Dokumentation von Vernehmungen – traditionell und audiovisuell (Teil 2)

Von Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper und Dozent Thorsten Floren, Dortmund/Mülheim*

 

Der erste Teil dieses Beitrages (Die Kriminalpolizei 4/2021, S. 4 bis 7) hat sich vorrangig mit Inhalten und Rechtsproblemen von Vernehmungen beschäftigt. Nunmehr geht es um die in der strafrechtlichen Hauptverhandlung immer wichtiger werdende (authentische) Dokumentation der Inhalte und Umstände der Vernehmung: „Strafjuristen“ neigen dazu, die Inhalte unkritisch zu übernehmen, während „die Verteidiger“ dem zunehmend kritisch gegenüberstehen. Vergleicht man die zeitliche Dauer einer Vernehmung mit dem regelmäßig in den Akten auftauchenden Vernehmungsprotokoll, scheint Skepsis geboten: Eine zweistündige Vernehmung produziert mehr als sieben bis zehn Seiten Protokoll.

 

3 Audiovisuelle Vernehmungen

 

Es muss verwundern, dass im Jahr 2021 Tonband- und Videovernehmungen als innovative Dokumentationstechniken angepriesen werden, zumal sie in anderen Staaten zum Standard gehören. Die vorgeschobenen Einwände gegen den Einsatz derartiger Techniken haben sich gewandelt: Waren es zunächst angeblich fehlende Audiokassetten und Aufnahmegeräte, sollte, nach Anschaffung dieser, die Verfälschung der Vernehmungssituation und die Beeinflussung des zu Vernehmenden durch die Existenz technischer Geräte einer Umsetzung in die Praxis entgegenstehen – fadenscheinige Argumente!


Der Einsatz von Videotechnik ist lange Zeit im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten vernachlässigt worden. Das lag vorrangig an der ablehnenden Haltung des Gesetzgebers gegenüber diesem durchaus zeitgemäßen Vernehmungsmittel. Im Jahr 1998 wurde die audiovisuelle Vernehmung erstmalig durch eine Gesetzesänderung eingeführt. Diese Änderung beschränkte sich allerdings auf die Zeugenvernehmung. Im Jahr 2004 wurde die Einsatzmöglichkeit auf die Hauptverhandlung ausgedehnt, gleichzeitig aber auf die erste Instanz beschränkt, da die Befürchtung bestand, in den nachfolgenden Instanzen mit einer Vielzahl von Verfahrensrügen konfrontiert zu werden.


Nach langen Bemühungen wurde 2020, und dies ist aus Sicht der Möglichkeiten für eine deutliche Optimierung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage nur zu begrüßen, die audiovisuelle Vernehmung in § 136 StPO aufgenommen, die Anwendung wurde zunächst auf die Beschuldigtenvernehmung beschränkt. Die Norm stellt in der tatsächlichen Umsetzung die Praktiker vor eine Vielzahl an Problemen, die aus einer vom Gesetzgeber verursachten, unnötigen Komplizierung der eingeführten Rechtsnorm resultieren. Die audiovisuelle Vernehmung wurde unter dem im Gesetz festgelegten Bestimmungen als verpflichtende Handlungsnorm für die Ermittler eingeführt, ansonsten bleibt es im Ermessen der Vernehmungsperson die Beschuldigtenvernehmung in Bild- und Tonaufzeichnung durchzuführen (siehe § 136 Abs. 4 S. 1 StPO).

 

3.1 Audiovisuelle Vernehmung von Zeugen

§ 58a StPO stellt einen Ausfluss aus dem Zeugenschutzgesetz dar. Die Vernehmung des Zeugen wird in audiovisueller Form als richterliche Vernehmung hierbei durchgeführt, wenn zum einen die schutzwürdigen Interessen von Personen unter 18 Jahren gewahrt werden müssen oder bei Kindern oder Jugendlichen, die Opfer von Straftaten im Sinne von § 255a Abs.  2 StPO (Sexualdelikte, Tötungsdelikte etc.) geworden sind. Zum anderen, wenn die Gefahr besteht, dass der Zeuge vor Gericht nicht vernommen werden kann und die Videovernehmung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. Die Intention des Gesetzgebers bezog sich u.a. auf die Gefahr einer möglichen Sekundärtraumatisierung von Kindern als Opfern von Sexualstraftaten, um durch eine Videovernehmung dem Kind weitere Anhörungen ersparen zu können.

