikalisierung in die Gewalt bildet das „klassische“ Verständnis von Radikalisierung ab, wenn ein Individuum oder ein Kollektiv zur Durchsetzung ihrer Ziele und Ideen bereit ist, Gewalt anzuwenden. Bei der Radikalisierung in der Gewalt handelt es sich um Individuen und Gruppen, die bereits Gewalt anwenden und sich nunmehr weiter radikalisiert haben bis hin zur Stufe des Terrorismus. Für eine Radikalisierung in der Gewalt sind vor allem gruppendynamische Prozesse von Bedeutung: die Isolation und das Bedrohungsgefühl innerhalb einer Bezugsgruppe führen zu starken Interdependenzen. Die Gruppe schließt sich nach außen ab und homogenisiert sich nach innen. Zudem entwickelt sie Narrative. Diese Gruppenerzählungen und -diskurse wie z.B. das Täter-Opfer Narrativ können dann identitätsstiftend und integrationsfördernd für die Bezugsgruppe wirken. Dem Einzelnen bietet sich dabei die Chance, sich durch die Anwendung von Gewalt als starker Arm der Gruppe zu präsentieren, als derjenige, der der Gruppe Schutz und Sicherheit gibt. Durch diese Rolle kann die eigene Bedeutung gesteigert und eine emotionale Befriedigung erreicht werden. Politische Ereignisse oder Entwicklungen, die als Zumutung und/oder Bedrohung empfunden werden, können schließlich das auslösende Moment für den Weg in den Extremismus bzw. in den Terrorismus und somit für eine Radikalisierung in die Gewalt bzw. in der Gewalt sein.


Die Einführung neuer Technologien hat die Radikalisierung in eine neue Dimension der Gewalt geführt. Mit der Erfindung des Dynamits, der Fotografie, des Films und in der jüngsten Zeit des Internets konnten Taten mit hohen Opferzahlen und Sachschäden überhaupt erst im erforderlichem Maße geplant und durchgeführt werden. Durch die Digitalisierung finden sie in Sekundenschnelle eine weltweite Verbreitung wie beispielsweise die Anschläge vom 9. September 2001 auf New York und Washington gezeigt haben. Auch wenn die autonome Szene eher technikkritisch eingestellt ist, kann davon ausgegangen werden, dass auch in diesem Phänomenbereich die Radikalisierung heutzutage weitgehend über die digitalen Medien erfolgt. Das Internet mit seinen einschlägigen Websites, Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter sowie Messangerdiensten wie WhatsApp, Signal und Telegram dient dabei der globalen Vernetzung, Organisierung und Durchführung von Aktionen. Das World Wide Web bildet somit heutzutage die „Infrastruktur des sog. Widerstandes“.13 Vor allem dem Online-Portal Linksunten.indymedia.de kam dabei bis zu seinem Verbot durch den Bundesminister des Innern am 25. August 2017 eine zentrale Bedeutung zu. Hier konnten Diskussionen der autonomen Szene anonymisiert geführt werden, Anleitungen für die Begehung von Straftaten wie den Bau von Sprengsätzen verbreitet und Selbstbezichtigungsschreiben für Anschläge eingestellt werden. Seit dem Verbot von linksunten.indymedia.de hat die Mutterdomain de.indymedia.org. diese Funktion weitgehend übernommen. Die Medien der analogen Welt, etwa Publikationen wie die Szenemagazine „radikal“ oder „Interim“ haben dagegen in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung für die linksextremistische Szene verloren. Sie liefern zwar, sofern sie überhaupt noch erscheinen, u. a. Anleitungen zur praktischen Umsetzung von Gewalttaten, weshalb sie nahezu regelmäßig von den zuständigen Gerichten beschlagnahmt werden. Im Gegensatz zu den digitalen Medien sind sie heute aber von immer geringerer Bedeutung für die linksextremistische Szene.


Die Selbstradikalisierung stellt gegenwärtig die wohl größte Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat dar – und das gilt für alle Phänomenbereiche. Die Sicherheitsbehörden haben es dabei in der Regel mit einem autoradikalisierten Einzeltäter zu tun. Dieser sog. lonesome wolf bricht in der Regel alle Beziehungen zu seinem sozialen Umfeld ab und schottet sich ab. Seine rationale und emotionale (Selbst-)Radikalisierung erfolgt über die digitale und analoge Welt. Er radikalisiert sich zumeist unbemerkt von der Außenwelt vor allem über die Sozialen Netzwerke und saugt sich dort förmlich voll mit extremistischen Texten, Bildern, Filmen und Spielen. Befreien will er niemanden aus seiner sozialen Lage, kollektive Ziele verfolgt er eher nicht. Sein Handeln leitet vielmehr persönliche Rache- und Gewaltgelüste. Eine Anbindung an eine politische Szene gibt es meistens nicht.


