Recht und Justiz

Novellierung des UZwG Bln – Die Rolle der Notrechte im öffentlichen Recht

Von Prof. Michael Knape, Berlin

 

 

Am 2.4.2021 trat als Artikelgesetz das Änderungsgesetz des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG Bln) und anderer Gesetze – mit nur einer Änderung des UZwG Bln [!] – in Kraft (GVBl. S. 317). Die Hoffnung der Polizei, angesichts von Amoklagen, terroristischer Lagen, Geisellagen und dergleichen – man denke insbesondere an den Anschlag eines islamistischen Attentäters auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz am 19.12.2016 – sowohl ein normativ modernes, rechtlich renoviertes, insbesondere den hohen Anforderungen des internationalen Terrorismus angepasstes ASOG Bln und in Ergänzung dessen ein ebenso rechtlich erweitertes UZwG Bln zu erhalten, erwiesen sich einmal mehr als bloße Utopie. Der Landesgesetzgeber sah es als wieder einmal nicht für erforderlich an, endlich den sog. „Finalen Rettungsschusses“ analog § 41 Abs. 2 Satz 2 MEPolG 1977 im UZwG Bln zu implementieren.2 Damit ist Berlin bis auf die – mehr oder weniger korrespondierende – Regelung im UZwG (Bund)3 das einzige Land in der Bundesrepublik Deutschland, das auf diese so wichtige Regelung als besondere Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verzichtet; alle anderen fünfzehn Länder haben diesbezüglich bestehende Gesetzeslücken zwischenzeitlich längst geschlossen, so z.B. zuletzt das Land Mecklenburg-Vorpommern im SOG M-V. Dieser Aufsatz setzt sich mit den rechtlichen Problemen auseinander, die durch die Nichtregelung im Land Berlin seit vielen Jahren existieren. Es stellt sich zugleich die Frage, ob im Land Berlin – abgesehen von einem Notwehrschuss eines einzelnen Schützen (Polizeivollzugsbeamten4) – der sog. „Finale Rettungsschuss“ von einem Präzisionsschützenkommando überhaupt abgefeuert oder insoweit vom zuständigen Polizeiführer angeordnet, d.h. freigegeben werden darf.

 