3.2 Audiovisuelle Vernehmung von Beschuldigten

Neben den gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Beschuldigtenvernehmung im Strafverfahren muss dieser sowohl die „standardmäßige“ Vernehmung als einen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte dulden, ebenso verhält es sich mit der Durchführung und der Datenerhebung bei einer audiovisuellen Vernehmung. Aus taktischer Sicht muss jedoch der Aspekt der Senkung einer potentiellen Aussagebereitschaft bis hin zur völligen Verweigerung in Betracht gezogen werden, sobald der zu Vernehmende die Videotechnik wahrnimmt und diesem der weitere Ablauf mit der Bild- und Tonaufzeichnung erläutert wird. Dieses Risiko kann durch eine gute Kontakt- und Orientierungsphase zwischen den Protagonisten gemindert oder gar in das Gegenteil umgewandelt werden, wenn dem Beschuldigten die Vorteile dieses Vernehmungssettings verständlich und glaubhaft vermittelt werden und dieses im Rahmen einer zuvor gut herausgebildeten Arbeitsebene vermittelt wird. Neben einer „Schutzfunktion“ für den Beschuldigten durch den Einsatz der audiovisuellen Vernehmung im Rahmen der Erhebung des Personalbeweises von dem möglichen Täter, kann diese gerade auch die Ermittler vor ungerechtfertigten Vorwürfen beispielhaft von Seiten potentieller Konfliktverteidiger entlasten. Im Nachfolgenden werden hierzu einige Ansätze dargestellt.

3.2.1 Falsche Geständnisse und deren Enttarnung

Das Geständnis des Beschuldigten wird von weiten Teilen der vernehmenden Polizeibeamten, sowie Staatsanwälten und Richtern zu gerne als „Krönung der kriminalistischen Arbeit“ angesehen. Es genießt häufig immer noch eine große, positiv aufgeladene Beachtung in diesen Bereichen der Behörden und Prozessbeteiligten, leider vielmals völlig ungeachtet der Risiken und Fallstricken die auf dem Weg der Vernehmungshandlung bis hin zum Geständnis reichlich vorhanden sind.


Der Gefahr des „falschen Geständnisses“, das z.B. durch suggestive Effekte oder einen aggressiv-autoritären Vernehmungsstil gerade bei Jugendlichen oder intelligenzgeminderten Personen deutlich besteht, kann die audiovisuelle Vernehmung entgegenwirken, da sowohl das Verhalten des Ermittlers als auch die Reaktionen eine hohe Relevanz haben, zeigen Studien aus den USA, in denen Personen z.T. auch unbewusst durch Ermittler stark suggestiv befragt wurden und hierbei bis zu ca. einem Drittel aller Geständnisse falsch waren.


Ein grundsätzliches Problem bei der Dokumentation der Vernehmungen führt zudem zu einem verzerrten Bild der Vernehmungssituation. Die „Aushandlung der Wirklichkeit“ im Rahmen der Vernehmung ist somit im Nachgang (z.B. in der Hauptverhandlung) nur bedingt bis gar nicht mehr möglich. Ziel der Einführung der audiovisuellen Vernehmung beim Beschuldigten ist u.a. diese Schwachstelle zu entfernen und eine authentische Protokollierung einzuführen.


Weitere Aspekte, die für eine Videovernehmung sprechen, sind:

 

  • Dokumentation zum Schutz vor unsachgemäßer Vernehmung (§ 136a StPO), Einhaltung der Belehrung, Pausen, Anwesenheit des Anwalts etc. für den Beschuldigten
  • Verhalten des Beschuldigten kann im Nachgang erneut auch von Gutachtern interpretiert werden
  • Synergieeffekte für Zeugen (Polizeivollzugsbeamte, es kann ggf. auf Vorladung verzichtet werden)
  • Schutz der Ermittlungsperson vor ungerechtfertigten Vorwürfen durch die Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Verteidigung

Aus Sicht der Ermittlungsbehörden ergeben sich allerdings auch ein deutlich höherer Bearbeitungsaufwand, logistische Herausforderungen und die zusätzliche Notwendigkeit der Ausbildung der Vernehmungspersonen.