Im Linksextremismus ist diese Art der Radikalisierung zwar bislang noch nicht üblich, da Taten bislang vermittelbar sein müssen. So liegt die letzte linksextremistisch motivierte Tat eines Einzeltäters im deutschsprachigen Raum mittlerweile mehr als 120 Jahre zurück. Der italienische Gelegenheitsarbeiter und Anarchist Luigi Lucheni tötete am 10. September 1898 die österreichisch-ungarische Kaiserin Elisabeth durch einen Stich mit einer spitzen Feile ins Herz. Er wollte einen Vertreter der „herrschenden Klasse“ töten und hatte sich dafür ursprünglich den italienischen Kaiser Umberto I ausgesucht. Da er aber kein Geld für eine Reise nach Rom hatte, nahm er den Herzog Philippe d’ Orléans ins Visier. Dieser änderte aber kurzfristig seine Reisepläne und erschien erst gar nicht in Genf. Aus diesem Grunde wählte er schließlich Elisabeth zu seinem Opfer. Mit dem Satz „Ich glaube an die Propaganda durch die Tat“ stilisierte er sich zum Anarchisten.14 Doch sollte man auch im Linksextremismus entsprechende Taten künftig nicht pauschal ausschließen.

 

6 Ausblick


Die Radikalisierung im Linksextremismus befindet sich in der Bundesrepublik, wenn auch regional in unterschiedlicher Ausprägung, auf einem hohen Niveau. Während das Aggressionsniveau steigt, sinkt die Hemmschwelle zur Anwendung von Gewalt in der autonomen Szene. So verzeichneten die linksextremistisch motivierten Gewalttaten bundesweit im Jahr 2020 neue Höchststände. Die Fallzahlen bei den Gewalttaten stiegen um 45,06% von 1.052 im Jahr 2019 auf 1.526 im Jahre 2020.15 Auch die Intensität und Professionalität der Taten hat zugenommen wie beispielsweise der Angriff auf eine Immobilienmaklerin in Leipzig und zuvor bereits die Gewalt beim G20-Gipfel von Hamburg beispielhaft zeigen. Die Zahlen belegen eine wachsende Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene und eine sich dort vollziehende zunehmende Radikalisierung, die ihren Ausdruck u.a. in einer Zunahme klandestin agierender Kleingruppen findet. Diese legen kaum mehr Wert auf die Vermittelbarkeit ihrer Taten. Vielmehr schotten sie sich von der übrigen linksextremistischen Szene bewusst ab und greifen gezielt ihre politischen Gegner an. Dabei nehmen sie auch den Tod ihrer Opfer billigend in Kauf. Jüngstes Beispiel für diese Entwicklung ist die Serie von äußerst brutalen Übergriffen in Sachsen und Thüringen auf einschlägig bekannte Rechtsextremisten, weswegen die Leipzigerin Lina E. und drei weitere Personen zurzeit in Dresden vor Gericht stehen.16


Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung könnten verschiedene auslösende Momente zu einer weiteren Radikalisierung im Linksextremismus und dadurch zu einer zunehmenden Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene führen. Eine reale oder auch nur empfundene Zuspitzung der politischen, sozialen und ökonomischen Widersprüche in den demokratischen Rechtsstaaten wäre eine solche Möglichkeit. Sollte beispielsweise die Kluft zwischen Arm und Reich vor allem im Zuge der Coronapandemie weiter zunehmen, so könnte das extremistische Einstellungen bis hin zur Gewalt befeuern und zu einer weiteren Radikalisierung beitragen. Szenerelevante Großereignisse, sofern sie im Sinne des linksextremistischen Spektrums verlaufen wie z.B. der G20-Gipfel von Hamburg, könnten eine euphorisierende Wirkung auf die linksextremistische Szene ausüben. Ein stark ausgeprägtes avantgardistisches Denken in Teilen der linksextremistischen Szene könnte wiederum die Annahme verstärken, man sei im Besitz der Wahrheit und dürfe daraus das Recht ableiten, zu entscheiden, wer oder was gut oder böse ist und mit welchen Mitteln es bekämpft werden darf.