1 Ergänzung des UZwG Bln


Einzig § 9 Abs. 4 UZwG Bln, der bereits in seinem Satz 1 „das Recht zum Gebrauch von Schusswaffen durch einzelne Polizeivollzugsbeamte in den Fällen der Notwehr und des Notstandes für unberührt erklärt“ und in seinem Satz 2 zugleich bestimmt, dass soweit „ein Polizeivollzugsbeamter in diesen Fällen die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt, die Verantwortlichkeit nach den Vorschriften der Amtshaftung das Land Berlin trifft“, wurde um zwei weitere – Vorschriften mit mehr oder weniger deklaratorischem Charakter – ergänzt. So bestimmt nunmehr Satz 3, dass „das Land Berlin in den Fällen des Satzes 1 als Teil der staatlichen Fürsorgepflicht angemessenen Rechtsschutz in Ermittlungs- und Strafverfahren, die gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte geführt werden, gewährleistet; Näheres hierzu wird in Ausführungsvorschriften der für das Dienstrecht zuständigen Senatsverwaltung geregelt“.Satz 4 bestimmt, dass „die Gewährung von Rechtsschutz in anderen Fällen unberührt bleibt“. Dass in Fällen (vermeintlicher) Amtspflichtverletzungen behördlicher Rechtsschutz beantragt werden kann, liegt schon seit Jahren klar und eindeutig auf der Hand. Denn im Strafrecht gilt seit jeher zunächst das Prinzip der Unschuldsvermutung; dieser Grundsatz streitet selbstverständlich auch für Polizeivollzugsbeamte. Die Pflichtverletzung muss zwangsläufig im Funktionszusammenhang mit der Amtsausübung – dem hoheitlichen Handeln – stehen.5 Die Amtspflicht als solche ergibt sich aus dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes gem. Art. 20 Abs. 3 GG). Die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen schaffen damit kein neues materielles Polizei- und Ordnungsrecht. Sie beziehen sich vielmehr auf etwas dem Grunde nach Selbstverständlichen, das zu leisten sich einerseits aus der Schadensersatzpflicht des Staates (sog. Staatshaftung) wegen begangener Amtspflichtverletzung seiner Bediensteten bzw. Amtsträger, andererseits als zwingende staatliche Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Amtsträgern ergibt. Art. 34 Satz 1 GG statuiert insoweit die Haftung des Staates bei (möglichem) rechtswidrigen, öffentlich-rechtlichem Verhalten seiner Amtsträger, weil die Haftung des Staates nicht nur im Interesse des von einer Amtshandlung Betroffenen,6 sondern auch im Interesse des handelnden Amtsträgers zu bejahen ist.7 Hinsichtlich der Anspruchsgrundlage und Haftungsvoraussetzungen bilden die § 839 BGB und Art. 34 GG rechtlich ein Ganzes; sie müssen daher stets zusammen geprüft werden.8 § 9 Abs. 4 UZwG Bln soll demnach als einfaches (Landes-)Gesetz ergänzend das sicherstellen, was auf verfassungsrechtlicher Ebene – Art. 34 Satz 2 GG – explizit als Verfahrensmaxime nicht bereits geregelt ist. Macht der Amtsträger in Extremfällen, also in Notwehr-/Nothilfesituationen, von seiner dienstlich zugelassenen Schusswaffe9 ohne vorherige Androhung Gebrauch10 und tötet den Angreifer durch Schussabgabe aus seiner Dienstwaffe mit unbedingtem Vorsatz oder bewusst in Kauf genommener tödlicher Wirkung,11 handelt der Schütze nach den Vorschriften des UZwG Bln rechtswidrig, so dass der Rückgriff auf den Schützen verfassungsrechtlicher Regelung zufolge in Fällen der Haftung bei Amtspflichtverletzung gem. Art. 34 Satz 2 GG möglich wäre.12 Ob die haftende Körperschaft von dem Inhaber eines öffentlichen Amtes, der durch sein rechtswidriges Verhalten die Haftung ausgelöst hat, jedoch Ersatz verlangen kann, bestimmt sich u.a. nach allgemeinen gesetzlichen Regelungen.13 Insoweit sollen an dieser Stelle die Vorschriften des § 9 Abs. 4 Satz 1 und 2 UZwG Bln ihre rechtliche Wirkkraft entfalten, den hier bestehenden Lückenschluss vollziehen und den Schützen in einem solchen Fall vor einem Haftungsrückgriff des Staates – dem Grunde nach – schützen. Zivilrechtliche Haftungsansprüche Hinterbliebener bleiben jedoch von all dem unberührt; rein theoretisch sind diese sogar rechtlich nicht völlig ausgeschlossen.14 § 9 Abs. 4 Satz 2 UZwG Bln zufolge bleibt der Schusswaffengebrauch – trotz Notwehr oder Nothilfe des Schützen – i.S.d. Staatshaftung ein „hoheitlicher“ Schusswaffengebrauch. Entscheidend sei demzufolge der Gesamtcharakter der Maßnahme, wobei der Amtsträger stets im Rahmen der verfassungsgemäßen Grundsätze des Übermaßverbots bzw. der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne (Legitimer Zweck sowie Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit) zu handeln hat. Dabei kommt insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit auf dessen zweiter Stufe, der Erforderlichkeit bzw. des mildesten Mittels, und auf dessen dritter Stufe, der Angemessenheit bzw. der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, erhöhte Bedeutung zu. Die inakzeptable Rechtslage i.S.e. effektiven Gefahrenabwehr, die der Tatsache geschuldet ist, dass sich der Berliner Gesetzgeber bis zum heutigen Tag nicht dazu durchringen kann, den sog. „Finalen Rettungsschuss“ als Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – keinesfalls etwa als Befugnisnorm [!] – entsprechend dem § 41 Abs. 2 Satz 2 MEPolG 197715 auszugestalten und im UZwG Bln als zusätzliche Regelung des § 9 UZwG Bln16 im Rahmen des hoheitlichen Schusswaffengebrauchs zu implementieren, ist in der Sache und dem Grunde nach von der Rechtsentwicklung längst überholt. Das zögerliche Verhalten des Gesetzgebers ist umso unverständlicher, als der Schusswaffengebrauch von Polizeivollzugsbeamten z.B. in Bad Kleinen am 27.6.1993 bewiesen hat, dass diese Form der Zwangsanwendung in der Politik und in den Medien von höchstem Aufmerksamkeitswert ist und nicht nur selten aus parteipolitischen oder ideologischen Gründen instrumentalisiert wird.17 Ein neuer Satz 2 des § 9 Abs. 2 UZwG Bln sollte – um alle rechtlich kritischen Überlegungen aus dem Wege zu räumen – wie folgt lauten: „Zweck des Schusswaffengebrauchs darf nur sein, angriffs- oder fluchtunfähig zu machen (Satz 1).“„Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist (Satz 2). Der Schusswaffengebrauch ist unzulässig, wenn dadurch erkennbar Unbeteiligtemit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden; dies gilt nicht, wenn sich deren Gefährdung beim Einschreiten gegen eine Menschenmenge (§ 16) oder eine bewaffnete Gruppe nicht vermeiden lässt (Satz 3).“ Schießt ein Polizeivollzugsbeamter im Land Berlin entgegen den Vorschriften des UZwG Bln auf eine Person, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden und wird diese Person sodann tödlich verletzt, kann – wenn überhaupt – nur jene Vorschrift zum Tragen kommen, die die straf- und zivilrechtliche Rechtswidrigkeit – in diesem Fall die tatbestandlich vollendete Tötung des Angreifers (§ 212 StGB) – rechtfertigt. In Fällen der Notwehr mag das noch verständlich sein, in Nothilfesituationen ist dies umso kritischer zu bewerten. Der Blick richtet sich insofern – verbunden mit allen rechtlichen Problemen – auf das sog. „Jedermannsrecht“ des § 32 StGB (Notwehr/Nothilfe). Unberührt davon bleibt selbstverständlich das Notwehrrecht nach § 227 BGB.

 

Seite: 1234weiter >>