3.2.2 Einschränkungen/Problemstellungen des § 136 Abs. 4 StPO


Die audiovisuelle Vernehmung regelt § 136 Abs. 4 StPO wie folgt:


„Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn

 

  1. dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder
  2. die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können. § 58a Absatz 2 gilt entsprechend.“


In § 136 Abs. 4 S. 1 StPO führt der Gesetzgeber die audiovisuelle Vernehmung als „Kann-Vorschrift“ in Form einer Generalklausel für die Beschuldigtenvernehmung ein. Alleine aus praktischen und ökonomischen Erwägungen der Ermittlungsbehörden heraus, scheidet diese Vernehmungsform daher für die Anwendung im Bereich von Massendelikten fast vollständig aus. Denkbar wären hier beispielhaft psychische oder physische Umstände des Beschuldigten, die an dessen Person oder seinem Verhalten festzumachen sind und durch eine audiovisuelle Aufzeichnung im späteren Verfahren zur Begutachtung herangezogen werden könnten, ohne unmittelbar von den Tatbeständen der Nr. 2 der Rechtsnorm erfasst zu werden.


Die Norm nimmt in Nr. 1 eine bekannte Deliktsform, das Tötungsdelikt, in Bezug. Hingegen führt der Gesetzgeber durch Nr. 2 zwei neue Rechtstermini (eingeschränkte geistige Fähigkeiten, schwerwiegende seelische Störung) ein, die weder durch ihn selbst noch die Literatur oder die Rechtsprechung bislang abschließend definiert worden sind.


Der Gesetzgeber hat in § 136 Abs. 4 Nr. 1 StPO als Anwendungsvoraussetzung die Tötungsdelikte aufgenommen. Durch die zuvor eingesetzte Expertenkommission wurde jedoch die Empfehlung gegeben, dass die audiovisuelle Vernehmung des Beschuldigten beim Vorliegen von schwerwiegenden Sach- oder Rechtslagen sowie bei gravierenden Tatvorwürfen durchgeführt werden soll. Letztlich ist somit der Einsatz der Videovernehmung gemäß Nr. 1 zunächst nur auf die Tötungsdelikte beschränkt. Auf eine Ausdehnung der Norm auf weitere schwere Straftaten bzw. Verbrechensdelikte bleibt zu hoffen.


Eingeschränkte geistige Fähigkeiten und/oder eine schwerwiegende seelische Störung sind Begriffe, die von den handelnden Personen (Polizeivollzugsbeamten, Staatsanwälte) bei einem Beschuldigten gemäß § 136 Abs. 4 Nr. 2 StPO diagnostiziert werden müssen, um die Notwendigkeit der Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung erkennen zu können. An welchen Merkmalen, Verhaltensweisen oder Auffälligkeiten sie zu erkennen oder welche Erkrankungen oder Erkrankungsformen diesen zuzuordnen sind, bleibt unklar, stellt hierdurch die Ermittlungspersonen vor große Schwierigkeiten und wird ein Türöffner für Fragen der Verteidigung in der Hauptverhandlung sein, sofern keine audiovisuelle Vernehmung durchgeführt wurde. Eingeschränkte geistige Fähigkeiten können auch als Defizite in der geistigen oder sittlichen Reife beschrieben werden. Diese werden in den Bereichen der klinischen Diagnostik erhoben, z.B. in Form eines Intelligenztests. Die sittliche Reife wird u.a. von der geistigen Reife beeinflusst und die kognitiven Fähigkeiten (z.B. abstrahierende Einsichtsfähigkeit) stellen Grundvoraussetzungen für eine sich entwickelnde Moralvorstellung dar.