Besondere Gefahr mit Blick auf eine weitere Radikalisierung im Linksextremismus könnte von einer tödlich verlaufenden Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner oder der Polizei ausgehen, wodurch der sog. Märtyrereffekt zum Tragen käme. Ähnlich wie es nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch den Polizisten und Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit Karl-Heinz Kurras nach dem 2. Juni 1967 der Fall war, könnte ein solches Ereignis auch heute mobilisierend und radikalisierend auf die linksextremistische Szene wirken. Umgekehrt bestünde die Gefahr, dass der Tod eines Rechtsextremisten, hervorgerufen durch linksextremistische Gewalt, die rechtsextremistische Szene weiter radikalisieren könnte. Die Überfälle von Lina E. und ihrer Gruppe auf Rechtsextremisten haben gegenwärtig das Potenzial, einer entsprechenden Entwicklung den Weg zu bereiten. Verleihen ihre Taten doch den betroffenen Rechtsextremisten einen Opferstatus, mit dem diese zu modernen Märtyrern der rechtsextremistischen Szene werden. Dadurch hervorgerufene Gegenaktionen von Rechtsextremisten könnten wiederum eine Spirale der Vergeltung mit unabsehbaren Folgen der Radikalisierung in der Gewalt in Gang setzen. Die im „Spiegel“ zitierte Äußerung eines Rechtsextremisten, „Wenn der Erste von uns tot auf der Straße liegen bleibt … dann Gnade euch Gott“, lässt Schlimmes in dieser Hinsicht befürchten.17 Zugleich hat Lina E. spätestens seit ihrer Festnahme im November 2020 aufgrund ihrer Taten bereits einen Märtyrerstatus erlangt, der eine weitere Radikalisierung der linksextremistischen Szene forcieren könnte.


Die Beispiele zeigen auf, dass die Radikalisierung zumeist ein schleichender Prozess ist. Aufgrund eines auslösenden Moments kann sie plötzlich und unmittelbar an Dynamik gewinnen und in exzessive Gewalt münden. Radikalisierung und Gewalt verhalten sich dabei wie zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig bedingen.


Um einer weiteren Radikalisierung vorzubeugen, bedarf es konzeptioneller Überlegungen für eine effiziente Deradikalisierung. An dieser Stelle ist die Präventionsarbeit gefordert. Sie muss auch für den Linksextremismus nach Wegen suchen, um die Spirale der Radikalisierung vor allem in die und in der Gewalt möglichst frühzeitig Einhalt zu gebieten. Mit Konzepten beispielsweise zur Demokratieförderung und gewaltfreien Konfliktlösung kann sie zur Identifizierung mit der Demokratie und zur gewaltfreien Konfliktlösung beitragen und so die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Radikalisierung in alle Formen der Gewalt aufgehalten und – möglicherwiese – in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Vor allem manchem jungen Menschen könnte so der Weg in die Gewaltspirale mit unabsehbaren Folgen für seine weitere Entwicklung erspart bleiben.


Obwohl auch der Linksextremismus durch eine zunehmende Radikalisierung seiner Akteure, die oftmals in exzessiver Gewalt ihren Ausdruck findet, auf sich aufmerksam macht, sind empirische Forschungsarbeiten zum Thema immer noch weitgehend Mangelware.18 Im Gegensatz beispielsweise zum bereits gut erforschten Rechtsextremismus, fehlen zum Linksextremismus vertiefte wissenschaftliche Studien. Aus diesem Grunde sind die Sicherheitsbehörden und die Präventionsarbeit bei diesem Phänomenbereich weitgehend auf ihr Erfahrungswissen angewiesen. Sozialwissenschaftliche Fragen wie z.B. nach der Sozialstruktur von Linksextremisten und ihrem Umfeld, den Motiven für ihr politisches Engagement und den Ursachen für ihre Radikalisierung in die bzw. in der Gewalt bleiben somit weitgehend unbeantwortet. Möglicherweise könnte das beim Bundesamt für Verfassungsschutz im Aufbau befindliche Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF) langfristig dazu beitragen, an dieser Stelle Abhilfe zu schaffen. Schließlich soll es zu seinen Aufgaben gehören, gemeinsam mit Universitäten und anderen (außeruniversitären) Forschungseinrichtungen die „Analysekompetenzen des Verfassungsschutzes zu stärken.“19 Generell gilt es, den Status quo auf diesem Gebiet zu verändern und Gelder und Personal auch für die wissenschaftliche Erforschung des Linksextremismus zur Verfügung zu stellen. Nur so lässt sich die Radikalisierung im Linksextremismus frühzeitig erkennen, richtig einordnen und präventiv ebenso wie repressiv auf sie reagieren. Nur so haben die Sicherheitsbehörden und die Präventionsarbeit künftig eine Chance, gemeinsam einer möglichen Eskalationsspirale rechtzeitig Einhalt zu gebieten.


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