Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche möglich ist


Von EPHK & Ass. jur. Dirk Weingarten, Wiesbaden

 

I Materielles Strafrecht

 

§ 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB – Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen; hier: Sog. Schlampiger Hitlergruß; Sportunterricht. Der 28 Jahre alte Schüler (S) war Teil der Berufsschulklasse und nahm am Sportunterricht teil. Im Rahmen dessen imitierte er mit Zeige- und Mittelfinger der linken Hand den Schnurrbart des als Diktator herrschenden Adolf Hitler und hob gleichzeitig den rechten Arm, wobei nicht festgestellt werden konnte, ob er den Arm mit gestreckten Fingern nach rechts oben richtete, also den sog. „Hitlergruß“ zeigte, oder den angewinkelten rechten Arm mit ausgestreckter rechter Hand schräg nach hinten brachte; „Schlampiger Hitlergruß“.

Der „Schlampige Hitlergruß“ ist, anders als z.B. der sog. „Kühnen Gruß“ (ausgestreckter Arm mit drei abgespreizten Fingern), nicht dem Hitlergruß als „Grußformel“ zum Verwechseln ähnlich i.S.v. § 86a Abs. 2 S. 2 StGB und kann deshalb eine Strafbarkeit nicht begründen. Ein von einem Schüler im schulischen Sportunterricht gezeigte Hitlergruß erfolgt nicht öffentlich i.S.d. § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB, wenn die Sporthalle von außen nicht einsehbar ist. Sportunterricht stellt auch keine „Versammlung“ dar. (OLG Brandenburg, Urt. v. 25.3.2020 – (1) 53 Ss 126/19 (74/19))


§ 114 Abs. 1 StGB – Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte; hier: Vorsätzlich herbeigeführtes Auffahren eines Polizeifahrzeugs durch anlassloses plötzliches Abbremsen. Der B bremste plötzlich anlasslos ab, um mit bedingtem Vorsatz das Auffahren des Polizeifahrzeugs auf das Fahrzeug des Beschuldigten herbeizuführen.

Ein tätlicher Angriff i.S.v. § 114 Abs. 1 StGB setzt eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper zielende Einwirkung voraus. Der tätliche Angriff wurde im Gesetzgebungsverfahren lediglich aus § 113 Abs. 1 Alt. 2 StGB herausgelöst und in § 114 Abs. 1 StGB neu gefasst, ohne dass hierbei eine inhaltliche Änderung des Begriffsverständnisses beabsichtigt war. Zwar wirkte der B durch das Hindernisbereiten direkt nur auf das auffahrende Polizeifahrzeug ein. Es liegt in einer derartigen Fallkonstellation jedoch nahe, von einer unmittelbar auf die Körper der im Fahrzeug befindlichen Polizeibeamten zielenden Einwirkung auszugehen, weil sich die Kraftentfaltung wegen der äußerst engen Verbindung mit dem Fahrzeug zwangsläufig und (nahezu) gleichzeitig auf die Körper der Insassen auswirkt. (BGH, Beschl. v. 13.5.2020 – 4 StR 607/19)


§ 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB – Vergewaltigung; hier: Durch Täuschung veranlasste Selbstpenetration. Der A, der sich als 18 Jahre alter Auszubildender und Schlagzeuger einer Band vorstellte, lernte eine 14 Jahre alte und mit Minderwertigkeitskomplexen ringende N in einem „Chatroom“ im Internet kennen. Dieser teilte er mit, dass eine „japanischen kriminellen Organisation“ seine Bandkollegin erpressen würden und sich diese zwangsweise prostituieren müsse. Eine Lösung seien Bilder mit sexuellen Handlungen von N, die die „Japaner“ haben wollten. Durch diese Täuschung veranlasst fertigte N Bilder von sich, während sie sexuellen Handlungen an sich vornahm.

Die Grundtatbestände des § 177 Abs. 1, 2 StGB und der sich auf diese beziehende besonders schwere Fall der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 StGB erfassen auch sexuelle Handlungen des Opfers an sich selbst. Auch ist es nicht erforderlich, dass der Täter räumlich anwesend ist. Nicht anders als im Fall des § 240 StGB ist die bloße Warnung vor einem durch Dritte drohenden Übel, dessen Eintritt der Täter aus der Sicht des Erklärungsempfängers nicht beeinflussen kann, keine Drohung i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB. Die (vermeintlichen) Warnungen können aber für das Opfer einen Grund bzw. Anlass dazu gegeben haben, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen. Dies reicht für die Annahme eines „vornehmen lassen“ i. S.d. § 177 Abs. 1 Alt. 2 StGB aus. (BGH, Beschl. v. 10.3.2020 – 4 StR 624/19)


