Recht und Justiz

Novellierung des UZwG Bln – Die Rolle der Notrechte im öffentlichen Recht

Von Prof. Michael Knape, Berlin

 

4 Notwehr/Nothilfe als öffentliches Sonderrecht?


Man bedenke: Notwehr- und Nothilferechte stellen keine öffentlichen Sonderrechte dar.25 Jedermannsrechte sind keine Ermächtigungsgrundlage für hoheitliches Handeln. Rechtfertigungsgründe des Straf- und Zivilrechts gehören nicht dem öffentlichen Recht an und sind daher ungeeignet, Lücken in öffentlich-rechtlichen Handlungsbefugnissen auszufüllen, weil dies die polizeilichen Entscheidungen bei ihrer Schaffung verfälschen, die öffentlich-rechtliche Kompetenzordnung verwirren und meist auch Staatsnotrecht schaffen würde, das in der Verfassung schon abschließend geregelt ist.26 Angemerkt sei: Dass ein auf sich gestellter Bürger in gewissen Nothilfefällen weiter gehen darf als die Polizei, hat seinen Grund in den unterschiedlichen Machtverhältnissen.27 Dazu passt rechtlich einmal mehr die berechtigte und insoweit auch streitige Frage, ob die Rechtfertigung von Maßnahmen staatlicher Organe, namentlich von Angehörigen der Polizei, sich bei Eingriffen im Rahmen der Dienstausübung ausschließlich nach Maßgabe des öffentlichen Rechts bestimmt28 oder ob unabhängig vom Dienstrechteine Rechtfertigung nach § 32 StGB wegen Notwehr oder Nothilfe in Betracht kommt.29 Diese Frage gilt bis zum heutigen Zeitpunkt als ungeklärt: Gesetzgeber und höchstrichterliche Rechtsprechung belassen es hierbei, wenngleich auch an dieser Schnittstelle des Rechts ein grundlegendes Legitimationsproblem existiert bzw. aufgeworfen ist.30 Nimmt die Staatsanwaltschaft beim sog. „Finalen Rettungsschuss“ eine Rechtfertigung durch § 32 StGB gleichwohl an, umgeht sie schlichtweg die Frage, ob nach Berliner Rechtslage – UZwG Bln – ein gezielter Todesschuss überhaupt zulässig ist. Kann die Polizei aus den Notrechtsvorbehalten das Recht zur Notwehr/Nothilfe ableiten, so werden die sehr viel engeren Grenzen des Schusswaffengebrauchs gem. § 41 Abs. 2 Satz 2 MEPolG 1977 hinfällig. Die öffentlich-rechtliche Regelung wird insoweit durch die Notrechtsvorbehalte aus den Angeln gehoben.31 Die Notrechte hindern – dies sei der Vollständigkeit an dieser Stelle hinzugefügt – auch prinzipiell nicht die Disziplinarahndung.32 Notwehr/Nothilfe ist ihrem Normzweck in erster Linie darauf ausgelegt, einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren; § 32 StGB geht also insbesondere von Augenblickssituationen des Hilfeleistenden und nicht von einem geplanten Eingriff – erst nach Freigabe des Polizeiführers – z.B. im Rahmen hoheitlichen Handelns aus, wie es beim Einsatz von sog. Präzisionsschützenkommandos der Polizei in Fällen der Nothilfe der Fall ist. Nach alledem weist § 9 Abs. 4 Satz 1 UZwG Bln auf die Straf- und Zivilrechtslage hin, wonach einem Polizeivollzugsbeamten bei Ausübung seines Dienstes – trotz hoheitlichen Handelns – das Notwehr- und Nothilferecht uneingeschränkt zur Seite stehen soll, wenn er in eine Gefahrensituation gerät, die nur noch unter Inanspruchnahme der allgemeinen Notwehrrechte bewältigt werden kann, mit der Folge, dass er dann weder straf- noch zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Objektive Voraussetzung für die Rechtfertigung im Rahmen des § 32 StGB ist nach dessen Abs. 2 das Bestehen einer Notwehr-/Nothilfelage zum Zeitpunkt der Tat. Dabei muss es sich in Fällen der Notwehr/Nothilfe um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut des Angreifers handeln.33 Gleichwohl ist jedoch einmal mehr Vorsicht geboten: Seit jeher gilt im Strafrecht die freie Beweiswürdigung und die tatrichterliche Überzeugung in Bezug auf den jeweils zu entscheidenden Einzelfall.

 

5 Verteidigungswille des Opfers/der Geisel


Zu bedenken ist ferner, dass z.B. die Geisel den Verteidigungswillen an der konkreten Verteidigungs- bzw. Nothilfehandlung – dem Schusswaffengebrauch der Polizei – haben muss. Den konkreten Verteidigungswillen der Geisel an diesem besonderen Einsatz der Polizei, bei dem sie in eine absolute Situation gerät, wird man jedoch regelmäßig nicht ohne weiteres unterstellen können bzw. dürfen;34 man denke nur an bekannt gewordene Äußerungen von an ihrem Leben bedrohten Personen gegenüber der Polizei z.B. bei Telefongesprächen insbesondere im Rahmen von Geiselnahmen in Geldinstituten, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte, nicht die Bankräume zu stürmen und das Feuer auf die Geiselnehmer zu eröffnen, weil sie andernfalls von diesen getötet werden würden.35


Wenngleich auch hierfür keine Validität wissenschaftlicher Untersuchungsreihen betreffend den verhaltensgesteuerten Wunsch von Geiseln in der akuten Bedrohungslage existiert, wird die Polizei ihr taktischen Handeln vor allem nach dem aktuellen Bedrohungsszenario – verursacht durch die Geiselnehmer – ausrichten, wobei sich dieses Szenario immer dann in Richtung Notzugriff steigert, wenn der oder die Täter bereits eine Geisel getötet haben. Das Argument, die Geiseln befinden sich wegen der konkreten Gefahrensituation in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand, greift nicht durch. Unter dieser Sichtweise scheidet dann aber auch Nothilfe als persönliche Rechtfertigung polizeilichen Handelns aus, soweit nicht besondere Umstände ganz ausnahmsweise die Polizei zum Eingreifen zwingen.36 Folgerichtig gilt als Grundsatz: Nothilfe ist nach h.M. nicht geboten, wenn der Rechtsgutinhaber den Angriff nicht abwehren37 oder sich selbst verteidigen will. Das Nothilferecht ist demgemäß nach herrschender Auffassung gegen den Willen des Angegriffenen – der geängstigten Geisel, wenn diese dem Einsatz der Polizei zum Todesschuss widerspricht38 – nicht zulässig.39 Das Argument, der Staat würde dadurch erpressbar werden, kann nur kraft einer Regelung i.S.d. § 41 Abs. 2 Satz 2 MEPolG 1977 beseitigt bzw. wirksam begegnet werden.40 Ebenso problematisch ist polizeiliches Handeln in (vermeintlich) stillschweigendem Einvernehmen oder hinsichtlich „aufgedrängter“ Nothilfe der Polizei.41