Menschen, die unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten leiden, können im Allgemeinen ihr Leben nicht eigenständig gestalten, sind auf eine durchgehende Hilfestellung durch andere Personen angewiesen und nicht in der Lage, ein autonomes Leben selbstständig zu führen.


Eine schwerwiegende seelische Störung kann im Bereich der menschlichen Psyche verortet werden und umfasst die Emotionen und das Intellektuelle – sie kann angeboren sein. In der Rechtsprechung stehen die endogenen und die exogenen Psychosen sowie der missbräuchliche Konsum von Alkohol, Drogen und Medikamenten im Fokus. Im BGB wird vergleichbar die krankhafte Störung der Geistesfähigkeit angenommen bei Personen mit einem IQ unter 60 oder einer fehlenden Einsichtsfähigkeit in Verbindung damit, auch entsprechend dieser Einsicht zu handeln. Es müssen Anhaltspunkte für die Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung vorhanden sein, um der Ermittlungsperson Hinweise an die Hand zu geben. Letztlich muss der Vernehmende entscheiden, ob eine Störung oder eine Einschränkung beim Beschuldigten vorliegt und daher eine Videovernehmung durchzuführen ist. Das grundlegende Fehlen einer rechtsverbindlichen Definition führt in der Praxis zu Handlungsunsicherheit. Im Gerichtsverfahren besteht die Möglichkeit, durch psychiatrische Gutachten die geistigen Fähigkeiten beurteilen zu lassen. Diese Chance besteht in einer Einsatzsituation nicht. Eine klare Grenzziehung ist nicht möglich und wirft neben juristischen Fragen auch gerade im Bereich des taktischen Vorgehens weitere Fragen auf.


Zur Prüfung, ob ein Beschuldigter möglicherweise unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leidet, kann auf das Prüfungsschema für Vernehmungspersonen nach Floren (2019, Anlage G: Prüfungsschema: Eingeschränkte geistige Fähigkeiten oder schwerwiegende seelische Störung) verwiesen werden. Es ist in Form eines Flussdiagramms in Tabellenform erstellt und führt Herausstellungsmerkmale auf, die für den Ermittler leicht zu erkennen sind und hieraus Rückschlüsse auf einzelne psychische Störungen oder geistige Einschränkungen ermöglichen. Prüfungskriterien stellen neben dem vorliegenden Delikt die Tatbegehung, die Tatphasen, der Tatablauf, die Delinquenz, Wahrnehmung beim Beschuldigten und mögliche Abhängigkeitserkrankungen dar. Das Schema kann und soll keine Begutachtung ersetzen, vielmehr wird es den Ermittler in der Ad-hoc-Situation bei seiner Entscheidungsfindung für oder gegen die notwendige Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung unterstützen. Der Staatsanwaltschaft kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, da sie als ermittlungsführende Stelle das Verfahren leitet und ihr ein uneingeschränktes Weisungsrecht gegenüber den Ermittlungspersonen in Bezug auf die Sachverhaltserforschung gerichtete strafverfolgende Tätigkeit zugesprochen wird. Sie ist die ermittlungsführende Stelle und muss diese Leitungs- und Kontrollfunktion auch effektiv ausüben. Der Polizeibeamte ist gut beraten, wenn er Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft hält und hierdurch bereits im Vorfeld für das Ermittlungsverfahren und sich selbst Rechtssicherheit erhält.