§ 185 StGB – Beleidigung; hier: Polizei als „Rassisten“ bezeichnet. Im Rahmen einer polizeilichen Maßnahme teilte eine Person Polizisten folgendes mit: „Du bist ein Rassist. Ihr seid alle Rassisten. Ihr macht das nur, weil ich schwarz bin.“

Die Bezeichnung einer Person bzw. der Polizei als „Rassisten“ stellt sich weder als Formalbeleidigung noch als Schmähkritik dar, wenn sie im Zusammenhang mit einem konkreten Einsatz steht. Sie ist als Werturteil zu verstehen, da es regelmäßig auf eine Wertung von Verhaltensweisen oder Äußerungen dieser Person gegenüber einer anderen ankommt. (LG Bremen, Beschl. v. 28.6.2021 – 41 Qs 243/21)


§§ 185, 186 StGB – Beleidigung; Üble Nachrede; hier: Postings in öffentlichen Social-Media-Gruppen. Eine Verurteilung wegen Beleidigung oder übler Nachrede setzt gerade dann, wenn die Strafbarkeit durch über das Internet verbreitete Beiträge in Form sog. Postings innerhalb einer „öffentlichen“ Gruppe im Rahmen einer Social-Media-Plattform als verwirklich angesehen wird, voraus, dass die als tatbestandlich und rechtswidrig (§ 193 StGB) gewerteten Äußerungen im Urteil entweder vollständig zitiert oder aber – soweit möglich – wenigstens nach ihrem jeweiligen Gesamtkontext in Form einer aussagekräftigen zusammenfassenden Darstellung im Urteil wiedergegeben werden, weil nur so auszuschließen ist, dass die inkriminierten Zitate nicht aus einem größeren Zusammenhang herausgerissenen sind. Im Übrigen macht selbst eine überzogene, völlig unverhältnismäßige oder sogar ausfällige Kritik eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung, so dass selbst eine Strafbarkeit von Äußerungen, welche die persönliche Ehre erheblich herabsetzen, in aller Regel eine Abwägung erfordert. (Bayerisches OLG, Beschl. v. 26.11.2020 – 202 StRR 86/20)


§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB – Verbotene Kraftfahrzeugrennen; hier: Polizeiflucht. Der A war gegen 01.08 Uhr am Steuer eines VW Golf GTI im Stadtgebiet unterwegs, als sich Beamte dazu entschlossen, ihm mit ihrem Einsatzfahrzeug zu folgen, um ihn einer allgemeinen Verkehrskontrolle zu unterziehen. Um sich der drohenden Verkehrskontrolle zu entziehen beschleunigte er im Bereich angeordneter Geschwindigkeitsbegrenzung von 20 km/h auf mindestens 130 km/h. Über einen längeren Zeitraum wurden multiple Verstöße begangen bis es schließlich zu der konkreten Gefahr einer Kollision mit einem anderen Fahrzeug kam.

Die Strafvorschrift des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt in objektiver Hinsicht ein Sich-Fortbewegen mit nicht angepasster Geschwindigkeit voraus, das sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls als grob verkehrswidrig und rücksichtslos darstellt. Die grobe Verkehrswidrigkeit des Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit kann sich allein aus der besonderen Massivität des Geschwindigkeitsverstoßes oder aus begleitenden anderweitigen Verkehrsverstößen ergeben, die in einem inneren Zusammenhang mit der nicht angepassten Geschwindigkeit stehen. Die Tathandlung muss ferner im Sinne einer überschießenden Innentendenz von der Absicht getragen sein, nach seinen Vorstellungen auf einer nicht ganz unerheblichen Wegstrecke die unter den konkreten situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Absicht braucht nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns zu sein. Es reicht vielmehr aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen. Dieses Verständnis des Absichtsmerkmals in § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB hat zur Folge, dass beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sog. Polizeifluchtfälle von der Strafvorschrift erfasst werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden kann, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Höchstgeschwindigkeit zu steigern. (BGH, Beschl. v. 29.4.2021 − 4 StR 165/20)

 

 

II Prozessuales Strafrecht

 

§§ 100h, 163f StPO – Weitere Maßnahmen außerhalb von Wohnraum; Längerfristige Observation; hier: Langzeit Videoüberwachung nicht beschuldigter Bewohner eines Hauses. Im Stadtgebiet Tübingen wurden vier Pkw in Brand gesetzt. Aufgrund von Bekennerschreiben sowie eines in Tatortnähe angebrachten Graffiti-Schriftzuges „R94“ mit Herzsymbol werteten die Strafverfolgungsbehörden die Brandstiftungen als Resonanzstraftaten (Räumung R.-Straße 94/Berlin) und rechneten diese daher der linksautonomen/linksextremistischen Szene zu. Bei der StA wurde die verdeckte Videoüberwachung zweier Wohnhäuser beantragt. Als Begründung wurde angeführt, dass es sich bei den Wohnhäusern „um einschlägig bekannte linke Szeneobjekte, in welchen Angehörige der linksautonomen/linksextremen Szene wohnhaft sind“ handele. Zudem befänden sich die Häuser in fußläufiger Entfernung zu einem der Tatorte.