3.3 Ausgestaltung der audiovisuellen Vernehmung

Grundsätzlich ist dem Einsatz der Videovernehmung in speziell dafür vorbereiteten Vernehmungsräumen Vorrang einzuräumen – die Räume weisen einen neutralen Charakter auf, um mögliche Ablenkungen zu minimieren. Die technische Ausstattung ist je nach Bundesland unterschiedlich. Allen gemein ist, dass eine Kamera den gesamten Raum aufzeichnet und hierdurch neben der Vernehmungsperson und dem Beschuldigten auch die Vernehmungssituation und weitere im Raum befindliche Personen (Verteidiger, weitere Vernehmungsbeamte, Übersetzer etc.) erfasst werden. Einzelne Kameras zeichnen den Befragenden und den Beschuldigten auf. Die Tonaufzeichnung erfolgt durch ein Raummikrofon, ggf. können auch einzelne Mikrofone zusätzlich für die Beteiligten verwendet werden. Die Daten werden direkt auf einem Laptop gespeichert, wobei es eine Bild- und Tonspur gibt, die mit zeitlichen Aufzeichnungskomponenten verknüpft sind. Die Vernehmungsperson oder ein weiterer Ermittler können die Aufnahme in Echtzeit steuern und während der Vernehmung Markierungen setzen. Solche Markierungen ermöglichen einen schnelleren Zugriff auf einzelne Aspekte der Vernehmung, die möglicherweise bei einem Vorhalt in der laufenden Vernehmung direkt dem Beschuldigten gezeigt werden können. Weiterführende technische Lösungen bestehen in der Möglichkeit, dass sich andere Ermittlungspersonen die Vernehmung aus einem weiteren Raum in Echtzeit mit ansehen und auf den Bildschirm des Vernehmers Mitteilungen übersenden können. Die gespeicherten Daten werden im Anschluss an die Vernehmung gesichert und asserviert. Je nach technischer Ausstattung der Behörden werden die Daten auf einem Zentralserver der Ermittlungsbehörden oder auf tragbaren Datenspeichern gesichert. Die gesicherte Videovernehmung ist Teil der Ermittlungsakte und muss somit asserviert und vor Manipulation geschützt aufbewahrt werden. § 58a Abs. 2 StPO regelt die Übermittlung und Aushändigung von Kopien der audiovisuellen Vernehmung an berechtigte Personen (Verteidiger) analog zur Einsichtnahme in die Ermittlungsakte.

3.4 Verschriftlichung der Videovernehmung

Als Teil der Akte unterliegt die audiovisuelle Vernehmung den Grundsätzen der Aktenführung, die Aktenwahrheit, Aktenklarheit und Aktenvollständigkeit fordern. Somit ist eine Vollverschriftlichung der Vernehmung anzustreben. Diese Form der Dokumentation ist aufgrund der BGH-Entscheidung wegen der Anlehnung der Protokollierung der Beschuldigtenvernehmung der Polizei an die richterliche Vernehmung anzunehmen. Zeitlich umfangreiche Videovernehmungen vollständig zu protokollieren führt jedoch bei den Ermittlungsbehörden schnell zu einer Überlastung und ist nicht zielführend. Eine Absprache mit dem ermittlungsführenden Staatsanwalt über Umfang und Ausführung der Verschriftlichung ist geboten. So besteht die Möglichkeit, die Vernehmung in Gänze zusammengefasst darzustellen und (nur) die entscheidenden Bereiche wörtlich protokollieren zu lassen. Die audiovisuelle Vernehmung ist nur zum Zwecke der Strafverfolgung zulässig und muss unverzüglich gelöscht werden, sobald dieser Zweck nicht mehr gegeben ist. Die Rechte der Akteneinsichtnahme für den Verteidiger beziehen sich neben der protokollierten Beschuldigtenvernehmung auch auf dessen Vernehmung in Bild- und Ton.

3.5 Eindrucksvermerke

Der Eindrucksvermerk ist im Nachgang zu einer Vernehmung bzw. Anhörung von Kindern dazu geeignet, Besonderheiten darzustellen. Hierbei ist es wichtig, dass nur objektiv Feststellbares niedergelegt wird und keine Wertung erfolgt. Für die audiovisuelle Vernehmung sollten im Eindrucksvermerk u.a. Hinweise niedergelegt werden, die die Notwendigkeit der Durchführung einer Videovernehmung aufgrund des Vorliegens von Einschränkungen oder Störungen beim Beschuldigten dokumentieren. Dies kann bei einer späteren Feststellung einer Störung oder Einschränkung, die zum Vernehmungszeitpunkt nicht ersichtlich war, auch entlastende Elemente für die Frage an den Ermittler liefern, warum dieser eine Videovernehmung zum damaligen Zeitpunkt nicht durchgeführt hat.