Wird im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Brandstiftung gegen Unbekannt ermittelt und erfolgt im Zuge dessen eine verdeckte Videoüberwachung des Zugangsbereiches eines Wohnhauses mit dem Ziel, im Falle eines weiteren Brandes die neue Tat, aber auch die bereits begangene Tat mit Personen in Verbindung zu bringen, die das überwachte Gebäude tatzeitnah verlassen oder betreten, handelt es sich hierbei um eine längerfristige Observation gem. § 163f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO, die nur durch den Ermittlungsrichter angeordnet werden darf, § 163f Abs. 3 StPO. Es liegt nicht nur eine – nicht dem Richtervorbehalt unterliegende – Maßnahme gem. § 100h StPO vor, weil sich das Verfahren gegen Unbekannt richtet. (LG Tübingen, Beschl. v. 11.3.2020 – 9 Qs 28/20)


§§ 103, 105, 110 StPO – Durchsuchung bei anderen Personen; Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien; hier: Mitnahme einer Gesamtheit von Papieren und Datenspeichern zur Durchsicht. Der Generalbundesanwalt führte gegen mehrere Beschuldigte sowie weitere unbekannte Mittäter ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verabredung zum Mord in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Auf seinen Antrag hat der Ermittlungsrichter des BGH die Durchsuchung der Person und der von ihm genutzten Räumlichkeiten des Zeugen A nach näher umschriebenen Beweismitteln (Speichermedien, die der Zeuge zur Kommunikation mit dem Beschuldigten nutzt oder genutzt hat, mitsamt der entsprechenden Dateien sowie schriftliche Aufzeichnungen zur Kommunikation des Beschwerdeführers) angeordnet. Die Durchsuchung wurde am 31.1.2019 vollzogen; die Durchsicht der aufgefundenen Papiere und Datenträger sodann teilweise abgeschlossen, so dass zwei Mobiltelefone und mehrere schriftliche Unterlagen wieder ausgehändigt werden konnten. Die Auswertung der einbehaltenen Unterlagen sowie die Durchsicht weiterer Speichermedien dauerte zum Entscheidungszeitpunkt noch an.

Eine Ermittlungsdurchsuchung, die Unverdächtige betrifft, setzt nach § 103 Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass sich das gesuchte Beweismittel in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Es müssen konkrete Gründe dafür sprechen, dass der gesuchte Beweisgegenstand in den Räumlichkeiten des Unverdächtigen gefunden werden kann. Eine solche Durchsuchung setzt überdies voraus, dass hinreichend individualisierte (bestimmte) Beweismittel für die aufzuklärende Straftat gesucht werden. Diese Gegenstände müssen im Beschluss so weit konkretisiert werden, dass weder beim Betroffenen noch bei dem die Durchsuchung vollziehenden Beamten Zweifel über die zu suchenden und zu beschlagnahmenden Gegenstände entstehen können. Ausreichend ist dafür, dass die Beweismittel der Gattung nach näher bestimmt sind; nicht erforderlich ist, dass sie in allen Einzelheiten bezeichnet werden. Papiere und elektronische Speichermedien unterliegen vor ihrer Beschlagnahme oder sonstigen Sicherstellung nach § 110 Abs. 1 StPO der Durchsicht durch die StA oder von ihr beauftragte Ermittlungspersonen. Um diese Durchsicht zu gewährleisten, kann auch die Mitnahme einer Gesamtheit von Daten zur Durchsicht zulässig sein. (BGH, Beschl. v. 5.6.2019 – StB 6/19)


§ 261 StPO – Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung; hier: Rechtswidrig von Privaten erlangte Beweismittel. Der A wurde u.a. wegen Nötigung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer halbautomatischen Kurzwaffe zum Verschießen von Patronenmunition verurteilt. Als Beweismittel wurden Videoaufnahmen von der Tatbegehung verwertet, die unter Verstoß gegen die Vorgaben der DS-GVO erlangt worden sind, weil der Inhaber eines Ladengeschäfts mit seiner davor angebrachten Videokamera über 50 Meter ins öffentliche Straßenland hineingefilmt hat.

Auch rechtswidrig von Privaten erlangte Videoaufnahmen sind grundsätzlich im Strafverfahren verwertbar. Durch das Inkrafttreten der DS-GVO hat sich daran nichts geändert. (BGH, Beschl. v. 18.8.2021 – 5 StR 217/21)