3.6 Taktische Problemlagen und Lösungsansätze

Die Situation, vor einer Videokamera zu sitzen, stellt sich für die meisten Menschen als eine besondere Belastung heraus. Wenn hierzu noch der rechtliche Beschuldigtenstatus kommt, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer ablehnenden Haltung durch den Beschuldigten kommen. Diese Situation muss der Ermittler bereits im Vorfeld durchdacht und Lösungen erarbeitet haben.


Neben den grundsätzlichen Ansätzen zur Erbringung, Steigerung und Erhaltung der Aussagebereitschaft des Beschuldigten muss bei der audiovisuellen Vernehmung die Hürde der Wahrnehmbarkeit der technischen Aufzeichnungsgeräte überwunden werden. In der Praxis hat sich gezeigt, dass nach einer gewissen Zeit eine Normalität entsteht und die Videotechnik nicht mehr (als störend) wahrgenommen wird. Die Verkleinerung der technischen Ausstattung und die fortschreitende Nutzung der Digitalisierung führen zudem zu einer deutlichen Senkung der Hemmschwelle, da Videokonferenzen und Chats den normalen Alltag prägen.


Die Darstellung der positiven Effekte der audiovisuellen Vernehmung, z.B. die Objektivierung der Aussage und deren Entstehen, stellen neben einem offenen und transparenten Umgang mit dem Beschuldigten eine deutliche Türöffnerfunktion für die Videovernehmung dar. Bleibt der Beschuldigte jedoch bei einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Einsatz der Videotechnik, muss die Vernehmung in der klassischen Form erfolgen. Der Personenkreis der intelligenzgeminderten oder geistig eingeschränkten Beschuldigten wird in der Praxis ggf. eine Vertrauensperson bei seiner Vernehmung zur Teilnahme einfordern bzw. diese Teilnahme ermöglicht erst eine Aussagebereitschaft. Dann sollte auch diese Variante als Möglichkeit genutzt werden, um die Videovernehmung zu realisieren.

3.7 Anhang: Videovernehmung (besser: -anhörung) von Kindern

Die Anhörung von Kindern bedarf neben den grundsätzlichen Kenntnissen zur Vernehmung die Beachtung der rechtlichen, taktischen und organisatorischen Grundlagen. Eine Videovernehmung, die durch geschulte Ermittler erfolgt, kann sowohl für eine spätere Begutachtung (Glaubhaftigkeit/Aussagefähigkeit) als auch für ein Gerichtsverfahren verwendet werden und hierdurch der Gefahr einer weiteren Traumatisierung entgegenwirken. Zentral ist die professionelle Form der Durchführung, da Fehler in der Erstvernehmung gerade bei Kindern regelmäßig nicht mehr zu korrigieren sind. Eine besondere Bedeutung kommt der zeugenschaftlichen Anhörung eines Kindes in Form einer Videovernehmung ohne die Zustimmung der Erziehungsberechtigten zu, diese wird trotz der vorhandenen Zeugenpflichten aufgrund der besonderen Schutzwürdigkeit eines Kindes kritisch gesehen. Abzuraten ist sie, wenn das Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchsdeliktes geworden ist und hierbei ebenfalls (sichtbar) Videotechnik zum Einsatz gekommen ist und die Erziehungsberechtigten über das Vernehmungssetting keine Kenntnis erlangt haben.


Quellenhinweise:


Artkämper, H./Floren, T. /Schilling, K. (2021): Vernehmungen, 6. Auflage, Hilden, VDP Verlag.


Floren, T. (2019): Schutzwürdige Interessen von Beschuldigten im Rahmen der audiovisuellen Vernehmung, Frankfurt a.M., Verlag für Polizei und Wissenschaft.

 

Anmerkungen


* Dr. Heiko Artkämper ist Staatsanwalt als Gruppenleiter bei der Staatsanwaltschaft Dortmund und daneben u.a. Präsident der DGfK. Thorsten Floren ist Dozent für die Studienfächer Kriminalistik und Kriminaltechnik an der HSPV Nordrhein-Westfalen, Abteilung Duisburg und u.a. Schatzmeister der DGfK. Beide Autoren sind durch zahlreiche Fachpublikationen bekannt.